S. Schmidt u.a. (Hrsg.): Politik der Zeugenschaft

Cover
Titel
Politik der Zeugenschaft. Zur Kritik einer Wissenspraxis


Herausgeber
Schmidt, Sibylle; Krämer, Sybille; Voges, Ramon
Reihe
Edition Moderne Postmoderne
Anzahl Seiten
355 S.
Preis
€ 32,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benjamin Herzog, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum

Die Begriffe „Zeuge“, „Zeugnis“ und „Zeugenschaft“ umreißen ein Feld, das die Geschichtswissenschaft in seiner Vielschichtigkeit und Langfristigkeit bisher nur unzureichend zum Gegenstand systematischer empirischer Forschung gemacht hat. In der Debatte dominiert vielmehr eine Fixierung auf die Figur des „Zeitzeugen“, über den das Fach sein normatives erinnerungspolitisches Engagement sowie seine disziplinäre Abgrenzung von der Geschichtspopularisierung austrägt. Sowohl der Forschung als auch der aktuellen Selbstverständigung kann der vorliegende Band mit seinen Fallstudien Impulse geben. Vor allem verschafft die interdisziplinäre Sammlung von Beiträgen, unter denen die Zugänge der Philosophen quantitativ und programmatisch überwiegen (gefolgt von Historikern sowie Kultur- und Literaturwissenschaftlern) einen Einblick in den aktuellen systematischen Reflexionsstand zu Konzepten und kategorialen Differenzierungen von Zeugenschaft, die es dann genauer umzusetzen gelte.

Bei der Lektüre wird schnell deutlich, dass die organisierende Idee des Bandes nicht in einer Gegenüberstellung kontroverser Positionen liegt, sondern in der Profilierung einer homogenen (Variationen ähnlicher Argumente zuweilen nicht scheuenden) Perspektive. Dies geschieht vor allem in den drei Kernbeiträgen der Philosophen Oliver R. Scholz, Sybille Krämer und Sibylle Schmidt (ins Philosophiegeschichtliche verlängert in den Aufsätzen von Johannes-Georg Schülein und Emmanuel Alloa). Sie zielen darauf ab, das Zeugenwissen gegen die klassische, auch politisch wirksam gewordene Erkenntnistheorie der Moderne zu rehabilitieren. Deren Individualismus habe sich von der Übernahme des Wissens anderer prinzipiell unabhängig machen wollen. Zudem sei dort der Wert eines solchen Wissens um die subjektiven Komponenten des Ethischen und Sinnhaften auf möglichst reine Informationsübermittlung verkürzt worden. Demgegenüber betonen die Autoren die unvermeidbar soziale Fundierung ‚eigenen‘ Wissens und entwickeln eine zweipolige Phänomenologie von Zeugenschaft: Der Aussagegehalt und seine epistemische Zuverlässigkeit seien untrennbar verbunden mit einer sozialen, ethischen und politischen Funktion sowie personalen Trägerschaft, die jenen Gehalt erst ermögliche, nicht in ihm aufgehe und sich im Extremfall auch funktional von ihm emanzipieren könne. Im Nachvollzug dieser Ambivalenz und der Sichtbarmachung des Mehrwerts jenseits der Aussage als solcher (Vertrauen, existenzielle Beglaubigung) wird der Auftrag an die empirische Forschung gesehen. Das entspricht der Synthese zweier aktuell dominierender Zeugenkonzepte: des „social testimony“, das die soziale Konstituierung und Vernetzung von Wissensbeständen betont, und der paradigmatisch gewordenen Figur des „Überlebenszeugen“, dessen existenzielles Betroffensein konstitutiv für den Wahrheitsgehalt wird, ja ihn ersetzen kann.

So einleuchtend und wichtig der Verweis auf die beiden Komponenten jeder Zeugenschaft ist, bleibt doch fraglich, ob er ausreicht, um den Gerichtszeugen, sozial verfasstes Alltagswissen und den Überlebenszeugen analytisch unter einer Klammer zu fassen. Das verbindet sich mit der Nachfrage, inwieweit in diesem Blick der Forschung auf die Zeugenschaft normative und analytische Interessen ungetrennt bleiben (müssen).

Die geschilderte theoretische Konzeption von Zeugenschaft findet sich besonders in einer Gruppe von fünf Beiträgen wieder. (Ich folge dabei bewusst nicht der für den Band gewählten Einordnung der Aufsätze in die Sektionen „Wissen“, „Geschichte“ und „Politik“.) Mehr oder weniger detailreich prüfen diese Beiträge jeweils an einem konkreten Phänomen Konturen und Variationen einer gewissermaßen ‚Neuen Zeugenschaft‘ (kein Ausdruck der Autoren). Eine solche Zeugenschaft definiert sich gerade über den Mehrwert jenseits des transportierten Wissens, ja über dessen Explizierung. Andree Michaelis zeigt das am Überlebenszeugen der Shoah: Emotionalisierung und Subjektivierung bewirken, dass sowohl Geltungsgrund als auch Intention dieser Zeugenschaft sich vom Maßstab reiner ‚Faktizität‘ emanzipiert haben. Dieser Beitrag oszilliert wiederum zwischen einer Historisierung des Phänomens, dessen Durchsetzung auf den Eichmann-Prozess datiert wird, und einem normativen Plädoyer. Steffi de Jong kann zeigen, wie dieser Mehrwert sich manifestiert, wenn Zeitzeugenberichte ins Museum kommen und damit von der Quelle zum Schauobjekt werden. In diesem spezifischen Kontext knüpft sich an den Zeitzeugen sowohl eine Demokratisierung des Geschichtsbewusstseins als auch ein Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis. Anne Flecksteins detaillierte Analyse von Zeugenschaft, Autorisierung und Befragungsverfahren in der südafrikanischen Wahrheitskommission dokumentiert, dass sich das Phänomen der Zeugenschaft im spezifischen Kontext der „Transitional Justice“ zunehmend vom Beweisbeschaffungszweck zum Selbstzweck des Verfahrens entwickelt und verschiebt. Das korrespondiert mit einer Ausdehnung der Zeugenkategorie auch auf mittelbare, „intellektuelle Zeugenschaft“ und mit der Abspaltung eines eigenen, narrativen und ‚heilenden‘ Wahrheitsbegriffs vom forensischen Wahrheitsverständnis.

Yasemin Shooman, eine weitere Autorin dieser Gruppe, kennzeichnet die Zeugenschaft als privilegierte Sprecherrolle unterdrückter muslimischer Frauen vor dem westlichen Publikum. Hier zeigt sich, dass die zirkelhafte Selbstbeglaubigung des Zeugen bzw. der Zeugin in eigener Sache letztlich ihre Evidenz aus ihrem Opferstatus beziehen muss. Zugleich ist dies der einzige Beitrag zu aktuellen Phänomenen, der mit ideologiekritischem Gestus Zeugenschaft als Diskursstrategie dekonstruiert – was leider etwas isoliert bleibt. Geert Gooskens wiederum folgt dem eingangs geschilderten Blick auf das Phänomen, indem er dem Fernsehzuschauer die Zeugenqualität abspricht. Da es nicht um den reinen Informations- und Wahrnehmungsgehalt gehe, sondern die affektive Komponente definitorisch konstitutiv für Zeugenschaft sei, könne davon hier nicht die Rede sein. Dieses Argument wendet jedoch den Maßstab möglicherweise zu schematisch an: Hat nicht gerade die Verlagerung von der unmittelbaren Wahrnehmung auf die emotionale Betroffenheit das Potenzial der Ausweitung der Kategorie hin zu einer übertragbaren Art Tele-Zeugenschaft, die epochal bezeichnenden Charakter hat (vgl. eben die „intellektuelle Zeugenschaft“ bei Fleckstein)? Hier könnte die Historisierung und diskursive Kontextualisierung des Phänomens wiederum die systematische Begriffsarbeit präzisieren und inspirieren. Zeugenschaft kann nicht unabhängig von Kommunikations- und Beobachtungsstrukturen der Epoche gedacht werden; Gooskens zitiert selbst das Wort vom „Jahrhundert des Zeugen“, das sich ans Medium des Fernsehens bindet.

In einer zweiten Gruppe von fünf Beiträgen, die das Phänomen in genau umrissenen historischen Kontexten ganz überwiegend der Frühen Neuzeit untersuchen, wird die Aufforderung, dem Informationsgehalt der Zeugenschaft die politisch-ethisch-soziale Komponente an die Seite zu stellen, zur heuristischen Maxime historischer Forschung, Zeugenschaft auf ihre strategische Funktion und auf die Mechanismen ihrer Evidenzerzeugung hin zu befragen. Matthias Bähr tut dies, indem er Zeugenschaft vor dem Reichskammergericht als Artikulationskanal bäuerlichen Widerstands deutet. Ramon Voges analysiert anhand der politischen Bildberichterstattung des 16. Jahrhunderts, wie das Konzept von Augenzeugenschaft medial transferiert wurde. Jasmin Mersmann und Michèle Bokobza Kahan demonstrieren, wie in wissenschaftlichen und religiösen Kontexten das Unsichtbare und das Wunderbare über den Zeugengestus in Text und Bild objektiviert und öffentlich evident gemacht wurden. Anna Karlas Untersuchung französischer Revolutionsmemoiren aus dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts schließt wieder stärker an die Programmatik der einleitenden Aufsätze an: Ihre These suggeriert gleichsam eine Vorverlagerung des Zeitzeugenparadigmas vom späten 20. ins 19. Jahrhundert – schon damals sei es auch um eine Figur der moralischen Verantwortung gegenüber den Opfern und der Verarbeitung traumatischer Erfahrung gegangen.

Insbesondere letzterer Beitrag provoziert abschließend die Frage nach der Grenze zwischen einer fruchtbaren konzeptuell geschärften Aufmerksamkeit und anachronistischer Rückverlagerung. Auch um diese Grenze nicht zu überschreiten, erscheint es im Sinne einer weiterführenden Forschungsperspektive sinnvoll, den Standort des Bandes selbst zu historisieren – als Endpunkt einer über die Fallstudienebene hinaus zu rekonstruierenden langfristigen, vor allem auch nach der ‚Sattelzeit‘ sich abspielenden Genealogie dessen, was heute die moralisch-politische Figur des Zeugen ausmacht. Kategorien wie Objektivität, Betroffenheit oder Trauma müssten hier ebenfalls historisiert werden. Kontexte, besonders institutionelle Rahmenbedingungen – etwa die Unterscheidung zwischen der juristisch formalisierten und der von Foren der Öffentlichkeit legitimierten Zeugenschaft – müssten systematisch berücksichtigt und in ihrer historischen Wechselwirkung analysiert werden. Für die Geschichtswissenschaft anregend sind im vorliegenden Band das Konzept des „social testimony“ sowie die Hinweise auf den Sprachhandlungscharakter (Aufsatz von Oliver R. Scholz) und die rhetorische Dimension der Zeugenschaft (Aufsatz von Ramon Voges). Nicht zuletzt gibt der Band auch den Impuls, die Transmedialität (Bild, Text, Mündlichkeit) der Figur des Zeugen systematischer auszuleuchten.