W. Hardtwig u.a. (Hrsg.): Universalhistorisches Denken in Berlin

Titel
Die Vergangenheit der Weltgeschichte. Universalhistorisches Denken in Berlin 1800-1933


Herausgeber
Hardtwig, Wolfgang; Müller, Philipp
Erschienen
Göttingen 2010: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
314 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Gierl, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Universität Göttingen

Der Band ist aus einer Tagung zum 200. Geburtstag Droysens an der Humboldt-Universität Berlin hervorgegangen. Sein Gegenstand ist nicht nur aktuell. Es geht um ein Kernstück der Rekonstitution der eigenen Fachgeschichte. Vor allem aber zeichnet den Band im Kontrast zu herkömmlichen Sammelbänden das Bemühen aus, das Thema systematisch zu erfassen und darüber hinaus in den Einzelbeiträgen vergleichbar abzuhandeln. Man wollte die „Konzeptionalisierung von Universalgeschichte mit einem spezifischen Ort der Wissensproduktion verknüpfen und die ideen- und historiographische Fragestellung mit der nach dem institutionellen und diskursiven Rahmen der Wissensproduktion verbinden“ (S. 16). Die Aufsätze rekapitulieren Biographie, Universitätsposition, globale Perspektive und Fachstandpunkt ihrer Protagonisten.

Klaus Ries untersucht „Fichte zwischen Universalismus und Nationalismus“. Das „nationale Moment“ Fichtes, des Redners an die Deutsche Nation, sei von seinem universalistischen Denken motiviert, ein Produkt der napoleonischen Zeit (S. 32). Die Deutschen seien für Fichte die „Retter des christlichen Abendlandes“ (S. 43). Nach dessen mehrfachem Untergang fragt man sich, ob einem der nur nationalistische Fichte nicht lieber ist.

In seinem posthum veröffentlichten Beitrag zu „Hegels Eurozentrismus in globaler Perspektive“ rekapituliert Heinz Dieter Kittsteiner prägnant Hegels Geschichtsdenken, die Wanderung des Geistes von Ost nach West, seine Ankunft in Preußen und die Optionen, die der Weltgeist nun hatte, von West nach Ost zu wandern (S. 52, 71ff.).

Wilfried Nippel stellt Droysens „Hellenismus“ als „uneingelöste Ankündigung“ dar (S. 75). Der Hellenismus Droysens sei mit Alexander zusammengefallen. Dennoch habe das 19. Jahrhundert den Begriff übernommen (S. 85-88).

Christine Taubers ebenfalls sehr lesenswerter Aufsatz erörtert Franz Kuglers universalhistorisches Handbuchkonzept des „Ganzen der Kunstgeschichte“ (S. 91): eine „Kunstgeschichte ohne Künstler“, die den Entwicklungsgang und das Meisterwerk in den Mittelpunkt stellt und Kunstgeschichte so als „Arbeit an der Nation“ in deutsch-protestantischer Mission begreift (S. 113f.).

Iris Schröder behandelt Carl Ritters Universalgeographie. Dass die „geographische Natur“ der „historischen Natur“ entspreche, sei seine Leithypothese gewesen (S. 134). Die Erde als Ganzes und im Zusammenhang des allgemeinen Vergleichs zu sehen, habe Ritter zum Projekt des historischen Raums geführt, der Analyse von „Raumverhältnissen“ und „Raumrevolutionen“ (S. 137).

Dem „Problem der Weltgeschichte bei Leopold Ranke“ ist Ulrich Muhlacks Beitrag gewidmet. Ranke habe das Besondere und Allgemeine versöhnen, die politisch und an empirischer Vollständigkeit orientierte Universalgeschichte des 18. Jahrhunderts mit der letztlich philosophischen Vorstellung einer Weltgeschichtsidee verbinden wollen. Dass Muhlack dabei ausführlich auf die Universalgeschichtstradition des 18. Jahrhunderts eingeht und damit Diskurstraditionen aufzeigt, ist ein Plus seiner Arbeit.

Hartmut Böhme stellt die als Spirale sich weiterentwickelnden Zeitalter aus je alter, mittlerer und neuerer Zeit Kurt Breysings vor: eine Art szientifizierte Hegelsche Geschichtsschraube, die sich weiter um Europa dreht und in ihrer Bewegung die „Geschichte der Menschheit“ als „Kinetik der Bahnläufe menschlichen Geschehens“ nachzuzeichnen verspricht (S. 184).

Alexander Thomas zeigt die „Weltgeschichte“ Hans Delbrücks, des Herausgebers der „Preußischen Jahrbücher“ und seit 1896 Berliner Ordinarius für Universalgeschichte, als eine Art grotesk konkret gewordene Hegelsche Weltpreußengeschichte. Hegelianisch verkörpert der Staat die „Wirklichkeit der sittlichen Idee“, die Militärgeschichte aber die Wirklichkeit des Staats (S. 197). Preußens Kriegsgeschichte rückt in den Mittelpunkt der Weltgeschichte, deren Höhe Delbrück als „nationales Ich und heldenhaftes Individuum“ in seiner Autobiographie erreicht (S. 208). Preußen und Delbrück werden zum Weltgeschichtsgeist an sich.

Josef Wiesehöfer behandelt die „Geschichte des Altertums“ Eduard Meyers, der Geschichte „notwendig universalistisch“ behandelt sehen wollte (S. 229). Wiesehöfer übergeht dabei nicht, dass Meyer das Universelle nicht zuletzt mit kruder Volkstypisierung, so beispielsweise was den „semitischen Charakter“ anbelangt, erreichte (S. 232).

Christoph Markschies erörtert „Das Wesen des Christentums“ Adolf von Harnacks, das diesem „heimliche[r] Grundtenor“ der „inneren“ Weltgeschichte und eine „Tatsache“ war, „welche die christliche Religion als ‚Wiedergeburt‘ [… und] sittliche Neuschöpfung“ verkörpere (S. 248). Harnack beanspruche die Universalgeschichte immer wieder, so Markschies, weise ihr „jedoch nur einen Platz am Katzentisch […] des Christentums“ zu (S. 248f.). Preußisches Protestantentum scheint so zum heimlichen Kern der Weltgeschichte zu werden und ist selbst in der alten Christentumsgeschichte präsent.

Philipp Müller untersucht Dietrich Schäfers Weltgeschichtsschreibung im Rahmen der „imperialen Globalisierung um 1900“ (S. 251): Stramm das „Primat der äußeren Politik“ (S. 263) vertretend, wollte Schäfer „durch seine populäre Geschichtsschreibung den Gedanken eines deutschen Beitrags zur Weltpolitik als nationale Aufgabe begründen“ (S. 259).

Friedrich Lenger bespricht Werner Sombarts „Modernen Kapitalismus“, dessen Bezüge zur Kolonialökonomie und nicht zuletzt Sombarts Globalisierungshoffnungen. Ohne „Ausplünderung dreier Erdteile“ sei die Entstehung des Kapitalismus nicht möglich gewesen (S. 277). Für die Wirtschaftsentwicklung nach dem Ersten Weltkrieg interessiere, so Sombart, „gar nicht so sehr, ob sie kapitalistisch oder sozialistisch sein wird, ob die Menschen gebraten oder gesotten werden“ (S. 286), sondern ob man noch ungeschoren davon kommen könne. Sombart habe das Heil in Landwirtschaft und Gewerbe gesehen. Der mögliche „‚Übergang des Kapitalismus von den weißen auf die farbigen Rassen‘ stimmte ihn hoffnungsfroh, weil dann eine kräftige Reagrarisierung Europas unumgänglich werde und endlich ‚eine Rückbildung des europäischen Tumors‘ zu erwarten sei“ (S. 286).

Am Ende des Bandes steht Otto Gerhard Oexles Beitrag zu Otto Hintzes „Weltgeschichtlichen Bedingungen der Repräsentativverfassung“ (1931). Anders als die männlich sozialisierte, national fokussierte Welthistorie der Kriegs-, Kultur- und Geistreibereien konzipierte Hintze Weltgeschichte als Zivilisations- und Organisationsgeschichte, als Geschichte der Korporationen und des Rechts als historischem Konstitutionsraum von Gesellschaftlichkeit: „Zunächst: Die kirchliche Anstalt“ (S. 303), „[s]odann: Stände“ (S. 304), „[a]ußerdem: Gruppen“ (S. 305), „[s]chließlich: Das Individuum“ (S. 307): Oexle führt es vor und konstatiert: Nach 1945 sei es zunächst leider wiederum nicht um die „zivilisierte Staatengesellschaft“ in der „ganzen zivilisierten Welt“ gegangen, sondern statt dessen im Zeichen eines „neuen Rankeanismus“ erneut um politische Staatengeschichte (S. 308).

Oexles Schlussgedanken lassen sich als Resümee des gesamten Bands verstehen. Das akademische Weltgeschichtsdenken in Berlin 1800 bis 1933 war eng. Viel Hegelscher Weltgeist galoppiert in ihm, in preußischer Manier reichlich waffenstarrend und letztlich etwas verloren, mit protestantisch schlagendem Herz ebenso furchtsam wie aggressiv in eine Zukunft, die, so oder so, die Züge deutscher Kultur tragen sollte. Die Berliner Geschichtsschreibung suchte sich selbst, wenn sie von der Welt redete: Mit Ordinariengestus und doch wenig erwachsen vergleicht man das, was man für die eigenen militärischen, kulturellen und politischen Muskeln hält, und deren Gewicht, das man loyal und selbstüberzeugt statuiert, weil es doch nicht anders sein konnte und also auch sein können würde. Der Band führt dies in seiner ganzen Breite und im Fächerdetail der Berliner Universität vor Augen. Er zeigt auch die schmalen, zögerlichen Alternativen und ihre Anbindung und ihren Rekurs auf den Mainstream. Dass man angesichts des Fokus auf die akademische Welt, wie im Vorwort angesprochen, auf Marx und die Junghegelianer verzichtet hat, ist einerseits schade, macht jedoch, um die akademische Achse nicht zu verstellen, Sinn. Gewiss wäre es gewinnbringend gewesen, die Beiträge in einem Nachwort in der weiteren nationalen Weltgeschichtsdebatte von Lamprecht bis Weber und der außerdeutschen Weltgeschichtsschreibung zu lokalisieren sowie die Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts, über das hinaus, was Muhlack geleistet hat, in der Universalgeschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts zu kontextualisieren. Dass die von Rudolf Vierhaus völlig zurecht eingeforderte Unterscheidung zwischen der konstruierenden und sammelnden Universalhistorie frühneuzeitlicher Geschichtsschreibung und der narrativen, argumentierenden und philosophischen Ideen offen stehenden Weltgeschichte des Historismus und Idealismus im Begriffsgebrauch der Beiträge wieder verloren gegangen ist, ist schade, auch wenn die Protagonisten des Bandes Universalgeschichte und Weltgeschichte häufig noch als Synonym gebrauchten.1

Insgesamt präsentiert sich der Band als äußerst gelungener Überblick über die lokale „Vergangenheit der Weltgeschichte“, der in seiner Machart richtungsweisend für eine auch in Sammelbänden systematisch und in den Einzelbeiträgen vergleichend gebotene Geschichtsschreibung zu sein vermag.

Anmerkung:
1 So Rudolf Vierhaus auf einer 1999 in Göttingen abgehaltenen Tagung, deren Beiträge 2003 erschienen sind: Stefan Berger u.a. (Hrsg.), Historikerdialoge. Geschichte, Mythos und Gedächtnis im deutsch-britischen kulturellen Austausch 1750-2000, Göttingen 2003.