E. Avrutin: Jews and the Imperial State

Titel
Jews and the Imperial State. Identification Politics in Tsarist Russia


Autor(en)
Avrutin, Eugene M.
Erschienen
Anzahl Seiten
232 p.
Preis
€ 33,32
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Olaf Terpitz, Leipzig

Die Frage nach Identität bildete im Zuge der cultural turns insbesondere seit den 1990er-Jahren eine der zentralen Perspektiven der osteuropäisch-jüdischen Studien.1 Vornehmlich aus der Sicht des Individuums bzw. einer Gruppe sollte dieses recht schwer fassbare Phänomen dabei erforscht werden. In seiner vorliegenden Monographie nun widmet sich Eugene Avrutin, Assistant Professor an der University of Illinois, dieser Problematik und fragt nach der “politics of identification“ des Staates im Russländischen Reich. Damit erweitert er die in der Forschung bislang vorherrschende Frage nach personaler oder kollektiver Zugehörigkeit.

Ausgangspunkt seiner Studie ist: „[to] explore one of the fundamental arenas of imperial statecraft – the techniques by which the Russian government ruled its population.“ (S. 3) In Folge der intensiven Expansion des Russländischen Reiches hatte sich das Interesse der Politik und Gesetzgebung, so Avrutin, von der verwaltungsmäßigen Integration der Territorien hin zum Management der imperialen Bevölkerungsgruppen verlagert. Avrutin verfolgt die wechselhafte Entwicklung am Fallbeispiel der Juden, die durch die drei Teilungen des polnisch-litauischen Staates Ende des 18. Jahrhunderts Untertanen Russlands geworden waren. Seine Studie führt er über das 19. Jahrhundert bis ausblicksartig zu der Politik der Sowjetunion in den 1930er-Jahren fort. Die Restrukturierung und Modernisierung des russländischen Staatswesens war dabei geknüpft an und formte zugleich ein neues Verständnis vom „body social“. Folglich vom Körper der Gesellschaft wie auch des Individuums, den es zu verwalten, zu regeln galt. Viele Minderheiten, die nicht oder kaum am staatlichen Verwaltungsapparat beteiligt waren, wie neben den Juden zum Beispiel auch die Deutschen, fanden Wege, den Maßnahmen der zarischen Bürokratie zur Erfassung und Identifikation der Bevölkerung zu begegnen. Sie nutzten in einer Vielzahl von Fällen die ihnen vom Gesetz gewährten Beschwerdemöglichkeiten wie Petitionen oder aber andere lebensweltliche Strategien wie Konversion oder Bestechung. All diese vielseitigen Formen der Interaktion erkennt Avrutin als möglichen Raum von Aushandlungsprozessen und wendet sich damit gegen die tradierte Vorstellung, die allein von einer restriktiven Gesetzgebung für Juden ausgeht.

In fünf Kapiteln analysiert Avrutin die Techniken, Debatten und Strategien des zarischen Bevölkerungsmanagements und kontrastiert diese mit ihrer Aufnahme und Erwiderung seitens der jüdischen Minderheit. Aus einem reichhaltigen Archivfundus zitiert Avrutin eine Reihe von Fallbeispielen und illustriert damit sein Hauptargument der Aushandlungsprozesse an der Haltung sowohl der Gemeinden als auch von Individuen.

Das Interesse des zarischen Staates, ein „imperiales Wissen“, das heißt ein möglichst detailliertes Wissen über seine Bevölkerungsgruppen und deren demografische Entwicklung zu erstellen, gründete in verschiedenen Motivationen, verfolgte unterschiedliche Absichten und zeitigte widersprüchliche Konsequenzen. Jeweils unterschiedlich gewichtet und politisiert hatten diese drei Momente prägenden Einfluss auf das Vorgehen der Regierungen von Alexander I. bis zu Nikolaj II. Dieses Wissen, das im Grunde Herrschaftswissen war, ermöglichte und manifestierte die Kontrolle durch den Staat: für die Steuererhebung oder die Aushebung zum Militärdienst waren möglichst genaue Zahlen vonnöten. Andererseits konnte durch die Erfasstheit und Registrierung von Individuen die Mobilität innerhalb des Reiches und beim Verlassen des Reiches, das heißt Formen der Emigration, exakter gelenkt und zugleich beschränkt werden. Um dies zu erreichen, führte die staatliche Bürokratie Maßnahmen durch: So beispielsweise Volkszählungen, die zunächst regional bzw. lokal begrenzt waren und erstmals 1897 als gesamtrussischer Zensus erfolgten. Oder die für Gemeinden verpflichtende Führung von metrischen Büchern, die die Daten von Geburt, Tod, zivilem Status (Heirat) aufzeichnen sollten. Sowie schließlich die Ausweitung des Passwesens mitsamt der Einführung und Etablierung eines Inlandspasses.

Im Zentrum des staatlichen Interesses an der Veränderung der Situation der jüdischen Bevölkerung stand deren Sichtbarkeit im öffentlichen Raum. Diese sollte zunächst im Sinne von Annäherung bzw. Integration reduziert werden, zum Beispiel durch Einführung einer Kleiderverordnung. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts – einer Zeit zunehmender Nationalisierungstendenzen – kehrte sich diese Politik wieder um und erneut wurde eine stärkere Sichtbarkeit bestärkt bzw. gar gefordert. Das neue Erfassungssystem – ab 1835 waren die vom Staat bestimmten Rabbiner (kazennyj ravvin) rechtlich verpflichtet, die metrischen Bücher zu führen – führte zu erheblichen Veränderungen und Verwerfungen in der Gemeindestruktur. Bis zu ihrer Auflösung 1844 waren die Kollektivorgane der Kahale für die Abführung von Steuern und die Gemeinden zur Bestimmung der Militärdienstpflichtigen zuständig gewesen. Die zumindest theoretisch von nun an individuelle und nicht mehr kollektive Erfassung der Juden bedeutete damit zwar die Anerkennung einer „distinct civic identit[y]“ (S. 33), hatte andererseits aber auch erhebliche lebensweltliche Veränderungen und Herausforderungen zur Folge: Für die Zulassung zu höheren Bildungseinrichtungen, den Zuzug in die Metropolen und urbanen Zentren des Reiches wie St. Petersburg, Moskau oder Kiev war eine Registrierung erforderlich. Der von einer Konversion zum russisch-orthodoxen, später auch teilweise katholischen oder lutheranischen Glauben erhofften Gleichstellung begegneten Staat und (orthodoxe) Kirche insbesondere gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend misstrauisch, was sich in der Gesetzgebung zur Namensgebung bzw. zum Namenswechsel niederschlug. Hatten aufgeklärte Juden die Integration in die russländische Gesellschaft zwar gesucht, so blieben sie doch sichtbar durch ihren spezifischen jüdischen Namen, den abzulegen ihnen nur in Ausnahmen gestattet war.

Die Dokumentierung der individuellen „Identität“ von Juden war an alltagspraktische Schwierigkeiten geknüpft. So stellte die Schreibung von Namen eine permanente Fehlerquelle dar, weswegen – letztlich scheiternde – Anstrengungen unternommen wurden, ein Verzeichnis sämtlicher jüdischer Namen zu kompilieren. Falsche bzw. fehlende Angaben gingen aber auch auf divergierende Auffassungen zwischen staatlichem Gesetz und jüdischer Lebenswelt zurück – beispielsweise spielte für Juden das Geburtsdatum kaum eine, dafür das Sterbedatum eine entscheidende Rolle. Für die Betroffenen bedeuteten diese unvollständigen oder fehlerhaften Angaben ein häufig langwieriges Ringen um ihre vom Staat bescheinigte „Identität“, die sie für den Zuzug in Städte, den Eintritt in höhere Bildungseinrichtungen und Arbeitssuche dringend benötigten.

Avrutin verwendet in seiner Studie mit großer Detailkenntnis einen innovativen Forschungsansatz, der bereits für das europäische Mittelalter und die Frühe Neuzeit fruchtbar gemacht wurde.2 Durch das Prisma von Bevölkerungsmanagement betrachtet, erscheint dabei das Verhältnis zwischen zarischem Staat und jüdischer Bevölkerung nicht nur in einem neuen Licht, sondern wirft auch kritische Fragen zu bisherigen Konzepten von Integration und Emanzipation auf. Das sich der „papiernen Zugehörigkeit“ widmende Forschungsfeld bietet zudem einen differenzierten Zugriff auf „Identität“, indem es von Formen der (materiell sichtbaren) Identifikation bzw. Identifizierung ausgeht. Es werden dergestalt Aushandlungsprozesse zwischen verwaltendem Staat und verwalteter Bevölkerung markiert, die einerseits rechtliche, kulturelle und soziale Aspekte von „Identität“ erfassen und problematisieren, wodurch andererseits jeweilige Absichten und Maßnahmen, Begegnungsstrategien und lebensweltliche Dispositionen deutlich herausgearbeitet werden können. In der Fragestellung verknüpft finden sich somit drei Perspektiven: die staatliche, die jüdische und die Interaktionen zwischen beiden Akteursgruppen.

Avrutins überzeugend argumentierte, aufschlussreiche Darstellung offeriert einen faszinierenden Blick auf ein komplexes Beziehungsgefüge, eine Kondition der Moderne gewissermaßen, an dem unterschiedliche semantische Systeme beteiligt sind. Wünschenswert wäre an Stellen eine höhere analytische Trennschärfe zwischen den Analyseebenen gewesen, so bleibt etwa unklar, warum seine Betrachtungen zur Kleider(ver)ordnung im Kapitel „Making Jews Legible“ und nicht in „Invisible Jews“ verankert sind. Ebenso hätte die Studie von einer stärkeren Akzentuierung der anthropologischen Bedeutung von Identifikation und Registrierung, neben ihrer sozialen und historischen Deskription, profitiert. Diese Wendung hätte den Blick auf die Situation anderer Bevölkerungsgruppen im Russländischen Reich sensibilisieren können – etwa die Bedeutung von Identifikation und deren Subversion im Fall der russischen Bauern, die Nikolai Gogol prominent in seinem 1842 veröffentlichten Roman „Die toten Seelen“ karikiert.

Ungeachtet dieser Desiderate ist Avrutins Buch sowohl ein wichtiger Beitrag zu der imperialen Geschichte des Russländischen Reiches und dem Konzept von jüdischer Geschichte als Begegnungsgeschichte, als es auch Anregungen für andere Forschungsfelder wie die Geschichte des Körpers bereithält.

Anmerkungen:
1 U.a. Olga Litvak, Conscription and the search for modern Russian Jewry, Bloomington 2006; Harriet Murav, Identity Theft. The Jew in imperial Russia and the case of Avraam Uri Kovner, Stanford University Press 2003; Gabriella Safran, Rewriting the Jew. Assimilation narratives in the Russian empire, Stanford University Press 2000.
2 Vgl. beispielsweise die Arbeiten von Valentin Groebner und das an der Universität Wien angesiedelte Forschungsprojekt „Verdaten. Klassifizieren. Archivieren. Identifizierungstechniken zwischen Praxis und Vision“.

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