L. H. Van Voss u.a. (Hrsg.): History of Textile Workers

Cover
Titel
The Ashgate Companion to the History of Textile Workers, 1650-2000.


Herausgeber
Van Voss, Lex Heerman; Hiemstra-Kuperus, Els; van Nederveen Meerkerk, Elise
Erschienen
London 2010: Ashgate
Anzahl Seiten
836 S.
Preis
€ 94,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Schmidt, IGK Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive, Humboldt-Universität zu Berlin

Spinnen und Weben – das sind heute in Deutschland Relikte, die in Freilicht- und Handwerksmuseen liebevoll gepflegt werden. Spinnen und Weben – ihre Mechanisierung stand am Anfang der industriellen Revolution in Europa. Katastrophale Arbeitsbedingungen für Textilarbeiterinnen in Entwicklungsländern für Billig-Textilketten schaffen es in die Berichterstattung heutiger Medien. Namhafte Modehäuser wiederum produzieren ihre hochwertige Kleidung nach wie vor in Europa. Lassen sich all diese Entwicklungen in einem Buch zusammenbringen? Welchen analytischen Gehalt haben Konzepte wie Protoindustrialisierung, Industrialisierung und Deindustrialisierung, die im Zusammenhang mit der Textilindustrie diskutiert wurden, angesichts solch markanter Wandlungen und Unübersichtlichkeiten noch? “The Ashgate Companion to the History of Textile Workers, 1650-2000” stellt sich diese(n) Fragen und wagt den großen Wurf.

Freilich kommt auch ein über achthundert Seiten umfassender „Begleiter“ nicht ohne Begrenzungen aus. Der Blick richtet sich vor allem auf zwei Rohstoffe: Wolle und Baumwolle; vereinzelt werden weitere Fasern berücksichtigt, etwa Seide. Räumlich untersuchen die Autoren des Buches die Textilgewerbe in zwanzig Staaten. Die Begründung für die Auswahl ist in beiden Fällen ökonomisch-quantitativ determiniert: Wolle und Baumwolle waren die weltweit wichtigsten Textilrohstoffe. Analysiert wurden jene Länder, die nach den Daten der International Labour Organization (ILO) in Genf in den 1930er-Jahren einen Anteil von mindestens 1,5 Prozent in einem der folgenden Parameter der globalen Textilwirtschaft hatten: Verbrauch an Rohwolle/Rohbaumwolle, Anzahl der Spindeln, Anzahl der Webstühle, Garnproduktion, Anzahl der Beschäftigten. Hinzu kamen Länder, die früher eine starke Textilindustrie hatten, deren Bedeutung zum Zeitpunkt der Datenerhebung durch die ILO aber bereits zurückgegangen war. Für manche der relevanten Länder konnten die Projektleiter keine Autoren finden, so dass insgesamt zwanzig Länder Eingang in den Band fanden: der afrikanische Kontinent ist mit Ägypten nur einmal vertreten, Europa mit elf Länderstudien. Hinzu kommen drei Analysen zu Asien (China, Indien, Japan), vier zu Mittel- und Südamerika (Mexiko, Brasilien, Argentinien, Uruguay) sowie eine Untersuchung zu den USA.

Lex Heerma van Voss, Els Hiemstra-Kuperus sowie Elise van Nederveen Meerkerk, die das Buch im Auftrag des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam herausgaben, problematisieren ihre Auswahl in der Einleitung durchaus. Möglich wäre gewesen, einzelne Textilregionen zu untersuchen, statt auf die nationalstaatliche Ebene zurückzugreifen und so einem Paradigma des 19. Jahrhunderts zu folgen. Andererseits werde in der Globalisierungsliteratur der Nationalstaat unterschätzt; zudem seien wichtige Daten oft nur auf nationalstaatlicher Ebene greifbar. Allerdings folgen in einem solchen Großprojekt nicht alle individuellen Forscher den Leitlinien ihres Auftragsgebers. So konzentriert sich der Beitrag über Großbritannien ausschließlich auf die beiden für die Industrialisierung Englands so wichtigen Regionen Lancashire (Baumwolle) und Yorkshire (Wolle).

Ansonsten gaben sich die Autoren und Autorinnen des Bandes große Mühe, den Fragebogen des Projektes abzuarbeiten. Dabei deckten die Fragen vier Themenfelder ab. Bei der Produktion ging es um die technische Entwicklung, um Produktionsziffern, Markterschließung und -ausbeutung sowie Handelszyklen. Die Organisation der Produktion sollte unter anderem das Verhältnis von Unternehmern/Meistern und der Arbeiterschaft sowie die Rolle von Zünften und Gewerkschaften untersuchen. Ein breites Fragespektrum richtete sich auf das Themenfeld der Arbeiterschaft: Rekrutierung, geschlechterspezifische Arbeitsverhältnisse, Lebens- und Arbeitsbedingungen, Arbeitskulturen und -identitäten sollten untersucht werden. Schließlich wurde nach dem Umfeld der Textilindustrie gefragt: Welche Rolle spielte sie in der Gesamtökonomie? Griff der Staat ein? Wie sah das Verhältnis von Stadt und Land hinsichtlich der Textilbranche aus?

Im ersten rund sechshundert Seiten langen Teil des Buches wird man mit Daten und Fakten zur Textilindustrie der jeweiligen Länder geradezu erschlagen. Meist chronologisch, gelegentlich auch nach Sachgesichtspunkten geordnet, bekommt man eine gebündelte Fülle an Informationen, die ihresgleichen sucht. Manche Beiträge lesen sich in ihrer Faktenauflistung ohne eigene Fragestellung ermüdend. Andere Beiträge, etwa die über Indien und Brasilien, entwickeln einen roten Faden, an den sie ihre Informationen anknüpfen können. In diesen beiden Studien wird gegen die gängige Sichtweise argumentiert, mit dem Vordringen europäischer (portugiesischer bzw. englischer) Baumwollprodukte sei die heimische Produktion vernichtet worden. Vielmehr habe es eine hohe Anpassungsfähigkeit gegeben, die heimische Produktion habe protoindustrielle bzw. auf dem Verlagssystem beruhende Produktionsweisen aufgegriffen (weder die Herausgeber noch zahlreiche Autoren wollen sich festlegen, welcher der beiden Begriffe treffender ist). In Brasilien zeichneten sich darüber hinaus im 18. und frühen 19. Jahrhundert Verflechtungen ab. Stoffe, die nach europäischem Schnittmuster hergestellt und mit indigenen Motiven bedruckt wurden, erwiesen sich sowohl für den lokalen Markt in Brasilien als auch für den Export nach Portugal marktfähig. Die brasilianische Textilindustrie überstand den ‚Angriff‘ der europäischen Textilindustrie.

Den zwanzig Fallstudien schließt sich ein zweiter Teil an, der den analytischen internationalen Vergleich auf Grundlage der Länderstudien versucht. Im ersten Beitrag analysiert Prasannan Parthasarathi konzise die Wandlungen der globalen Handlungsströme, verliert dabei allerdings die im Titel seines Aufsatzes erwähnten Textilarbeiter aus dem Auge. Weitere Beiträge bringen allerdings ‚the workers back in‘. Roberta Marx Delson untersucht die Rekrutierungsmechanismen der Textilarbeiter. Ein dominierendes Muster lasse sich dabei nicht erkennen. Vielmehr hätten sich immer mehrere Strategien überlagert. In den in Europa früh sich ausbildenden Industrieregionen habe es die Tendenz gegeben, ethnisch homogene, aus dem unmittelbaren Umfeld kommende Arbeitergruppen zu rekrutieren. Andererseits hätten spezialisierte Textilzentren wie Leiden bereits im 17. Jahrhundert auf ein Migrationssystem qualifizierter Textilarbeiter zurückgreifen können. Auch in den sich entwickelnden Textilindustrien Südamerikas des 19. Jahrhunderts habe es ähnliche Auswahlmechanismen gegeben. Peter Scholliers vertieft die Arbeiterperspektive, in dem er den Arbeitsbedingungen im internationalen Wettbewerb nachgeht. Er stellt verschiedene Entlohnungssysteme vor und verweist auf die erbärmliche Situation am Arbeitsplatz, die sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts zwar gebessert habe, doch menschenwürdige internationale Standards hätten sich noch längst nicht überall durchgesetzt.

Der Handlungsfähigkeit der Textilarbeiter geht Lars K. Christensen nach, indem er Zünfte und Gewerkschaftsorganisationen darstellt. Er bleibt allerdings auf einer sehr allgemeinen Bewertungsebene. Zünfte sind für ihn dysfunktional, rückwärtsgewandt, verteidigen die Interessen ihres Gewerbes, während Gewerkschaften Klasseninteressen vertreten. Dass sehr wohl eine Traditionslinie zwischen beiden Organisationseinheiten bestand, wird am Beispiel der hoch qualifizierten Arbeiter an den Spinnmaschinen in Lancashire erwähnt, aber nicht weiter vertieft. Trends hin zur Entideologisierung der (europäischen) Gewerkschaften werden konstatiert. Christensen schließt optimistisch und glaubt, dass die Organisationsbestrebungen weiter gehen werden. Aus Sicht der Unternehmer sieht sich Arthur McIvor die Arbeitsbeziehungen an. Auch er konstatiert einen Trend hin zum Konsens, führt aber auch das Beispiel Ägypten an, wo Textilunternehmer nur auf wenige Monate befristete Zeitverträge ausstellen, um erst gar keine Organisationsmacht der Arbeiter entstehen zu lassen.

Zwei weitere Beiträge gehen der Konstruktion von Identitäten nach. Zentral in der Textilindustrie war dabei die Differenzierung nach Geschlecht. Janet Hunter und Helen Macnaughtan zeigen Konstruktionsmechanismen auf, die dazu dienten, gravierende Lohnunterschiede zwischen der männlichen und weiblichen Textilarbeiterschaft zu rechtfertigen. Dabei gebe es selbst für den in den meisten Ländern als „weibliche Arbeit“ angesehenen Vorgang des Spinnens Ausnahmen: für Mexiko und Argentinien traf diese geschlechterspezifische Wahrnehmung dieser Arbeit nicht zu. Eine der schwierigsten Aufgaben stellt sich Mary H. Blewett, die einen allgemeinen Überblick über Identitätsbildung in der Textilarbeiterschaft gibt. Klassenidentitäten differenziert sie nach unterschiedlichen Produktionsweisen: Dabei fallen allerdings die beschriebenen Produktionsweisen (Heimarbeit, Handwerk, etc.) mit der jeweiligen Identität als Heimarbeiter oder Handwerker gewissermaßen in eins. Wie der Prozess abläuft, wird nur in Einzelfällen, etwa bei Arbeitereliten deutlich. Weitere Identitätsbildungsprozesse hinsichtlich Religion, Region, Nation, Familienstatus, Staatsbürgerschaft und politischer Ideologie werden treffend hinsichtlich Selbstwahrnehmung und Fremdbildern herausgearbeitet. Angesichts der Masse an Differenzierungen und Fakten und der begrenzten Seitenzahl kommt es allerdings gelegentlich zu Allgemeinplätzen.

Zwei konzeptionelle Beiträge fragen nach der Bedeutung der Kategorie „Raum“ für die Textilarbeiterschaft sowie nach dem heuristischen Wert des Begriffs „Protoindustrialisierung“. Andrea Komlosy plädiert dafür, die eurozentrische Entwicklungslinie, die durch die Adjektive vorindustriell, protoindustriell, industriell und postindustriell charakterisiert wird, zugunsten eines Mehrebenen-Modells aufzugeben, das Interdependenz sichtbar macht. Der europäische Erfolg in der Industrialisierungsphase ist in diesem Modell nach wie vor zu konstatieren; gleichzeitig kann aber die Reaktion und Anpassungsleistung anderer Regionen mit ihren eigenen Entwicklungen integriert werden. Auf ähnliche ambivalente und interdependente Ergebnisse kommt auch Donald Quataert bei seiner Untersuchung der Protoindustrialisierung. Während man für Brasilien beispielsweise eine klare Verbindungslinie zwischen Protoindustrialisierung und Industrialisierung ziehen könne, sei im Nachbarland Argentinien ein Industrialisierungsprozess ohne diesen ‚Vorläufer‘ in Gang gesetzt worden.

Der Band endet mit einigen zusammenfassenden Bemerkungen der Herausgeberinnen und des Herausgebers. Angesichts der Vielzahl an Fakten und divergierenden Entwicklungen konstatieren sie zunächst die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“. Daneben präparieren sie aber zwei eindeutige Trends heraus. Bis heute unterliegen die Textilarbeiter der Entwicklung fortschreitender Lohnreduzierung. Textilien als leicht zu handelndes und zu transportierendes Gut wanderten an die Plätze niedrigster Lohnkosten. Durch diese ständige Drohung der Produktionsverlagerung konnte sich – als zweiter Trend – eine starke Organisation der Textilarbeiter kaum ausbilden. Die Machtbeziehungen waren immer ungleich.

Solchen Großprojekten vorzuwerfen, sie hätten verschiedene Aspekte nicht berücksichtigt, ist angesichts der immensen Koordinations- und Organisationsaufgaben sowie der zahlreich abgedeckten Themenfelder wohlfeil. Allerdings ist das Fehlen des Vergleichs mit anderen Branchen, der im Frageraster im Zusammenhang mit dem „Umfeld“ der Textilindustrie hätte integriert werden können, ein Manko, auf das Peter Scholliers hinweist. Zumindest im analytischen Teil hätte er sich angeboten. Denn Machtbeziehungen waren auch in anderen Branchen ungleich. Außerdem hätte die eine oder andere kulturgeschichtliche Erweiterung für viele Fragestellungen Erklärungskraft besessen. Schließlich bleibt das Problem der Begriffe: Kann beispielsweise ein Begriff wie „guilds“ wirklich die unterschiedlichen Kontexte solcher Organisationsformen in Deutschland, Ägypten und China angemessen erfassen?

Um einen solchen „Companion“ auch immer wieder schnell zu Rate ziehen zu können, ist ein Register das zentrale Hilfsmittel. Ein über mehr als vierzig Seiten sich erstreckender, differenzierter Index lässt (fast) keine Wünsche offen. Ein Ärgernis ist allerdings, dass im analytisch-vergleichenden Teil die AutorInnen nicht exakt zitieren, sondern nur pauschal auf die jeweils herangezogene Länderstudie verweisen. Ein schnelles Nachprüfen, um beispielsweise eigene Vergleiche anzustellen, ist so nicht möglich.

Der „Ashgate Companion to the History of Textile Workers“ zeigt einen möglichen Weg, um Arbeitergeschichte in einem globalen Verständnis zu betreiben, macht aber auch die damit verbundenen Schwierigkeiten deutlich und zeigt, wie viel Energie notwendig ist, solche Projekte zu realisieren. Das Ergebnis ist angesichts der Masse an Ergebnissen und Fakten beeindruckend, für manche Fragestellungen, etwa denen nach der Identität von Textilarbeitern, wird man allerdings um den genau verorteten Blick (regional und zeitlich begrenzt) nicht herumkommen, um von da aus weiter nach Ähnlichkeiten, Unterschieden und Verflechtungen im globalen Kontext zu fragen.

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