Cover
Titel
Der Schatz der Kanonissen. Heilige und Reliquien im Frauenstift Gandersheim


Autor(en)
Popp, Christian
Reihe
Studien zum Frauenstift Gandersheim und seinen Eigenklöstern 3
Erschienen
Regensburg 2010: Schnell & Steiner
Anzahl Seiten
231 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tillmann Lohse, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Forschung zu den mittelalterlichen Reliquienschätzen ist in den letzten Jahren mit großen Schritten zu neuen Ufern aufgebrochen. So hat etwa Lucas Burkart jüngst dafür plädiert, „Schatz(bildung)“ als ein „kulturelles Konzept“ aufzufassen, das von den mittelalterlichen Protagonisten mittels spezifischer Diskurse und Praktiken (zum Beispiel Akkumulieren, Tauschen, Verzeichnen) im Spannungsfeld von „materialisierte[r] Imagination“ und „imaginierte[r] Materialität“ verhandelt wurde.1 Und Birgit Heilmann hat anhand der Gandersheimer Reliquien den Nachweis zu führen versucht, dass die infolge der Reformation liturgisch entfunktionalisierten und nach dem Verkauf der kostbaren Reliquiare zudem materiell wertlos gewordenen Heiltümer den Stiftsmitgliedern bis ins 18. Jahrhundert als „identitätsstiftende Symbole“ wichtige Dienste leisteten.2 Im Vergleich dazu verfolgt Christian Popp deutlich bescheidenere Ziele; er möchte sich mit einer „systematische[n] Bestandsaufnahme, Analyse und Interpretation des [Gandersheimer] Reliquienschatzes und […] Heiligenhimmels“ begnügen (S. 10).

Die systematische Bestandsaufnahme wird dem Leser in zwei Schritten kredenzt. Am Beginn des Bandes steht ein konziser Überblick über die zur Verfügung stehenden Quellen, die sich in drei Gruppen teilen lassen: (1.) die materielle Überlieferung, die aus mehr als 200, meist noch originalverpackten Reliquienpartikeln besteht; (2.) die Reliquien- und Schatzverzeichnisse, von denen allerdings nur zwei aus mittelalterlicher Zeit stammen und anscheinend keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben; sowie (3.) die liturgischen Handschriften, unter denen sich zwei Abschriften des 16. Jahrhunderts als besonders ergiebig erweisen: das ‚Registrum chori ecclesie maioris Gandersemensis‘ und das sogenannte ‚Jüngere Necrolog‘ (S. 13–21). Am Ende der Abhandlung findet man eine umfangreiche Tabelle, in der die 143 im mittelalterlichen Gandersheim nachweislich verehrten Heiligen(-paare) mitsamt ihrem schriftlich oder materialiter belegten Reliquienbestand, ihren Patrozinien, Festtagsliturgien und weiteren Belegen verzeichnet sind (S. 142–157).

Bei seiner Analyse und Interpretation des Gandersheimer Reliquienschatzes kombiniert Popp im Wesentlichen zwei methodische Zugriffe. Zum einen versucht er, die Translation einzelner Reliquien(-gruppen) anhand der äußeren Merkmale der jeweiligen Verpackung (Stoffe, aber auch Holz und Blei) und Beschriftung näherungsweise zu datieren, um sie dann in einem zweiten Schritt historisch zu kontextualisieren. Zum anderen bemüht er sich vor allem für diejenigen Heiligen, „die hinsichtlich der Reliquienverbreitung, des Patrozinienvorkommens und der liturgischen Verehrung von signifikanter Seltenheit sind“, durch eine „Analyse der Verehrungsgeschichte“ den „Kultweg“ nach und von Gandersheim aus zu rekonstruieren (S. 130). Das zweite Verfahren führt freilich nur selten zu greifbaren Resultaten (vgl. zum Beispiel S. 82–88: Kult der hl. Regina). Meist kommt man auf diesem Wege über vage Vermutungen nicht hinaus, wobei der Verfasser selbst einräumt, dass „einige aussichtsreich erscheinende Recherchen […] ins Leere [liefen], da möglicherweise die Quellen, die den Kultweg […] erschließen könnten, unwiederbringlich verloren sind“ (S. 138). Als vielversprechender erweist sich somit der erste Ansatz, dem auch Popps spektakulärste Entdeckung zu verdanken ist: Gestützt auf ein unveröffentlichtes Gutachten der Textilhistorikerin Annemarie Stauffer (Köln) und den paläografischen Befund der teils noch vorhandenen Authentiken kann er plausibel machen, dass man bei der Neuweihe der Gandersheimer Stiftskirche im Jahr 1007 mehr als 100 in byzantinische Seide eingewickelte Reliquienpartikel im Sepulcrum des Hauptaltars deponierte, von denen diejenigen des hl. Adalbert und des hl. Alexius vielleicht auf Betreiben Heinrichs II. von Erzbischof Tagino aus Magdeburg, diejenigen des hl. Marianus mit Sicherheit von Bischof Bernhar II. aus Verden mitgebracht wurden (vgl. S. 67–92).

Insgesamt kommt Popp mit seinen Hypothesenbildungen zur Kultgeschichte einzelner Heiliger in Gandersheim immer wieder ein gutes Stück über die „erste[n] vorläufige[n] Beobachtungen“ von Hedwig Röckelein aus dem Jahr 2006 hinaus.3 Weil er sich aber nicht auf eine übergreifende Problemstellung festlegen mag, sondern dem Material mal in diese, mal in jene Richtung folgt, ergeben die präsentierten Ergebnisse in der Summe weder ein Gesamtbild, noch lassen sie sich zu einer über den Einzelfall hinausweisenden These verdichten. Das erklärt vielleicht das Fehlen einer Zusammenfassung und lässt die konzeptionellen Leerstellen des Buches umso deutlicher hervortreten. Während Popp mit großem Aufwand dem „religiös-kulturelle[n], soziale[n] und politische[n] Beziehungsnetz“ (S. 126) nachspürt, das die Gandersheimer Kanonissen und Kanoniker im Medium der Reliquienverehrung mit ihrer Umwelt knüpften, bleiben die innerstiftischen Initiativen zur Förderung des Heiligenkults schmerzlich unterbelichtet. Zwar findet man in einer tabellarischen Übersicht rund fünfzig Stiftungen verzeichnet, die Angehörige der Kommunität im 14. und 15. Jahrhundert zur feierlichen Begehung bestimmter Heiligenfeste errichtet haben. Die Würdigung dieser keineswegs randständigen Bemühungen der mittelalterlichen Akteure fällt aber allzu oberflächlich aus (vgl. S. 120–125, 139; siehe auch S. 110f. zu den Altarstiftungen). Selbst in den – anscheinend seltenen – Fällen, in denen die Stiftungsurkunden noch erhalten sind, erfährt man kaum etwas über die Motive, Auflagen und materiellen Investitionen der jeweiligen Stifter.4

Besonders verdienstvoll ist hingegen die im Anhang vorgelegte editio princeps des erwähnten ‚Registrum chori‘ (S. 159–199), die Hans Goetting bereits 1973 geplant, aber nie angefertigt hatte.5 Bei diesem Chorbuch handelt es sich um einen mit ausgiebigen Rubriken versehenen und deshalb nicht nur für Liturgiehistoriker wertvollen Liber Ordinarius. Die einzige erhaltene, nicht ganz vollständige Abschrift (Staatsarchiv Wolfenbüttel, VII B Hs 48) beruht nach eigenen Angaben auf einem „antiqu[um] registr[um]“ von 1438, das aber seinerseits auf ältere Vorlagen zurückgehen dürfte. Bedauerlicherweise hat Popp weder die Textgeschichte des ‚Registrum Chori‘ eingehender untersucht, noch dessen Struktur mit derjenigen des ‚Ordinarius canonicorum ecclesie Assindensis‘ verglichen, dem einzigen Liber Ordinarius aus einem Kanonissenstift, der bislang im Druck vorlag.6 Unverständlich bleibt, warum die in derselben Handschrift befindliche, „inhaltlich nahezu identisch[e]“ Parallelüberlieferung für den Zeitraum vom 1. Januar bis zum 27. April keinen Eingang in den Variantenapparat gefunden hat (S. 159). Zudem weicht die Textausgabe in manchem von den Editionsgrundsätzen ab, die sich aus guten Gründen bei Liber-Ordinarius-Editionen 7 eingebürgert haben: Für die Identifikation der gregorianischen Gesänge wird nur pauschal auf die einschlägige Sammlung von Hesbert verwiesen (S. 159), diejenige der Gebete bleibt dem Leser vollends selbst überlassen 8; vor allem fehlt ein gerade für vergleichende Forschungen unverzichtbarer Initien-, Orts- und Sachindex.

Abgerundet wird der gesamte Band nicht nur durch ein zuverlässiges Personen- und Ortsregister, sondern auch durch 44 hervorragende Farbabbildungen. Beeindruckend sind vor allem die zahlreichen Aufnahmen der erhaltenen Reliquienpäckchen, die so kunstvoll in Szene gesetzt wurden, dass sie den Vergleich mit goldglänzenden Pretiosen kaum zu scheuen brauchen.9

Anmerkungen:
1 Lucas Burkart, Das Blut der Märtyrer. Genese, Bedeutung und Funktion mittelalterlicher Schätze, Köln u.a. 2009, hier S. 20 u. 388.
2 Birgit Heilmann, Aus Heiltum wird Geschichte. Der Gandersheimer Kirchenschatz in nachreformatorischer Zeit, Regensburg 2009, hier S. 116.
3 Hedwig Röckelein, Gandersheimer Reliquienschätze – erste vorläufige Beobachtungen, in: Martin Hoernes / Hedwig Röckelein (Hrgs.), Gandersheim und Essen. Vergleichende Untersuchungen zu sächsischen Frauenstiften, Essen 2006, S. 33–80. Vgl. auch dies., 1 alter hölzerner Kasten voller Reliquien als alten schmutzigen Zeugflicken jeder Farbe und alte Knochen. Über unansehnliche und verborgene Reliquienschätze des Mittelalters, in: Sabine Arend u.a. (Hrsg.), Vielfalt und Aktualität des Mittelalters. Festschrift für Wolfgang Petke zum 65. Geburtstag, Bielefeld 2006, S. 383–402.
4 Am meisten noch über Hermann von Dankelsheim und seine Bemühungen um den Kult des hl. Livinus; vgl. S. 35, 139–141. Die Stiftungen des Seniors Heinrich Coci werden nur unvollständig besprochen (vgl. S. 50, Anm. 189; S. 111, Anm. 466; S. 121, Anm. 524; S. 122, Anm. 525), das Engagement der Dekanin Katharina von Hohnstein überhaupt nicht (vgl. S. 125, Anm. 529).
5 Hans Goetting (Bearb.), Das Bistum Hildesheim, Bd. 1: Das reichsunmittelbare Kanonissenstift Gandersheim, Berlin u.a. 1973, S. 243.
6 Franz Arens, Der Liber ordinarius der Essener Stiftskirche. Mit Einleitung, Erläuterungen und einem Plan der Stiftskirche und ihrer Umgebung im 14. Jahrhundert, Paderborn 1908.
7 Vgl. die Nachweise bei Jürgen Bärsch, Liber ordinarius – Zur Bedeutung eines liturgischen Buchtyps für die Erforschung des Mittelalters, in: Archa Verbi 2 (2005), S. 9–58.
8 Hierzu: Edmond Eugène Moeller u.a. (Hrsg.), Corpus orationum (bislang 12 Bände), Turnhout 1992ff.
9 In den qualitativ schlechteren Fotos bei Röckelein, Reliquienschätze (wie Anm. 3), Abb. 10f. u. 13–15, erhellen Maßbänder die Größenverhältnisse.

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