C. Joost-Gaugier: Pythagoras and Renaissance Europe

Cover
Titel
Pythagoras and Renaissance Europe. Finding Heaven


Autor(en)
Joost-Gaugier, Christiane L.
Erschienen
Anzahl Seiten
334 S.
Preis
€ 67,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Gordian, Warburg Institute London

Joost-Gaugier könnte zu Recht von sich behaupten, eine lacuna in der modernen Kulturgeschichtsschreibung gefunden zu haben. In der Forschung ist der große griechische Philosoph Pythagoras – heute vor allem als Namensgeber des berühmten Satzes der euklidischen Geometrie bekannt – in einer kaum zu überblickenden Flut an Publikationen behandelt worden. Die Rezeption des Pythagoras wurde dagegen bisher kaum untersucht. Genau an diesem Punkt setzt Joost-Gaugier an: „This volume will examine the critical fortune of Pythagoras and the ideas attributed to him by those who admired him in the Renaissance“ (S. 1). Pythagoras wurde in der Renaissance nicht nur mit mathematischen oder geometrischen Theoremen, sondern vor allem mit metaphysisch-theologischen und moralphilosophischen Konzepten und Doktrinen in Verbindung gebracht. Diese Forschungslücke zu schließen, ist Joost-Gaugier auch teilweise gelungen. Allerdings führt sie mit „Finding Heaven“ ein Programm fort, welches sie bereits in ihrer vorangegangenen Monographie zur Pythagoras-Rezeption in der Antike und im Mittelalter begann1 – leider wieder mit einer methodologisch selten überzeugenden Analyse, in welcher die pythagoräischen ‚Ideen’ in den Werken der Epoche zu unspezifisch bleiben.

Der erste der insgesamt drei Abschnitte behandelt das Pythagoras-Bild der Renaissance, wobei dem Leser ein weites Panorama des ‚Who-is-Who’ der Gelehrten der Epoche eröffnet wird. Joost-Gaugier zeigt, dass Pythagoras, aus dessen Feder kein einziger Text überliefert worden war, fast allen bedeutenden Gelehrten und Humanisten der Renaissance vertraut war und diese seine Weisheit und Tugend in höchsten Tönen priesen. Sich von der Figur des Pythagoras lösend, wendet sich das zweite Kapitel in einem breiteren Blickwinkel dem Einfluss der unter anderem von spätantiken Denkern beeinflussten pythagoräischen Lehre auf Renaissance-Gelehrte zu. Dabei wird der Leser durch die von der Autorin als Katalysatoren eines spezifischen Renaissance-Pythagoranismus ausgewiesenen urbanen Zentren wie Florenz, Mantua, Venedig und Rom navigiert, um dann insbesondere in gut ausgearbeiteten Abschnitten zu Agrippa von Nettesheim, Johannes Reuchlin, Nikolaus Kopernikus oder Johannes Kepler auch den Sprung nördlich der Alpen zu wagen. Ein Blick jenseits der italienischen Peninsula wäre dabei insgesamt – vor allem wenn man den Titel des Buches genau nimmt – öfters wünschenswert gewesen. Es fällt zudem auf, dass der arabische Kulturraum im gesamten Buch im Zusammenhang mit den vielfältigen Rezeptionswegen pythagoräischer Literatur kein einziges Mal Beachtung findet.

Die Autorin vermag aber die im Untergrund des italienischen Neo-Platonismus verborgene, gewissermaßen latente Ebene der pythagoräischen Lehre aufzudecken und damit einen interessanten Beitrag zum Verständnis eines zentralen Kapitels der Geistesgeschichte der Renaissance zu liefern. Zu betonen bleibt zudem die reichhaltige Quellendarstellung und vor allem die konsequent interdisziplinäre Herangehensweise in den beiden ersten Hauptabschnitten, welche der Wirkungsbreite und Vielschichtigkeit des pythagoräischem Gedankenguts gerecht werden. Entsprechend beschränkt Joost-Gaugier ihren Fokus nicht etwa auf die Bereiche Philosophie und Theologie, sondern widmet sich mit gleicher Aufmerksamkeit der Mathematik, Musiktheorie und schließlich auch der Kunst- und Architekturtheorie.

Im dritten Teil versucht die Autorin, den bedeutenden Einfluss von Pythagoras im Bereich der bildenden Kunst und Architektur der Epoche zu belegen. Nach einem aufschlussreichen einleitenden Abschnitt zur zeitgenössischen Ikonographie der Figur des Pythagoras wird eine Reihe herausragender Meisterwerke der Renaissance anhand einer nicht überzeugenden Analyse als pythagoräisch identifiziert. Sowohl Kompositionsschemata von Gemälden als auch Gebäudegrundrisse oder Säulenanordnungen werden hierbei als eindeutige Belege für ein angeblich pythagoräisch durchzogenes Kunstschaffen und -empfinden jener Zeit angeführt. Diese Analyse der Kunstwerke und architektonischen Grundrisse wäre überzeugender, würde sie durch Textstellen untermauert, welche einen Einfluss von pythagoräischem Gedankengut auf das Kunstschaffen klar belegen und eine bewusste Rezeption seitens der Künstler und Architekten bestätigen könnten. Doch neben der mangelnden Quellenbasis wird vor allem der postulierte universelle Charakter des Pythagoranismus schließlich zum methodologischen Verhängnis. Im Abschnitt zu Masaccio, dessen nüchterne und schmucklose Wiedergabe menschlicher Figuren als pythagoräisch identifiziert wird, lautet das abschließende Argument: „In the next decade, the Chancellor of Florence, Poggio Bracciolini would express his admiration for Pythagoras’ social responsibility, humility and simplicity“ (S. 173).

Noch eindeutiger offenbart sich das Problem in der Betrachtung der monumental-schlichten Architektursprache des Escorial: „Pythagoras and his followers had always been associated with simplicity. Pythagoreans in the Renaissance (Bessarion, Ficino, Pico) abstained from luxury and lived their lives with only the barest of necessities“ (S. 238). Der Knackpunkt hier ist das Postulat eines Zeitgeistes, der Raum und Zeit überbrückend – in dem Fall von italienischen Humanisten des Quattrocento zu dem spanischen Bauwerk aus der Mitte des 16. Jahrhunderts – ganz Pythagoras verpflichtet gewesen sein soll. Diese Vorstellung eines einheitlich-kollektiven, genuin pythagoräischen Ideenschatzes und Harmonieempfindens ist jener 'Geist' des hegelianischen Historismus, vor dem zum Beispiel Ernst Gombrich, welcher bezeichnenderweise nicht einmal in der Bibliographie Erwähnung findet, gewarnt hat.2

Joost-Gaugiers faktische Gleichsetzung von klassizisierendem Stilbewusstsein der Renaissance mit einem Streben nach göttlicher Harmonie, welche sich in einer spezifischen pythagoräischen Zahlensymbolik manifestieren soll, hat begrenzten Erkenntniswert. Entsprechend heißt es etwa zu Raphaels Die drei Grazien: „Meanwhile, the young Raphael of Urbino […] demonstrated a different use of Pythagorean ideas in order to achieve an equally compelling, and modern, harmony of order. Not only is the Three Graces, which he painted ca. 1501-2, a composition made up of 3s and 6s (3 heads, 3 torsos, 3 balls, 6 legs, 6 arms), both ‘perfect’ numbers in the Pythagorean vocabulary, but its figures are composed into a circle that is set into a perfect square” (S. 209). Es bleibt dem Leser überlassen, nachzuvollziehen, inwiefern die naturgemäße Anzahl von Armen und Beinen der drei Grazien etwas über ein spezifisch pythagoräisch angelegtes Harmoniestreben aussagt.

Es erstaunt, mit welcher Überzeugung Joost-Gaugier numerische Anordnungen in Architektur und bildender Kunst aufzuspüren glaubt. Es ist in der Tat nicht allzu schwer, in komplexen Renaissancebauten numerische Anordnungen – welcher Art auch immer – zu finden. Vor allem, wenn die Auswahl an bedeutungsschwangeren Zahlen (3, 4, 6, 8, 10, aber auch 16, 28, 36 usw.) so groß ist. Nicht die Bedeutung von Zahlenmystik und -symbolik für die Kultur der Renaissance soll an dieser Stelle in Frage gestellt werden, sondern der Universalismus, in dem das Kunstschaffen der Renaissance und eine genuin pythagoräische Gesinnung gleichgesetzt werden. Die Herausarbeitung der spezifischen Funktion der pythagoräischen Lehre im Zusammenhang mit den individuellen Rezeptionsprozessen wäre wünschenswert gewesen.

Somit lässt sich zusammenfassen: Während im ersten Teil die bisher zu Unrecht unbeachtete Rezeption von Pythagoras eine umfassende Darstellung erfährt, wird im zweiten Abschnitt bereits stellenweise das verallgemeinernde Postulat eines pythagoräischen Zeitgeistes eingeführt, welches schließlich das letzte Kapitel durchzieht. Es fragt sich, inwiefern es sinnvoll ist, verschiedenste zeitgenössische Figuren „associated with vegetarianism, frugality, and the sharing of earthly good“ (S. 104) wirklich als genuine Pythagoreer zu bezeichnen.

Eingängig dagegen sind nicht nur die insgesamt gute Schreibart und die spürbare Bemühung um eine abwechslungsreiche Darstellung, sondern auch die didaktische Qualität des Textes: Die hilfreichen Zusammenfassungen zentraler Gedanken in sinnvollen Abständen sowie die Einbettung der betrachteten Figuren und ihrer Werke in den kulturhistorischen Kontext machen dieses Buch zu einem empfehlenswerten Einführungswerk zum Studium der italienischen Renaissance. Die guten Abbildungen und zwei Appendices runden die Darstellung ab.

Was ein Standardwerk auf einem bisher vernachlässigten Gebiet hätte werden können, wird so den Status einer umfassenden und interdisziplinären Studie einnehmen, welche aber kritisch gelesen werden muss. Als Referenzwerk zur humanistischen Rezeption von Pythagoras setzt es einen hohen Maßstab. Es bleibt zu hoffen, dass ein mögliches drittes Buch aus der Feder der Autorin – etwa zur Rezeption von Pythagoras im 17. Jahrhundert – methodologisch überzeugender wird und auf aussagekräftigeren Grundlagen aufbaut. Genug Quellenmaterial gäbe es im Übrigen auch für diese Epoche.

Anmerkungen:
1 Christiane Joost-Gaugier, Measuring heaven. Pythagoras and his Influence on Thought and Art in Antiquity and the Middle Ages, Ithaca/NY 2006.
2 Siehe z.B Ernst Gombrich, From the Revival of Letters to the Reform of the Arts. Niccolò Niccoli and Filippo Brunelleschi, in: ders., The Heritage of Apelles. Studies in the Art of the Renaissance, London 1976, S. 93-110.

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