M. Beer: Flucht und Vertreibung der Deutschen

Titel
Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen


Autor(en)
Beer, Mathias
Reihe
Beck’sche Reihe 1933
Erschienen
München 2011: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
205 S., 17 Abb., 7 Tabellen, 6 Karten
Preis
€ 12,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Scholz, Institut für Geschichte, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Angesichts der Vielzahl an wissenschaftlichen und populären Publikationen, der geschichtspolitischen Relevanz sowie des anhaltenden gesellschaftlichen Interesses an der Flucht und Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs und danach überrascht es, dass noch kaum qualifizierte Überblicksdarstellungen zu diesem wichtigen Thema vorliegen. Dabei haben die zahlreichen Debatten der letzten Jahre in Politik und Feuilleton immer wieder erkennen lassen, dass nicht nur ein großes Orientierungsbedürfnis besteht, sondern auch ein tatsächlicher Bedarf an einführender Literatur, die verlässliche Auskünfte und ein solides Basiswissen liefern kann. Für die Beschäftigung mit dem Themenkomplex in Schule und Universität fehlte bislang ebenfalls ein geeigneter und handhabbarer Überblick.

Auch Mathias Beer konstatiert in einer kurzen Skizze zur Forschungsentwicklung die Notwendigkeit „einer modernen, dem aktuellen Stand […] entsprechenden Gesamtdarstellung“ (S. 31). Es ist daher sehr zu begrüßen, dass er es unternommen hat, einen knapp gehaltenen Überblick zu verfassen, der sich an ein breites Publikum richtet, das endlich einmal wissen möchte, wie es mit der Flucht und Vertreibung der Deutschen denn nun eigentlich gewesen ist. Der Verlag kündigt im Klappentext eine „souveräne Einführung mit den wichtigsten Fakten und Hintergründen auf dem neuesten Stand der Forschung“ an. Näher zu prüfen sind hier daher nicht neue Forschungsergebnisse oder -methoden, sondern die bilanzierende Darstellung der neueren Literatur, die notwendige Auswahl, Gewichtung und Gliederung thematischer Schwerpunkte sowie schließlich die Eignung als Einstieg in die Thematik. Entscheidend ist dabei einerseits, ob und inwieweit der Überblick zur Klärung grundlegender Fragen beiträgt, selbst klar und verständlich aufgebaut ist und verlässliche Daten prägnant darstellt. Andererseits sollte auch eine Einführung auf nach wie vor offene, ungeklärte oder strittige Fragen hinweisen und Kontroversen der Forschung skizzieren. Das alles auf gerade mal 160 Seiten reinem Text zu leisten ist bei einem komplexen Thema wie diesem kein leichtes Unterfangen.

Beer ist es gelungen, die wichtigsten Komponenten und Fragestellungen in eine übersichtliche, leicht nachvollziehbare Struktur zu bringen. Den Kern bilden die bereits im Untertitel genannten Hauptteile „Voraussetzungen“, „Verlauf“ und „Folgen“, woran sich noch ein Kapitel zur Erinnerungsgeschichte anschließt. Vorab ordnet der Autor die deutsche Flucht und Vertreibung in den historischen Kontext unterschiedlichster Wanderungsbewegungen nach dem Kriegsende 1945 ein. Nach den schon erwähnten Hinweisen zur Forschungsgeschichte mit ihren sich wandelnden politischen und gesellschaftlichen Hintergründen versucht Beer zu klären, was mit dem Begriffspaar „Flucht und Vertreibung“ eigentlich gemeint ist. Er macht deutlich, dass es sich dabei um eine den Gesamtzusammenhang unvermeidlich reduzierende Chiffre handelt. Dabei unterscheidet und erläutert er fünf Bedeutungsebenen, welche die Komplexität und den Umfang des Themas näher entfalten. Leider geht er nicht auf die Begriffsgeschichte, die emotionalen Konnotationen sowie die Motive für die Wahl bzw. Etablierung gerade dieser Begriffe in der Bundesrepublik ein.

Einige in der Forschung seit langem bekannte, in der Öffentlichkeit aber häufig doch noch nicht angekommene Erkenntnisse erläutert Beer deutlich und relativ ausführlich. Das betrifft zum Beispiel den immer noch geläufigen Mythos von der schnellen Integration der Vertriebenen, die immer wieder geäußerte, von Beer aber als eindeutig falsch qualifizierte These vom Tabu der Erinnerung oder die heute längst überholten, trotzdem immer wieder angeführten überhöhten Opferzahlen. Nicht problematisiert wird in diesem Zusammenhang allerdings die diskursive Ausweitung des Begriffs der „Vertreibungsopfer“ von den während der Vertreibung zu Tode Gekommenen auf alle von der Vertreibung Betroffenen, wie sie etwa in einer von Beer zitierten Bundestagsrede eines CDU/CSU-Abgeordneten aus dem Jahr 2002 stillschweigend vorgenommen wurde (S. 155). Im Kapitel zur Erinnerungsgeschichte beschränkt sich Beer übrigens ganz auf die Analyse einiger zeitlich weit auseinander liegender Bundestagsdebatten. Dies kommt der Periodisierung zugute, lässt die Gesellschaft aber lediglich als Adressat der Politik und nicht selbst als Akteur erscheinen.

Die zwei Hauptkapitel zu Verlauf und Folgen von Flucht und Vertreibung fußen auf einer breiten Literatur, insbesondere was die Integration der Vertriebenen im Nachkriegsdeutschland angeht. Den zeitlichen Verlauf der Ereignisse stellt Beer in seiner regionalen Heterogenität jeweils für das (ehemalige) Reichsgebiet und Polen, die Tschechoslowakei und Südosteuropa dar. Dass Südosteuropa dabei vom Umfang her einen Raum einnimmt, der ihm von der Zahl der Betroffenen her nicht unbedingt zukommt (750.000 von 12,5 Millionen Menschen), mag Beers eigenem Forschungsschwerpunkt geschuldet sein, verdeutlicht aber zugleich die Vielgestaltigkeit des Vertreibungsgeschehens – insbesondere auch den fließenden Übergang von NS-Umsiedlungen zu Evakuierungen und Vertreibungen.

Zum Verlauf hätte man sich etwas genauere Zahlen gewünscht, speziell zu den verschiedenen Phasen von Evakuierung, Flucht, „wilder Vertreibung“ und Aussiedlung. Beer weist mit Recht auf die Relevanz und die Schwierigkeit gesicherter quantitativer Angaben angesichts ihrer häufigen politischen Instrumentalisierung hin. Leider verirrt er sich mitunter auch selbst in dem Zahlenlabyrinth, das bis heute so typisch für das Thema und seine Darstellung ist. Der pauschalen Aussage etwa, dass diejenigen unter den Vertriebenen, „die nicht kriegsbedingt evakuiert worden oder geflohen waren“ – also diejenigen, die nachfolgend von den „wilden Vertreibungen“ und systematischen Aussiedlungen betroffen waren –, eine Mehrheit gebildet hätten (S. 15), widerspricht die später gemachte Angabe, dass von den insgesamt acht Millionen Vertriebenen aus den östlichen Reichsgebieten fünf Millionen evakuiert oder geflohen seien (S. 70). Wie Beer etwas später dann zu einer Gesamtzahl von nur 3,5 Millionen „Ausgewiesene[n] u. Flüchtlinge[n] aus den Ostgebieten und Polen“ kommt (S. 79), bleibt schleierhaft. In einer Einführung und angesichts der löblichen Reflexion über die Bedeutung von Zahlen und ihrer häufigen Instrumentalisierung wäre eine präzise, unmissverständliche und verlässliche Darstellung der quantitativen Verhältnisse gerade angesichts der höchst unterschiedlichen kursierenden Zahlen nötig gewesen.

Ein weiteres Manko ist, dass Hinweise auf Forschungskontroversen fehlen, in denen Beer selbst ja auch eine Position einnimmt. Hier wird die Gewichtung des Autors, insbesondere was die Voraussetzungen von Flucht und Vertreibung betrifft, etwas zu selbstverständlich als wissenschaftlicher Konsens präsentiert. So wird innerhalb des angeführten Faktorenbündels der NS-Besatzungs- und Umsiedlungspolitik zwar eine zentrale Stellung eingeräumt, allerdings vor allem als Paradigma für nachfolgende Bevölkerungsverschiebungen durch die Alliierten. Die Rolle des NS-Kriegsbeginns unter Instrumentalisierung der deutschen Minderheiten als Ausgangspunkt des Motivs der Alliierten, die Wiederholung einer vergleichbaren Situation zu vermeiden, wird dagegen offenbar nicht für wesentlich gehalten. Wichtiger erschien den Alliierten nach Beer die Etablierung des ethnisch homogenen Nationalstaats – eine Idee, die zu dieser Zeit bereits fest verankert gewesen sei. Dass gerade das Verhältnis solcher Faktoren in der gegenwärtigen Forschung strittig ist, hätte in einer allgemeinen Einführung zumindest erwähnt werden müssen.

Davon abgesehen stellt das Buch insbesondere zum Verlauf und den Folgen, aber auch zur Erinnerungsgeschichte der Flucht und Vertreibung einen fundierten und gut strukturierten Überblick dar, der eine Lücke schließt und zur einführenden Lektüre geeignet ist. Eine gute und aktuelle Auswahl weiterführender Literaturhinweise ermöglicht eine sich anschließende intensivere Beschäftigung mit dem Thema.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch