G. Wedel: Autobiographien von Frauen

Titel
Autobiographien von Frauen. Ein Lexikon


Autor(en)
Wedel, Gudrun
Erschienen
Köln 2010: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
1286 S.
Preis
€ 179,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marleen von Bargen, Historisches Seminar, Universität Hamburg

Seit rund 40 Jahren sucht und sammelt die Historikerin Gudrun Wedel mit großer Leidenschaft autobiographische Texte von Frauen. Nun ist ein umfangreiches Nachschlagewerk erschienen, in dem erstmals über 2.000 Autorinnen, die zwischen 1800 und 1900 im deutschsprachigen Raum geboren wurden, samt ihren autobiographischen Schriften vorgestellt werden. Für dieses von der DFG geförderte Projekt erhielt Wedel im Jahre 2000 den Margherita-von-Brentano-Preis.

Ziel des Lexikons ist es, die „Fülle und Vielfalt“ von publizierten autobiographischen Texten von Frauen aufzuzeigen und darzulegen, aus welchen Gründen und in welchem Ausmaß autobiographische Texte entstanden sind (S. VII). So wurden neben bekannten auch bislang unbekannte und anonyme Frauen aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten in das Lexikon aufgenommen. Eine weitere Zielsetzung sieht Wedel darin, autobiographisches Schreiben in weiblichen Lebensläufen sichtbar zu machen und dieses mit Ereignisgeschichte sowie Publikations- und Rezeptionsgeschichte zu verknüpfen, um das Wirken einzelner Autobiographinnen bis in die Gegenwart hinein rekonstruieren zu können. Wedel legt hierbei einen „weite[n] Begriff von Autobiographie zugrunde, um die Formenvielfalt und Komplexität von autobiographischen Texten in den Blick zu bekommen“ (S. VII). Unter der Bezeichnung Selbstzeugnisse summiert Wedel unterschiedliche literarische Textformen, die in verschiedenen inhaltlichen Zusammenhängen autobiographische Informationen beinhalten.

Die einzelnen Artikel gliedern sich in verschiedene Unterpunkte. Nach dem Namen bzw. der Namensform folgt eine Kurzbiographie der Autobiographin. In der Kurzbiographie befinden sich zusätzliche Hinweise zu Nachlassstandorten und Lexika, die weiterführende biographische Informationen liefern. Am Ende dieses Abschnitts werden andere Autobiographinnen aus dem Lexikon aufgeführt, die mit der vorgestellten Autorin in persönlicher Beziehung standen. So wird nicht nur ein „umfangreiches internes Netz der Autobiographinnen“ (S. XI) erkennbar, sondern auch eine Grundlage für weiterführende Untersuchungen zu Frauennetzwerken geschaffen. Darüber hinaus können diese Angaben den Ausgangspunkt für Einordnungen der einzelnen Autorinnen in bestimmte Kontexte und gesellschaftliche Diskursfelder bilden.

Im anschließenden Hauptteil der Artikel werden ausführlich die autobiographischen Publikationen – insgesamt erfasst das Lexikon über 6.000 Titel – in chronologischer Reihenfolge angeführt. Durch eine Auflistung der behandelten Themen in Stichworten gewinnen Leser/innen einen ersten Eindruck von dem Inhalt der autobiographischen Publikationen, die als Bücher bzw. als Beiträge in Sammelbänden oder Periodika einer größeren oder kleineren Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind. Weitere Hinweise, die etwa die Entstehungssituation, die Auflagenhöhe oder Rezensionen betreffen, ermöglichen Einsichten in den Prozess des autobiographischen Schreibens und in die Rezeption der autobiographischen Texte. Tagebücher, Briefe und Reisebeschreibungen werden gesondert als “weitere publizierte Selbstzeugnisse“ aufgeführt. Die Trennung begründet Wedel damit, dass letztere in geringen zeitlichen Abständen zum Erlebten aufgeschrieben wurden und meist nicht den gesamten Lebenslauf abdecken. Außerdem werden noch weitere publizierte Werke angeführt, die „dem Titel nach einen autobiographischen Bezug vermuten lassen“ (S. XIII) sowie “Selbstzeugnisse im Umfeld“ der jeweiligen Autobiographin. Hinweise auf weiterführende Sekundärliteratur beschließen die einzelnen Artikel.

Die Zuordnung der Selbstzeugnisse innerhalb der Artikelunterpunkte verdeutlicht, dass eine klare Trennung der Texte nach Art und Umfang der autobiographischen Informationen kaum vollzogen werden kann.1 So wird es aber für die Selbstzeugnisforschung durchaus gewinnbringend sein, wenn Texte ergänzend hinzugezogen werden, die üblicherweise nicht in den Fokus biographischer Untersuchungen rücken würden. Als Beispiel sei das für Anna Siemsen als autobiographische Publikation gelistete Buch „Erziehung im Gemeinschaftsgeist“ angeführt, das in der Regel nur als pädagogisch-philosophische Abhandlung untersucht wird.

Neben einem Quellen- und Literaturverzeichnis bietet das Lexikon zudem ein Personen-, Orts- und Sachregister, so dass auch nach anderen Kriterien als dem Namen gesucht werden kann. Statt einer Einleitung werden Hinweise zur Benutzung gegeben, in denen nur knapp Ziele und Schwerpunkte des Lexikons umrissen werden. Anschließend erläutert Wedel im Wesentlichen die Quellen und die Struktur der Artikel. Eine Einleitung, in der das Lexikon in größere Forschungskontexte, wie zum Beispiel in die Autobiographie- und Selbstzeugnisforschung oder in die Frauen- und Geschlechtergeschichte eingeordnet und seine Bedeutung für die interdisziplinäre Forschung herausgestellt würde, fehlt jedoch. Wedel formuliert allenfalls, dass die von ihr gesammelten autobiographischen Schriften „einen bedeutenden Teil der Erinnerungskultur“ darstellen und in den „Übergangsbereich vom ,kommunikativen‘ […] zum ,kulturellen‘ Gedächtnis“ (S. VIII) hineinreichen würden, ohne jedoch näher auf diesen forschungstheoretischen Ansatz einzugehen.

Dabei leistet Wedel mit dem Lexikon einen wesentlichen Beitrag, eine große Lücke in der Autobiographie- und Selbstzeugnisforschung zu schließen. Das Lexikon zeigt, dass autobiographische Texte von Frauen aufgrund ihrer literarischen Mischformen eben nicht dem „klassischen“ Gattungsbegriff entsprechend klassifiziert werden können. Dies ist zunächst keine neue Erkenntnis. Seit den 1980er-Jahren wurden vor allem aus literaturwissenschaftlicher Sicht vermehrt Kritik an dem Ausschluss von Frauen aus der Geschichte der Autobiographie sowie Forderungen nach einer Revision der kanonischen Grenzziehungen laut. Hinterfragt wurde die traditionelle Definition der Autobiographie, die sich gattungsgeschichtlich an dem sich selbst historisierenden männlichen, bürgerlichen Subjekt orientierte, das auf ein in sich geschlossenes Leben zurückblickt. Hierfür hatte vor allem Goethes Selbstinszenierung in seinen Lebenserinnerungen “Dichtung und Wahrheit“ Vorbildcharakter erlangt. Die sich aus weiblichen Lebens- und Handlungsbedingungen ergebenen Formen des autobiographischen Schreibens von Frauen wurden daher aus dem gattungsgeschichtlichen Kanon ausgeklammert.2 Wedels Sammlung verschiedener autobiographischer Schriften von Frauen zeigt erstmals neben bereits existierenden exemplarischen Einzelstudien in einer Zusammenschau die Vielfalt dieser Texte auf und ermöglicht damit künftigen Forschungen, „das Spektrum der behandelten Themen auszuloten, Standardthemen sichtbar zu machen und dabei die Varianten der formalen Gestaltung festzuhalten“ (S. VII).

Daneben ist das Lexikon auch für geschlechtergeschichtliche und kulturgeschichtliche Fragestellungen relevant. Autobiographische Texte entstanden immer dann, wenn ein Individuum sich seiner Selbst vergewissern und seinem Leben eine bestimmte Sinndeutung verleihen wollte. Autobiographische Texte geben daher Aufschluss über Sinnstiftungsprozesse und Identitätskonstruktionen in Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Strukturen. Insbesondere Krisen oder Umbruchsituationen vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Modernisierungs- und Individualisierungsprozesse beförderten gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Verfassen autobiographischer Texte von Personen, die verschiedenen gesellschaftlichen Schichten angehörten. Gerade auch Frauen beteiligten sich in steigender Anzahl an dieser Praxis. Die damals entstehenden Schreibformen der autobiographischen Texte lassen den Schluss zu, dass es veränderte Selbstwahrnehmungen, Lebensbedingungen und Handlungsspielräume waren, die einer Sinngebung und spezieller Ausdrucksmöglichkeiten bedurften.3 Vor diesem Hintergrund mag sich auch Wedels Vorgehen erklären, autobiographische Texte von jenen Frauen zu sammeln, die zwischen 1800 und 1900 geboren wurden. Angesichts der seit dem Mittelalter überlieferten autobiographischen Texte von Frauen ist eine zeitliche Einengung auch für ein Lexikon unumgänglich und sinnvoll. Dennoch hätte eine Begründung für die zeitliche Eingrenzung erfolgen können.

Gudrun Wedels Lexikon ist eine Pionierarbeit, die trotz des stolzen Preises von 179 Euro Wissenschaftler/innen, die zu biographischen oder geschlechtergeschichtlichen Themen arbeiten, zur Anschaffung empfohlen sei. Zu guter Letzt ist noch Wedels Vorhaben, eine Internet-Datenbank zu erstellen, positiv hervorzuheben. Hierfür soll das in gedruckter Form vorliegende Lexikon als Basis dienen. Die Internet-Datenbank soll nicht nur autobiographische Texte aus dem 19. und 20. Jahrhundert von Frauen, sondern auch von Männern beinhalten. Damit kann ein Grundstein gelegt werden, autobiographische Texte von Frauen nicht länger als randständige Erscheinung der Autobiographie-Forschung zu betrachten, sondern männliche wie weibliche Autobiographien nebeneinander zu stellen, um auf diese Weise neue Einsichten und weitergehende Erkenntnisse für die (Auto-)Biographieforschung insgesamt zu gewinnen.

Anmerkungen:
1 Zur Diskussion des Begriffes „Selbstzeugnis“ in der Forschung siehe die DFG-Forschergruppe „Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive“ unter <http://www.fu-berlin.de/dfg-fg/fg530/> (23.05.2011).
2 Exemplarisch: Michaela Holdenried, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen, Berlin 1995, S. 9-20, bes. S. 9f.
3 Charlotte Heinritz, Auf ungebahnten Wegen. Frauenautobiographien um 1900 (Aktuelle Frauenforschung), Königstein im Taunus 2000, bes. S. 10-16.

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