C. Leggewie u.a.: Der Kampf um die europäische Erinnerung

Cover
Titel
Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt


Autor(en)
Leggewie, Claus; Lang, Anne
Reihe
Beck’sche Reihe 1835
Erschienen
München 2011: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
224 S., 7 Abb.
Preis
€ 14,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katrin Hammerstein, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

„Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt“ und „Europa braucht eine Seele“ – so lauten zwei vielzitierte Sätze des ehemaligen Präsidenten der Europäischen Kommission, Jacques Delors. Die Frage, was Europa neben Verträgen, Binnenmarkt, gemeinsamer Währung und Freizügigkeit seiner Bevölkerung sonst noch zusammenhält, ist auch der Ausgangspunkt des hier zu besprechenden Buchs und besitzt angesichts der jüngsten Entwicklungen in der EU eine umso aktuellere Brisanz. Eingangs formulieren Claus Leggewie und Anne Lang „die Auffassung, dass ein supranationales Europa nur dann eine tragfähige politische Identität erlangen kann, wenn die öffentliche Erörterung und wechselseitige Anerkennung strittiger Erinnerungen ebenso hoch bewertet wird wie Vertragswerke, Binnenmarkt und offene Grenzen: Wenn das vereinte Europa also eine geteilte Erinnerung hat, die vergangene Konflikte, an denen die Geschichte Europas überreich ist, in aller Deutlichkeit benennt, sie aber auch in zivilen Formen bearbeitet und genau darüber eine Gemeinsamkeit wachsen lässt, die die Europäische Union nach innen und außen handlungsfähig macht“ (S. 7). Entsprechend geht es im Folgenden vor allem um Erinnerungskonflikte.

Anknüpfend an frühere Überlegungen Leggewies1 werden zunächst sieben konzentrische Kreise als „Anker- und Fluchtpunkte einer supra- und transnationalen Erinnerung in Europa“ (S. 15) entwickelt, in deren Zentrum der Holocaust als den „Kern des europäischen Geschichtsbewusstseins“ bildende Erinnerung steht (S. 12). Hierum gruppieren sich GULag, Genozide, Vertreibungen und ethnische Säuberungen, Kriege und Krisen, europäische Kolonialverbrechen, Migrationsgeschichte und schließlich die (gesamt)europäische Integration. Nachdem die Autoren die genannten Erinnerungskreise skizziert haben, schildern sie im zweiten Teil des Buchs sechs ausgewählte Erinnerungsorte ausführlich. Diese liegen überwiegend an der „europäischen Peripherie“ (S. 49), womit die Autoren den von Dan Diner bereits um die (post)koloniale Perspektive erweiterten Blick auf die west- und osteuropäischen Gedächtnislandschaften2 um weitere „Randgebiete“ wie das Baltikum, Ex-Jugoslawien, die Türkei und die Ukraine ergänzen.

Die detailliert beschriebenen und kontextualisierten Fallbeispiele umfassen „nicht allein physisch-materielle Orte“, sondern „auch symbolische und virtuelle“ (S. 52f.), so dass sich eine abwechslungsreiche Mischung ganz verschiedener Untersuchungsgegenstände ergibt: vom Denkmal des „Bronzenen Soldaten“ in Tallinn über eine Wanderausstellung zum Holodomor, das Königliche Museum für Zentralafrika in Belgien und einen Artikel des türkischen Strafgesetzbuchs bis hin zu einem YouTube-Video Radovan Karadžićs und der dem millionsten bundesdeutschen Gastarbeiter 1964 als Präsent übergebenen „Zündapp“. Analysiert werden diese Beispiele jeweils nach dem gleichen Schema – Beschreibung des Erinnerungsorts, Erläuterung des Streitfalls und seiner Konfliktlinie(n), Darstellung der Binnen-, Außen- und Diaspora-Perspektive sowie Frage nach der „Europäizität“ des Erinnerungskonflikts: „Wie supranational waren seine Auslöser? Welchen Einfluss hatte er auf die Dynamik der europäischen Integration? Und wie behindert oder befördert seine Austragung die Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union heute?“ (S. 54) Im Vergleich zu den anderen Aspekten fällt die europäische Dimension bisweilen allerdings recht knapp aus, was angesichts des Buchtitels etwas verwundert.

Das YouTube-Video, das den ersten Auftritt Radovan Karadžićs vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag zeigt, wird als „virtueller Erinnerungsort“ und „exemplarischer Fall für so genannte ethnische Säuberungen in der europäischen Geschichte“ (S. 82) beispielsweise eingehend besprochen. Der Bezug zur „europäischen Erinnerung“ wird aber vor allem auf der letzten Seite des Kapitels hergestellt, wo sich die These findet: „Nicht zuletzt weil die EU den ‚peripheren‘ Jugoslawienkrieg immer noch nicht angemessen erinnert, steht auch Kerneuropa dem Wiederaufleben religiöser Spaltungen und ethnonationalistischer Konflikte zunehmend hilflos gegenüber.“ (S. 102)

Deutlich wird: Bei den von Leggewie und Lang angeführten „europäischen Erinnerungsorte[n] der Peripherie“ (S. 55) handelt es sich um potenzielle Erinnerungsorte, die von ihnen als solche vorgeschlagen respektive postuliert werden. Denn, so heißt es zum Beispiel im Fall des „schwache[n] Kolonialgedächtnis[ses] Europas“ (S. 144), „[e]s kann keine europäische Außenpolitik geben, die den systematischen Bezug zur Geschichte der von Europa kolonisierten Gebiete und ihrem postkolonialen Schicksal vermissen lässt, und auch kein europäisches Memorialregime, das die Opfer der Kolonisierung weiter ignoriert oder unterbewertet“ (S. 160). Mit solch normativen Aussagen, die sich in dem Buch vielfach finden, erweist sich dieses eher als politisches Statement denn als geschichts- oder politikwissenschaftliche Analyse.

Als „symbolisches Bollwerk gegen eine offene Diskussion des Armenier-Genozids innerhalb wie außerhalb der Türkei“ (S. 122) identifizieren die Autoren Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuchs, der die öffentliche Herabsetzung der türkischen Nation oder der Türkischen Republik als Staat ahndet. Die Anwendung auf den Völkermord an den Armeniern lässt den Paragraphen in den Augen der Autoren zu einem (möglichen) europäischen Erinnerungsort werden, sei der Genozid doch „ein hochgradig umstrittenes und traumatisches Ereignis der europäischen Geschichte, in das viele Nationen verstrickt waren“ (S. 106). Auch stelle seine Bewertung „einen aktuellen Zankapfel innerhalb der europäischen Einwanderungsgesellschaften und zwischen europäischen Staaten“ dar (ebd.). Zudem sei der Artikel „ein elementares nicht-ökonomisches Hindernis für den EU-Beitritt der Türkei“ (ebd.).

Damit tritt ein weiterer von den Autoren konstatierter Aspekt zu Tage: „Kandidaten an der Peripherie erfahren […] ein informelles, nämlich geschichtspolitisches Beitrittskriterium: Nur wenn sie die Opfer von Genoziden und Massenmorden in jeder Hinsicht anerkennen […], können sie Teil einer europäischen Gemeinschaft werden.“ (S. 11f.) Aufschlussreiche Wechselwirkungen zwischen EU-Beitritt und Geschichtspolitik werden auch im Fall der Ukraine herausgearbeitet, wo sich Präsident Wiktor Juschtschenko bemühte, die Interpretation der staatlich initiierten Hungerkatastrophe von 1932/33 als Genozid durchzusetzen – „nicht zuletzt um damit eine Eintrittskarte in die Europäische Union lösen zu können“ (S. 31f.). Sein Nachfolger Wiktor Janukowitsch zielt hingegen auf eine Annäherung an Russland und daher auf „die Löschung dieser geschichtspolitischen Initiative“ (S. 143).

Dass Leggewie und Lang die Aufmerksamkeit auf die europäische Peripherie lenken, ist sehr zu begrüßen und ein wichtiger Anstoß, diese Vergangenheiten mehr und vor allem auch als europäische Geschichte wahrzunehmen. Dabei sollte allerdings nicht aus dem Blick geraten, dass der „Kampf um die europäische Erinnerung“ nicht nur an der Peripherie geführt wird. Verwiesen sei hier auf Initiativen europäischer Institutionen wie etwa die vom Europäischen Parlament 2009 angenommene Entschließung „zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus“, die fordert, den 23. August (das Datum des Hitler-Stalin-Pakts von 1939) zum „europaweiten Gedenktag an die Opfer aller totalitären und autoritären Regime“ zu erklären. Über diese Initiativen werden zum Teil heftige (Parlaments-)Debatten geführt; Leggewie und Lang erwähnen solche europäischen „Interventionsversuche“ indes nur am Rande, was mit ihrem – durchaus berechtigten – Vorbehalt zusammenhängen mag, dass „Erinnerung […] sich nicht mnemotechnisch regulieren und sicher nicht durch offizielle Staatsakte und routinierte Gedenkrituale […] verordnen“ lasse (S. 24). Auch bei der Einrichtung der „womöglich bahnbrechenden Institution“ (S. 183) eines „Hauses der europäischen Geschichte“ in Brüssel, mit dem sich die Autoren in ihrem Ausblick befassen („Wie Europa politische Identität gewinnen kann“), kritisieren sie das „top-down“-Vorgehen. Dieses werde kaum die Herausbildung eines europäischen Wir-Gefühls befördern, das „maßgeblich von der Entstehung einer gemeinsamen Öffentlichkeit und der Einbindung der Zivilgesellschaft“ abhänge und „allein durch die öffentliche Bearbeitung konkurrierender nationaler europäischer Geschichtsnarrative entstehen“ könne (S. 185).

Damit sind Leggewie und Lang wieder bei ihrem Ausgangspunkt angekommen: den Erinnerungskonflikten, die, „sofern sie friedlich ausgetragen und institutionell bearbeitet werden, eine vitale [europäische] Erinnerungsgemeinschaft herstellen und festigen können“ (S. 47f.). Auch wenn zum Beispiel im Zusammenhang der Denkmal-Kontroverse um die sowjetische Soldatenstatue „Aljoscha“ und der konfligierenden Erinnerungen zwischen Balten und Russen einerseits, Ost- und Westeuropa andererseits instruktive Vorschläge gemacht werden, wie „ein gesamteuropäischer Ansatz aussehen [könnte], der den virulenten Erinnerungskonflikt in Estland und den beiden anderen baltischen Staaten konstruktiv aufgreift und zivilisiert“ (S. 72), bleibt in den meisten Fällen doch weitgehend offen, wie die geforderte öffentliche Konfliktbearbeitung – die an Aleida Assmanns Konzept des „dialogischen Erinnerns“ denken lässt3 – konkret erfolgen soll. Ebenso offen erscheint, wie aus den potenziellen tatsächliche europäische Erinnerungsorte werden könnten. So liefert das Buch, das dem 2010 verstorbenen britischen Historiker Tony Judt gewidmet ist, vor allem Anregungen für eine mögliche Integration der europäischen Vergangenheiten, über die weiterhin nachzudenken und wohl auch zu streiten sein wird.

Anmerkungen:
1 Claus Leggewie, Schlachtfeld Europa. Transnationale Erinnerung und europäische Identität, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 54 (2009) H. 2, S. 81-93.
2 Dan Diner, Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust, Göttingen 2007.
3 Aleida Assmann, Die Last der Vergangenheit, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 4 (2007), S. 375-385, auch online unter <http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Assmann-3-2007> (25.07.2011); dies., Auf dem Weg zu einer europäischen Erinnerungskultur, Wien 2011 (im Erscheinen).