F. Torma: Turkestan-Expeditionen

Cover
Titel
Turkestan-Expeditionen. Zur Kulturgeschichte deutscher Forschungsreisen nach Mittelasien (1890-1930)


Autor(en)
Torma, Franziska
Reihe
1800 | 2000. Kulturgeschichten der Moderne 5
Anzahl Seiten
282 S.
Preis
34,80 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörn Happel, Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte, Universität Basel, Historisches Seminar

„In der Geschichtswissenschaft gilt noch immer ‚Ex oriente lux‘; aber wir Deutsche müssen alle Kräfte anspannen, um uns den gebührenden Platz auch an dieser Sonne zu sichern.“ Adolf von Harnack empfahl als Präsident der 1911 gegründeten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, eine neue Expedition – und zwar sofort – nach Turkestan zu entsenden, um die Weltgeltung des Deutschen Reiches zu beweisen. Im politischen Klima des Hochimperialismus war ein Konkurrenzkampf um Ausgrabungsstätten entbrannt. Die nach Turkestan geschickten deutschen Wissenschaftler erfüllten vor und nach dem Ersten Weltkrieg diese hehre Aufgabe. Die Berichte über ihre Expeditionen waren damals Bestseller – und faszinieren noch heute. Franziska Torma hat in ihrer Münchner Dissertation diese Reiseberichte wieder ausgegraben und erzählt eine politische Kulturgeschichte deutscher auswärtiger Politik. In klarer Sprache und mit eindrucksvollen Abbildungen versehen, gewährt Tormas Analyse einen Einblick in die Tätigkeit des Auswärtigen Amts zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik. Zudem zeigt sie die beinahe mystische Verehrung Turkestans, das für die deutschen Wissenschaftler und Politiker zu einem Traumziel wurde, zumal mit dem Versailler Vertrag die deutschen Kolonien in Afrika und Übersee weggefallen waren.

Bei „Turkestan-Expeditionen“ handelt es sich um ein sehr gründlich recherchiertes Buch, dessen Titel aber vielleicht etwas ungenau ist, denn nur eine einzige Expedition wird wirklich ausführlich besprochen: die deutsch-sowjetische in die Pamir-Region 1928. Ansonsten erzählt Franziska Torma eine Geschichte der auswärtigen Politik und der in ihr tätigen Männer. Ihr „Reiseleiter“ Willi Rickmer Rickmers ist dementsprechend weniger zentral, als Torma es angekündigt hatte. Es ist zwar schade, dass andere Expeditionen nicht genauso eingehend wie die von 1928 beschrieben werden, dafür aber überzeugt das Buch mit der Beschreibung des deutschen Turkestan-Diskurses. In sechs Kapiteln erzählt Franziska Torma nämlich die deutsche wissenschaftliche Entdeckung, Eroberung und Kartierung Turkestans, jener zu Russland und später zur Sowjetunion gehörenden Region, in der heute die zentralasiatischen Republiken Kasachstan, Kirgistan, Turkmenistan, Tadschikistan und Usbekistan liegen. In einem methodisch-theoretischen Ausblick fragt Torma nach der Bedeutung der Turkestan-Reisen für eine deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. Ihr 19. Jahrhundert endet nicht im Jahr der Entdeckung des Südpols 1911, wie es Jürgen Osterhammel jüngst vorgeschlagen hat, sondern mit der Rückkehr der letzten deutschen Turkestan-Expedition 1928 und der Veröffentlichung ihrer Ergebnisse um das Jahr 1930.1

Die Faszination für Turkestan, diesen „weißen Flecken“, war in Europa um 1900 mit der „Erfindung“ des Bergsteigens verbunden. Die Entdeckungsreisen verhießen eine Rückkehr in die noch nicht entweihte Natur; sie kamen einer Entschleunigung des immer schneller werdenden europäischen Lebens gleich, boten allerhand Zeitvertreib während des Reisens und ließen nostalgisch von der Vergangenheit schwärmen. In Turkestan waren es dann vor allem englische, französische und deutsche Expeditionen, die archäologische Studien betrieben und Schätze ausgruben – so viele, dass man teilweise nicht wusste, wo man sie noch in Europa ausstellen sollte. Zwar herrschten zwischen den nationalstaatlichen Expeditionen Rivalitäten, doch verband die Europäer auch ein Prinzip der kooperativen Solidarität, schließlich bildete man ein Gelehrtennetzwerk. Alles Streben galt der Entdeckung von Vergangenheit: „Die Ruinenfelder ließen Geschichte zu einem betretbaren Raum werden“ (S. 107).

Angeführt von „Amateurorientalisten wie Kaiser Wilhelm II.“ (S. 123) veränderte sich die Asienpolitik des Deutschen Reichs im Zuge des Ersten Weltkriegs. Die Wissenschaftler kämpften nun auf ihre Art für Deutschland. Franziska Torma legt in ihrem vierten Kapitel den Schwerpunkt auf die Orientpolitik des Auswärtigen Amts in Berlin. Sie zeigt, wie die deutschen Stellen jeden mit Aufmerksamkeit bedachten, der versprach, Russland zu schwächen und den deutschen Einfluss in Zentralasien zu stärken.2 Neben der Spionage standen ökonomische Absichten hinter dem deutschen Einsatz in Turkestan. Diese Wirtschaftsinteressen, so vor allem hinsichtlich der Baumwolle und einer Beteiligung an großen Bauprojekten (Eisenbahnen), überdauerten den Krieg und die russische Revolution von 1917 und waren zentral für die deutsche Außenpolitik der Weimarer Republik. Wiederum tauchten nun auch Besiedlungspläne der Region durch Deutsche auf.

Besonders gelungen ist die Beschreibung der Expedition von 1928. Am 16. November 1928 war die deutsch-sowjetische Alai-Pamir-Expedition in Moskau angekommen. Viele Monate hatten die Wissenschaftler und alpinistischen Sportsleute gemeinsam verbracht, ihre Messungen und Untersuchungen durchgeführt. Sie gaben sich Spitznamen, lernten die in Zentralasien lebenden Ethnien kennen, sprachen mit den sowjetischen Kollegen (zumeist auf Deutsch oder in radebrechendem Englisch) und waren von der Schönheit und Unerschlossenheit des Pamir fasziniert. Turkestan hatte die Wissenschaftler in seinen Bann gezogen. Sie waren Abenteurer, ganz nach dem Geschmack der Zeit. Das Wilde, Unerforschte war es, wohin die Angehörigen einer vermeintlich höher stehenden europäischen Zivilisation aufzubrechen hatten. Die Geheimnisse der Fremde galt es zu erforschen, Gefahren und Strapazen zu erleben. Die Pamir-Expedition von 1928 war ein politisches und wissenschaftliches Großprojekt der Weimarer Republik. Staatliches und privates Geld hatte der Expeditionsleiter Willi Rickmer Rickmers dafür aufgetrieben und die deutsche Auswärtige Politik half mit der Vermittlung einer deutsch-sowjetischen Partnerschaft. Leider wird außer über das von den Deutschen in Leningrad und Moskau zu absolvierende Kulturprogramm (im Grunde sowjetische Propaganda, S. 185-188) von Franziska Torma dann aber wenig darüber gesagt, wie sich die sowjetischen Wissenschaftler mit ihren deutschen Kollegen verstanden; russischsprachige Quellen wurden nicht berücksichtigt. Im Zentrum steht bei Torma die deutsche Seite, doch die Kontaktebene wäre zweifelsohne einige größere Abschnitte wert gewesen. Dafür erfährt man jedoch einiges über die Beziehungen der Europäer zu den Zentralasiaten, etwa wenn Helfer vor Ort benötigt wurden.

Franziska Torma ist ein spannend geschriebenes Buch gelungen. Sie bettet ihre Geschichte der Expeditionen in die Diskussionen über die Suche nach den utopischen Orten des Kaiserreichs, vor allem aber der Weimarer Republik ein. Turkestan sei als Ort und Topos in der Weimarer Zeit einer dieser Orte gewesen. Angesichts des Stellenwerts der Expeditionen für deutsche Politiker und für das interessierte Publikum sowie der den Wissenschaftlern entgegengebrachten Anerkennung kann Torma hier wohl nicht widersprochen werden.

Anmerkungen:
1 Vgl. Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, 2. Aufl., München 2009.
2 Ergänzend zu Franziska Torma vgl. Sören Urbansky, Kolonialer Wettstreit. Russland, China, Japan und die Ostchinesische Eisenbahn, Frankfurt am Main 2008; Salvador Oberhaus, „Zum wilden Aufstande entflammen“. Die deutsche Propagandastrategie für den Orient im Ersten Weltkrieg am Beispiel Ägypten, Saarbrücken 2007; Helmut Burmeister, Der geheimnisvolle Tod des Werner Rabe von Pappenheim. Der Liebenauer Baron und sein Schicksal in China, in: ders. / Veronika Jäger (Hrsg.), China 1900. Der Boxeraufstand, der Maler Theodor Rocholl und das „alte China“, Hofgeismar 2000, S. 109-126.

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