Cover
Titel
Der große Illusionist. Otto Bauer (1881-1938)


Autor(en)
Hanisch, Ernst
Erschienen
Anzahl Seiten
478 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Fuhrmann, Berlin

Die Studie „Der Große Illusionist“ ist die erste umfangreiche wissenschaftliche Biographie Otto Bauers, österreichischer Politiker und Symbolfigur des Austromarxismus. Bauer war nicht nur für die österreichische Sozialdemokratie, sondern auch für die Erste Republik Österreich eine zentrale Person. Der Autor Ernst Hanisch ist em. Professor für neuere österreichische Geschichte an der Universität Salzburg. Neben zahlreichen Veröffentlichungen zur österreichischen Gesellschaftsgeschichte und zur NS-Geschichte Österreichs hat er bereits einige Aufsätze über Otto Bauer veröffentlicht.

Seit 2005 scheint es eine kleine Renaissance der Bauer-Rezeption zu geben, neben einer weiteren Monographie zum Werk Bauers sind drei zum Teil umfangreiche Sammelbände erschienen, darüber hinaus weitere Aufsätze, die sich mit Otto Bauer befassen. Dabei bewegt sich die Bauer-Rezeption auf zwei Schienen: Die eine Perspektive ist geleitet von dem Wunsch, aus Bauers Nachlass Erkenntnisse für das Erlangen einer sozialeren Gesellschaft zu gewinnen, während einem zweiten Strang die Würdigung des Politikers Otto Bauers näher liegt.

Otto Bauer wurde am 5. September 1881 als Sohn eines jüdisch-böhmischen Textilunternehmers in Wien geboren. Er wuchs auch in Wien auf und beendete dort 1906 sein Studium der Rechtswissenschaften und der Wirtschaftsgeschichte mit der Promotion. Ab 1907 war er bezahlter Funktionär in verschiedenen Positionen der österreichischen Arbeiterbewegung, er gilt als Architekt des Austromarxismus vor 1917 und als Einigungsfigur der SDAP nach dem Ersten Weltkrieg. Obwohl er nie Parteivorsitzender war, bestimmte er die politische Linie der Partei (S. 166) und „seit 1917 gab es kaum ein politisches Manifest der SDAP, das nicht von ihm konzipiert wurde“ (S. 137). Er war 1918/19 kurze Zeit Außenminister der jungen Republik Österreich und stand innerhalb der Partei mit dem Beschluss des Linzer Programms 1926 in der „Fülle seiner Macht“ (S. 233). Er vertrat parteiintern eine auf Ausgleich gerichtete Politik, die ihn zum führenden Kopf des Austromarxismus prädestinierte. Vor allem aufgrund seiner Schriften galt er als Vertreter der Linken, während die Parteipraxis – auch seine eigene - meist eine pragmatische war (S. 134, S. 269f). 1934 floh er vor dem Austrofaschismus in die Tschechoslowakei und starb schließlich am 4. Juli 1938 in Paris. Bauer ordnete sein Privatleben ganz der Politik unter, trank keinen Alkohol und galt als sehr fleißig (S. 98, S. 138).

Hanisch weist darauf hin, dass sich Bauer bereits mit seinem ersten Werk „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie“ (1907) durch seine Marx-Interpretation in ein „deterministisches Gefängnis“ (S. 96) begeben habe, aus dem er zeitlebens nicht herauskam. Gemeint ist sein Vertrauen in die Gesetzmäßigkeit der Geschichte, die zwangsläufig zum Sozialismus führen würde. Durch diesen Umstand lässt sich die „Differenz zwischen dem scharfblickenden Analytiker und dem oft handlungsunfähigen Praktiker der Politik“ (S. 13), die zu einer „ewige[n] Strategie des Abwartens“ (S. 175) führte, teilweise erklären. Auf Bauers blindes Vertrauen auf einen geschichtlichen Automatismus bezieht sich Hanisch auch bei der Charakterisierung Bauers als „Illusionist“ (S. 232). De facto fungierte Bauer dabei oft – gewollt oder nicht – als ein Politiker, „der immer gerufen wurde, wenn es galt, radikale Wünsche zu dämpfen“ (S. 150). Dass er tatsächlich an die Dinge glaubte, die er sagte, verlieh ihm gerade bei der Parteilinken Glaubwürdigkeit.

Die Biographie gliedert sich in vier Teile, drei davon orientieren sich an den großen Episoden des Lebens von Otto Bauer, die mit denen der österreichischen Geschichte zusammenfielen, während der vierte Teil sich der Rezeptionsgeschichte von Otto Bauers Werk und Wirken widmet.

Der erste Teil behandelt die Zeit bis 1918, das heißt, Bauers familiäres Umfeld, seine Sozialisation und den Beginn seiner politischen Laufbahn. Hanisch macht einige spezifische Faktoren aus, die Bauer auch in seinem späteren Verhalten beeinflusst haben. Als zentral beschreibt Hanisch Otto Bauers Rolle als „Vermittler“ (S. 10, S. 51) innerhalb der nicht einfachen Familienverhältnisse; diese vermittelnde Rolle übernahm er auch später zwischen den revolutionären Bestrebungen und der alltäglich Reformarbeit innerhalb der SDAP ebenso wie in den Konflikten zwischen den verschiedenen Internationalen (S. 292, S. 349-353). Als wichtige Quelle für die Familiengeschichte nutzt Hanisch Sigmund Freuds Therapiebericht über Ottos Schwester Isa („Dora“). Dabei wirkt etwas befremdlich, dass der Autor sich zum Teil den zeitgenössischen psychoanalytischen Blick auf die Familie Bauer samt Vokabular zu eigen macht.

Der zweite Teil hat als Ausgangspunkt die „österreichische Revolution“ (1918) bzw. Bauers Zeit als Außenminister, und erstreckt sich bis zu den Februarkämpfen 1934 (Österreichischer Bürgerkrieg) und der Flucht Bauers aus Österreich. Zweifellos war dieser Zeitabschnitt die „Epoche Bauer“ der österreichischen Sozialdemokratie und genauso zweischneidig wie Bauers Handeln selbst. Dem erfolgreichen „Roten Wien“, in dem sich die Strategie der Machterlangung durch Wahlerfolge entfaltet hatte, standen die großen Niederlagen im Kampf um die Sozialisierung (1919; S. 186), in den Auseinandersetzungen nach dem Brand des Justizpalastes (1926/27) und schließlich im Kampf gegen den Faschismus (1933/34) gegenüber.

Im dritten Teil werden von Hanisch die letzten Jahre Otto Bauers im Exil nachgezeichnet. Bauer floh bereits während der Februarkämpfe, die er hatte verhindern wollen (S. 296-298), in die Tschechoslowakei und wurde in Theorie- und Parteiarbeit sofort wieder aktiv (S. 315). Er vollführte dabei in seinen Schriften eine Wende zu noch radikalerer Rhetorik, die aber relativ folgenlos bleiben musste (S. 319) und offenbarte dabei einen erschreckend paternalistischen Blick auf die eigene Mitgliedschaft (S. 325f).

Der – mit 14 Seiten – zu kurz geratene vierte Teil skizziert die Phasen der Bauer-Rezeption bis zur unaufrichtigen Vereinnahmung Bauers durch den SPÖ-Politiker und damaligen Bundeskanzler Alfred Gusenbauer im Jahr 2008. Die Intensität und Ausrichtung der Diskussionen hing vielfach von politischen Konjunkturen ab. Gerade in Zeiten, in denen in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft „Erinnerung“ zu einem der zentralen Schlagworte geworden ist, hätte dieser Teil aber deutlich länger ausfallen dürfen. Obwohl Hanisch die jüngeren Publikationen zum Thema durchaus zur Kenntnis genommen hat, tauchen sie unverständlicherweise hier nicht auf.

Ernst Hanisch zeichnet in dieser Studie mit Hilfe profunder Primärquellen-Arbeit ein anschauliches Bild von Otto Bauer. Mit kleinen Ausnahmen (S. 21-23) ist diese Biographie sehr ordentlich redigiert, einen ärgerlichen Lapsus stellen allerdings die fehlenden Fußnoten der Einleitung dar.

Hanisch reflektiert lobenswerterweise seine Rolle als Biograph, er versteht sich nicht als Sozialist, sondern bezeichnet seine Sozialisation als liberal katholisch mit einem „stark sozialen Anspruch“ (S. 14), was vielleicht einige der zum Teil diskussionswürdigen Einschätzungen erklärt. Trotzdem oder gerade deswegen gelingt es Hanisch immer wieder, sich auf die Charakterisierung des Menschen Otto Bauer zu konzentrieren. Seine weltanschauliche Distanz beugt dabei einer falschen Heroisierung vor. Ins Negative schlägt dies um, wenn Otto Bauers politische Überzeugung lediglich als quasi-religös, als „Erweckungsgeschichte zum Sozialismus“ (S. 30) oder als „Bekehrung“ (S. 137) interpretiert und nur individuell kontextualisiert. Dies geht einher mit einer weitgehenden Abstinenz des sozialgeschichtlichen Kontextes einer Epoche, in dem die Arbeiterbewegung aus guten Gründen ihre bedeutsamste Phase hatte.

Auch durch eine stärkere Einordnung in die internationale sozialistische Diskussion hätte das Bild Bauers gewinnen können. Nicht nur war Bauers Partei (die SDAP) international berühmt für ihren hohen Organisationsgrad, sondern ihr „integraler Sozialismus“ besaß gerade im Zuge der Spaltung der Internationale nach dem ersten Weltkrieg eine Sonderrolle, die stärker hervorzuheben sich gelohnt hätte. Auch durch einen Vergleich mit den Schriften Antonio Gramscis – beide sprachen von einem „Stellungskrieg“ im Kampf um die Hegemonie – hätten die Postionen Bauers deutlich an Schärfe gewinnen können.1 Durch den Verzicht auf die hier angedeuteten Diskussionen verliert die Biographie an möglichen Spannungsfeldern und bietet insgesamt eher einen Zugang zur österreichischen Geschichte als zur Geschichte der Internationalen Arbeiterbewegung.

Ein echtes Manko ist das Fehlen eines resümierenden Schlusses. Gerade weil Hanisch ein relativ konsistentes Bild von Bauer zeichnet, wäre eine pointierte Zusammenfassung möglich und unbedingt wünschenswert gewesen.

Die eingangs festgestellte gespaltene Bauer-Rezeption wird durch diese Biographie abgeschwächt. Hanisch erweitert zwar seine Perspektive auf Bauer, nimmt aber die Diskussionen um eine Aktualisierung der Bauerschen Ideen nur in geringem Maße auf. Dies ist angesichts der Analyse von Hanisch, dass sich Bauer in einem deterministischen Gefängnis bewegte, durchaus nachvollziehbar, jedoch wäre eine entsprechende Darlegung dem bloßen Ignorieren vorzuziehen gewesen.

Der vorliegende Band eignet sich insgesamt hervorragend für einen biographischen Zugang zur Person Otto Bauer, auch aufgrund der ordentlichen Recherche und der Fokussierung auf Bauer selbst. Dafür fallen einige Verknüpfungen heraus, die Brücken in den Kontext der Zeit hätten schlagen können. An den wissenschaftlichen Funden und Ergebnissen Hanischs wird zukünftig kaum jemand vorbeigehen können, der sich mit der Person Otto Bauer beschäftigt, die im Band vorgeschlagenen Kontextualisierungen und Interpretationen aber laden geradezu zur Debatte ein.

Anmerkung:
1 Gramsci hielt sich in den Jahren 1923/24 im Roten Wien auf – vielleicht eine inspirierende Zeit für seine späteren Überlegungen zur Hegemonie?

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