Cover
Titel
A Dubious Science. Political Economy and the Social Question in 19th-Century France


Autor(en)
Sage, Elizabeth M.
Reihe
Studies in Modern European History 65
Erschienen
Anzahl Seiten
170 S.
Preis
€ 50,94
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcel Streng, Zentrum für Europäische Studien (ZEUS), Universität Köln

Der im Folgenden besprochene Essay der am kalifornischen Whittier College lehrenden Historikerin Elizabeth M. Sage reiht sich in eine Serie heterodoxer wirtschaftsgeschichtlicher Forschungen ein, die derzeit eines der innovativsten Felder historischer Forschung konstituieren. Die epistemologischen Debatten, die die Rezeption des „cultural turn“ hierzulande etwa in der Historischen Sozialwissenschaft und jüngst auch in der Politikgeschichte angestoßen hat, scheinen nun eine der letzten Bastionen an „harten Fakten“ orientierter Geschichtsschreibung zu erfassen.1 Zweifellos ist dieses Feld in den letzten Jahren im Kielwasser des Paradigmas „Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte“2 breiter und vielfältiger geworden. Der Essay von Elizabeth M. Sage über die Selbstbeschreibungen, Abgrenzungsstrategien und Transformationen der politischen Ökonomie im Frankreich des 19. Jahrhunderts erinnert vor diesem Hintergrund daran, dass es sich bei den heutigen Debatten über das Ökonomische und seine Geschichte um eine Reaktualisierung historischer semantischer Konflikte handelt. Ohne die in vieler Hinsicht mächtige Beharrungskraft der (neo-)klassischen Wirtschaftsgeschichte sind diese „dissidenten“ Wirtschaftsgeschichten nicht zu denken.

Damit ist das zentrale Thema des Buchs angesprochen: die Auseinandersetzung der nach Wissenschaftlichkeit strebenden Vertreter polit-ökonomischen Denkens mit der „Sozialen Frage“ in Frankreich. Orientiert hat sich Elizabeth M. Sage bei ihrer Analyse konsequent an den Arbeiten Michel Foucaults.3 Die genealogische Analyse zeichnet in großen Zügen die Strategien und Auseinandersetzungen nach, mit denen das ökonomische Wissen seine Wissenschaftlichkeit gegen alle möglichen Verunreinigungen zugleich zu immunisieren, zu disziplinieren und zu bewahren trachtete. Der klare, mitunter redundante Argumentationsgang lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Zunächst hätten die Protagonisten in den ersten 30 Jahren des 19. Jahrhunderts im Anschluss an Jean-Baptiste Says Auslegung des Werks von Adam Smith ein an den Naturwissenschaften orientiertes Selbstverständnis aufgebaut, das sich im Einklang mit der zeitgenössischen mechanistischen Epistemologie befand. Ökonomische Gesetzmäßigkeiten galten als umso wissenschaftlicher, desto klarer, abstrakter und reiner sie formuliert waren (S. 9 34). Seit den 1840er-Jahren habe sich das solchermaßen zwar disziplinierte, aber noch schwach institutionalisierte ökonomische Wissen um den Preis des Prestigeverlusts dem nicht von der Hand zu weisenden Umstand stellen müssen, dass die beobachtete ökonomische Wirklichkeit der postrevolutionären Gesellschaft in den Zentren der Frühindustrialisierung diesen Gesetzmäßigkeiten nicht nur nicht entsprach, sondern auch fundamental widersprach. Die Politische Ökonomie, so Elizabeth M. Sage, habe auf die „Anomalie“ der Sozialen Frage auf zweifache Weise reagiert: zum einen seien paternalistische Problemlösungsstrategien (z.B. „cités ouvrières“) diskutiert und befürwortet worden, die von Industriellen, wie etwa Schneider, in Le Creusot in der Praxis ausgearbeitet und implementiert wurden (S. 35 60); zum anderen habe die Soziale Frage als von den Ökonomen nicht erwarteter Effekt des Fortschritts die Diskussionen über die Identität der Politischen Ökonomie als harter Wissenschaft neu belebt. Zur Lösung hätten sich die Ökonomen des Kunstgriffes bedient, alle Störungen des nach Abstraktion strebenden ökonomischen Wissens auszulagern und auf diese Weise die Sozialökonomie erfunden (S. 79ff.). Der letzte Abschnitt des Buches diskutiert vor diesem Hintergrund die Entstehung, Proliferation und Ausdifferenzierung der stärker empirisch orientierten Sozialökonomie ab den 1880er-Jahren als diskursiven Effekt des nach Meinung der Autorin gescheiterten Hegemoniestrebens der orthodoxen Ökonomik über das ökonomische Denken. Allerdings habe im Rahmen dieses wuchernden sozial-ökonomischen Diskurses auch die reine Lehre zunehmend ihre Konturen verloren, da führende Vertreter der seit 1873 an den Rechtsfakultäten etablierten klassischen Ökonomik regulierende Eingriffe des Staates durchaus befürworten konnten (etwa in der Frage der Schutzzölle) (S. 92ff.).

Dem Quellenverzeichnis (S. 151-153) zufolge hat sich Elizabeth M. Sage neben dem publizierten politökonomischen Schrifttum auf diverse Materialien aus acht verschiedenen französischen Archiven gestützt, die im Text jedoch fast nur in den Abschnitten über paternalistische Praktiken greifbar werden (S. 35 60). Eine stärkere Entfaltung des im diskursanalytischen Sinn dezidiert aus positiven Aussagen (über die Identität der politischen Ökonomie als Wissenschaft) bestehenden Materials hätte den behaupteten Differenzierungs- und Innovationsprozess noch besser nachvollziehbar gemacht. Vermutlich wäre auf dieser feinen empirischen Ebene aber auch wesentlich stärker ins Gewicht gefallen, dass an der Grenzziehung zwischen dem Ökonomischen und dem Sozialen der Ökonomie, bzw. der doppelten Erfindung der Ökonomie als Wissenschaft und der Sozialökonomie als Praxiswissen im Frankreich des 19. Jahrhunderts nicht nur Wirtschaftswissenschaftler und Industrielle, sondern eine ganze Reihe anderer Experten wie Ingenieure und Sozialtheoretiker mitgewirkt haben. Freilich hätte dies aber auch den Rahmen eines Essays gesprengt.

Auch wenn so gegenüber den sozial- und kulturhistorischen Standardwerken zur französischen Wirtschaftswissenschaft im 19. Jahrhundert4 das Potential der Diskursgeschichte eher unausgeschöpft bleibt, kann die im Essay vertretene These durchaus eine gewisse Originalität für sich beanspruchen. Sage interessiert sich nicht für die auf die sozialen Konsequenzen des industriellen Fortschritts gerichteten Regierungstechniken, die im sozialökonomischen Diskurs programmiert wurden – ein ebenfalls im Anschluss an Michel Foucault überaus sinnvoll zu bearbeitender Aspekt, wie bspw. Giovanna Procacci schon vor einiger Zeit gezeigt hat.5 Zugleich unterstreicht Sage den produktiven Beitrag des orthodoxen ökonomischen Denkens zur Entstehung der Sozialökonomie – eine Dimension, die etwa in André Gueslins Standardwerk vernachlässigt wird.6 Zwar behandelt Sage die Frage, ob es sich bei der politischen und der sozialen Ökonomie im 19. Jahrhundert um den gleichen (Procacci) oder um zwei grundsätzlich verschiedene Diskurse (Gueslin) handelt, im Sinn der Genealogie von semantischen Konflikten als empirischen Gegenstand. Damit erliegt sie nicht der Versuchung, diese Frage zu entscheiden. Insgesamt also ein hervorragender Essay, der mehr Fragen aufwirft als er Antworten gibt.

Anmerkungen:
1 Werner Plumpe, Ökonomisches Denken und wirtschaftliche Entwicklung. Zum Zusammenhang von Wirtschaftsgeschichte und historischer Semantik der Ökonomie, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (2009) 1, S. 27-51.
2 Hartmut Berghoff / Jakob Vogel (Hrsg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt am Main 2004.
3 Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität (2. Bde.), Frankfurt am Main 2004.
4 Lucette Le Van-Lemesle, Le Juste ou le Riche. L’enseignement de l’économie politique 1815 - 1950, Paris 2004; Yves Breton / Michel Lutfalla (Hrsg.), L’économie politique en France au XIXe siècle, Paris 1992.
5 Giovanna Procacci, Gouverner la misère. La question sociale en France 1789-1848, Paris 1993.
6 André Gueslin, L’invention de l’économie sociale. Idées, pratiques et imaginaires coopératifs et mutualistes dans la France du XIXe siècle, éd. rev. et augm., Paris 1998.

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