Titel
Blinde Retter. Über Darfur, Geopolitik und den Krieg gegen den Terror


Autor(en)
Mamdani, Mahmood
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ole Frahm, Institut für Sozialwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Mitten hinein in den arabischen Revolutionsfrühling erscheint Mahmood Mamdanis neuestes Buch „Blinde Retter“ (im Original „Saviors and Survivors“, 2009), eine ausgiebige Studie-cum-Appell der in der Zwischenzeit von den Titelblättern verdrängten Gewalt in Darfur. Doch indem Mamdani humanitäre Interventionen in innerstaatliche Konflikte mit Neokolonialismus und dem „Krieg gegen den Terror“ in Verbindung bringt, hat dieses von Maren Hackmann gut übersetzte Buch durchaus etwas zu den aktuellen Debatten um Ägypten, Libyen oder Syrien beizutragen.

Das Hauptanliegen des in Kampala und New York lehrenden streitbaren Anthropologen, Politikwissenschaftlers und Bestsellerautors ist es, die Debatte über den angeblichen Völkermord in Darfur zu kontextualisieren; das heißt, die politischen, historischen, geographischen, regionalen und internationalen Umstände und Bedingungen der seit 2003 in Darfur wütenden Gewalt aufzuzeigen. Dieser Appell richtet sich, wie der deutsche Titel suggeriert, an die Adresse der vor allem in den USA aktiven Bürgerbewegungen und explizit an die Organisation „Save Darfur“. Das Buch ist in drei Teile unterteilt, die sich nacheinander a) der Wahrnehmung der Krise in den USA, b) der Geschichte des Sudan und Darfurs sowie c) der Schlussfolgerungen für den Darfur-Konflikt, für Staatlichkeit und internationale Interventionen annehmen.

Im ersten Teil „Die Save Darfur- Kampagne und der Krieg gegen den Terror“ entwickelt Mamdani eine Kritik der amerikanischen Sicht auf Afrika. Zum einen fänden katastrophale Kriege wie im Kongo, in Angola oder Uganda kaum Beachtung, zum anderen sei der Blickwinkel der Berichterstattung ahistorisch. Konflikte würden als spontane Ausbrüche präsentiert, deren Vorgeschichte und Bedingungen aber außen vor blieben (S. 25). Darfur unterscheide sich von anderen Kriegen und Konflikten vor allem dadurch, dass sich für die dortige Gewalt im öffentlichen Diskurs der Begriff „Völkermord“ durchgesetzt hat. Mamdani legt überzeugend dar, wie die US-Regierung und der Kongress, der im Juli 2004 den Konflikt als Völkermord einstufte, ihre Bewertung aus den jeweils höchsten, unseriösen Sterblichkeitsschätzungen bezogen und widersprechende Stimmen ignorierten (S. 43).

Entscheidend mitverantwortlich für diese Einseitigkeit ist nach Mamdanis Dafürhalten die Organisation „Save Darfur“, deren Kernanliegen es ist, die Gewalt in Darfur als eine von der sudanesischen Regierung sanktionierte rassisch motivierte Auslöschungskampagne arabischer Täter gegen afrikanische Opfer zu brandmarken. Gleichzeitig appelliert „Save Darfur“, zu deren Unterstützern zahlreiche Prominente aus der Unterhaltungsbranche zählen (George Clooney, Mia Farrow), an die internationale Gemeinschaft, dem Morden notfalls mit militärischen Mitteln Einhalt zu gebieten (S. 70). Referenzpunkt ist dabei explizit der Völkermord in Ruanda.

Der zweite und mit Abstand umfangreichste Teil „Darfur im Kontext“ verfolgt das Ziel, die tatsächlichen Ursachen des Darfur-Konflikts historisch herzuleiten und die Kernaussagen der Save Darfur-Aktivisten zu widerlegen. Mamdanis Hauptthese lautet, dass es sich in Darfur „im Wesentlichen um einen Konflikt zwischen Stämmen mit und ohne Heimstatt (dar) handelt“ (S. 78). Dabei kämpfen auf einer Nord-Süd-Achse arabische Kamelnomaden mit sesshaften nichtarabischen Stämmen sowie auf einer Süd-Süd-Achse arabische Rindernomaden untereinander um Zugang zu Land (S. 254). Diese Verteilungs- und Überlebenskämpfe um Acker- und Weideland spielen sich vor dem Hintergrund einer Verwüstung und Verschiebung der Sahel-Zone im Zuge einer seit den 1960er-Jahren andauernden ökologischen Dürrekrise ab.

Die tieferliegenden menschengemachten Ursachen für den Konflikt sieht Mamdani in einer Reihe von Entwicklungen, deren Wurzeln teils in der Kolonialzeit, teils im Kalten Krieg und teils im Handeln der aktuellen sudanesischen Akteure liegen. So geht die Ethnisierung des Konflikts auf die britischen Kolonialherren zurück, die nach der Niederschlagung der Mahdisten und der Machtübernahme im Sudan 1898 auf eine Re-Tribalisierung Darfurs setzten. Im Zuge einer pseudo-anthropologischen Verwaltungspolitik, die auf Harold A. MacMichaels falscher Theorie einer massiven Einwanderung ethnischer Araber in den Sudan basierte, wurde die Bevölkerung in Stämme von „Siedlern“ und „Eingeborenen“ unterteilt, wobei letztere bei der Landvergabe im Dar-System (Darfur bedeutet „Land der Fur“) systematisch bevorzugt wurden. Die meisten Nomaden konnten hingegen aufgrund ihrer Lebensweise kein Stammesgebiet für sich reklamieren und wurden zu landlosen Stämmen (S. 178). Dieses koloniale Diskriminierungssystem überdauerte auch nach der Unabhängigkeit des Sudan 1956 sowohl in der Praxis als auch in den Köpfen. So beschrieben Fur und Araber, die beiden Parteien des darfurischen Bürgerkriegs 1987-89, den Konflikt gleichermaßen als Auseinandersetzung zwischen „Eingeborenen“ und Siedlern (S. 244).

Eine ähnliche Kontinuität von der Kolonialzeit bis heute sieht Mamdani in der politischen wie ökonomischen Marginalisierung der Region, die noch im 19. Jahrhundert zu Zeiten des Sultanats Darfur eine Führungsrolle im (Sklaven-)Handel und in der sudanesischen Politik innehatte. Die Unterrepräsentation von Darfuris in der nationalen Politik führte ab den 1960er-Jahren zur Gründung nationalistischer Untergrundorganisationen (DDF, Sooni, Rote Flamme) die sich besonders gegen die aus der Nilregion stammenden Dschallaba-Händler richteten (S.195). Die politisch-ethnische Spaltung innerhalb Darfurs begann hingegen mit der Intifada von 1981 und der einhergehenden Dezentralisierung der Macht. Der damit geschaffene Spielraum für inter-ethnische Agitation bereitete den Boden für die Kämpfe zwischen Arabern und Fur 1987-89 und zwischen Arabern und Massalit 1995-99 (S. 203), die sich in ihrer Brutalität und rapiden Ausweitung drastisch von früheren Streitigkeiten um Land unterschieden und durch ihre Ideologisierung das traditionelle Versöhnungssystem sprengten.

Die Rolle, welche die Regierung Omar al-Baschirs in Darfur spielte, ist, wie Mamdani zu Recht anmerkt, längst nicht so eindeutig und konstant wie oft dargestellt. Viele Darfuris begrüßten 1989 zunächst die Machtergreifung der transethnisch-islamistischen National Islamic Front (NIF). Diese Phase endete mit dem einseitigen Eingreifen Khartums auf Seiten der arabischen Stämme im Konflikt mit den nicht-arabischen Massalit, den die Regierung mit gescheiterten Lokalverwaltungs-Reformen selbst mit verursacht hatte, sowie mit dem Ausscheiden des als Darfur-freundlich erachteten Hassan al-Turabi aus der Regierung im Jahr 1999 (S. 212).

Im dritten Teil „Die Darfurkrise in der Rückschau“ befindet Mamdani, dass die im Jahr 2003 erneut aufwallende und die (westliche) Welt seitdem in Atem haltende Gewalt in Darfur deshalb so allumfassend war, weil sich Vertreter der nationalen Opposition mit darfurischen Rebellen verbündeten, während die NIF-Regierung überwiegend aus dem Tschad geflohene berittene Banditenmilizen, die Dschandschawid, bewaffnete und zusammen mit den halbregulären Popular Defence Forces (PDF) gegen die Bevölkerung einsetzte. Die zwei größten Rebellenbewegungen, Sudan Liberation Army (SLA) und Justice and Equality Movement (JEM), wurden zudem nicht nur von innersudanesischen Kräften unterstützt – die SLA durch John Garangs SPLM/A, die JEM durch Hassan al-Turabis PNC –, sondern auch durch die Regierungen der Nachbarländer Eritrea und Tschad, was den Konflikt regionalisierte und die Friedensbemühungen zusätzlich verkomplizierte (S. 265).

Dementsprechend kommt Mamdani zu dem Schluss, die Regierung Omar al-Baschirs habe durch ihr brutales Vorgehen in Darfur den dortigen Konflikt zwar verschlimmert, die vom Internationalen Strafgerichtshof im Juli 2008 gegen Baschir erhobene Anklage wegen Völkermord halte einer Überprüfung aber nicht stand (S. 283). Mamdani weitet seine Kritik der politisierten Fallauswahl des IStGH – warum keine Untersuchung des Massenmords im Irak oder in Uganda? – zu einer grundsätzlichen Kritik an humanitären Interventionen aus. Mamdanis Vorwurf ist eindeutig: Sanktioniert durch die von den Vereinten Nationen 2005 verabschiedete „Schutzverantwortung“ (responsibility to protect), heben humanitäre Interventionen die Souveränität von Staaten Afrikas und des Mittleren Ostens auf und etablieren ein neo-koloniales Treuhandsystem im Dienste westlicher Machtinteressen. Dabei spiele die Definitionshoheit über Rechtsbegriffe eine entscheidende Rolle, da die Feststellung eines „Völkermords“ eine militärische Intervention rechtfertige, wohingegen der „Krieg gegen den Terror“ Gewaltausübung sowohl moralisiere als auch rechtlich dereguliere (S. 294). Mamdanis Antwort auf diese Situation ist ein Plädoyer für die Renationalisierung der Konfliktbeilegung und die Wiederherstellung staatlicher Souveränität. Nur so sei der Rekolonialisierung gescheiterter Staaten Einhalt zu gebieten und die Einheit und Unabhängigkeit Afrikas zu erreichen (S. 313).

„Blinde Retter“ ist ein engagiertes Buch mit einer Fülle von Material zu Darfur und Sudan und mehreren provokanten, gut begründeten Thesen. Damit ist dieses Buch für den Darfur/Sudan-Kenner ebenso von Interesse wie für den Studenten zivilgesellschaftlicher Mobilisierung oder jene, die sich mit souveräner Staatlichkeit und internationalen Interventionen beschäftigen. Man muss Mamdanis extreme Skepsis gegen jede Form humanitärer Interventionen nicht teilen, um angesichts der Angriffe auf Libyen und ihrem Ausbleiben vis-à-vis Syrien erneut die Frage zu stellen, auf welchen Grundlagen humanitäre Interventionen erfolgen und erfolgen sollten.

Trotz dieser Vorzüge leidet das Buch jedoch an einem grundlegenden Dilemma: es scheint sich nicht entscheiden zu können, ob es eher Pamphlet oder historisches Fachbuch sein will. Bei allen lehrreichen Informationen zur Geschichte und Entwicklung Darfurs – Informationen, die überwiegend bereits andernorts zu lesen sind – stellt sich dem Leser beim Waten durch die 384 Seiten (davon knapp 70 Seiten Anmerkungen, Literaturverzeichnis, Register) die Frage, ob es wirklich notwendig ist, die Geschichte des Sudan derart ausgiebig und detailreich darzustellen.

Schwerer wiegt aber, wie pauschal Mamdani bisweilen Urteile fällt, wenn es um Save Darfur, die amerikanische Öffentlichkeit und Regierung, die Medien oder die Vereinten Nationen geht. Es muss kein Nachteil sein, wenn ein Autor offen Partei ergreift – das Buch ist „[a]llen, die für eine unabhängige Afrikanische Union kämpfen“ gewidmet – doch sollte das keinen Einfluss auf seine Analyse haben. Die Behauptung, der Erfolg von Save Darfur erkläre sich damit, dass viele Amerikaner der Beschäftigung mit dem Irak-Krieg und der eigenen Verantwortung überdrüssig seien und ihnen bei Darfur warm ums Herz würde (S. 69), ist eine zumindest gewagte psychologische Volte, die mehr als nur einer anekdotischen Begründung bedarf. Auch die These, die amerikanischen Medien berichteten in ahistorischer Weise über Afrika, ist mehr behauptet denn belegt. Die gescheiterte AMIS-Mission der AU wird mit milder Kritik versehen, der UN aber indirekt unterstellt, sie hätte es ungern gesehen, wenn die Afrikaner ihre Probleme in Eigenregie lösten (S. 52). An diesen und anderen Stellen wünscht man sich das gleiche genaue Hinschauen und die gleiche Vorsicht in der Analyse, die Mamdani mit vollem Recht für die Analyse des Darfur-Konflikts einfordert und – das ist das Verdienst des Buches – auch liefert.

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