Cover
Titel
Der Agent. Mein Leben in drei Geheimdiensten


Autor(en)
Stiller, Werner
Erschienen
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Armin Wagner, Bundespräsidialamt

Beim „Duell im Dunkeln“ der ost- und westdeutschen Nachrichtendienste während des Kalten Krieges hatte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) die Nase vorn. Den Vorsprung von Mielkes Leuten garantierten nicht allein die westdeutschen Zuträger des MfS und die in die Bundesrepublik eingeschleusten Stasi-Agenten. Großen Anteil daran besaßen zum Beispiel die intensive Funkaufklärung des MfS oder dessen erfolgreiche Abwehrarbeit gegen westliche Dienste in der DDR. Dennoch konnte die Forschung in den letzten beiden Jahrzehnten ein zunehmend differenziertes Bild der Erfolgsgeschichte des MfS zeichnen. Neben strukturellen Unzulänglichkeiten des nachrichtendienstlichen Apparates ist besonders die begrenzte Aufnahme wie Verwertung von Ergebnissen der politischen und der Wirtschaftsspionage in der SED-Führungsriege und in der DDR-Planwirtschaft deutlich geworden. Durch den Zugang zu personen- und fallbezogenen Daten der DDR-Spionage in den „Rosenholz“- und „SIRA“-Dateien musste das MfS letztlich sogar einen tiefgreifenden öffentlichen Einbruch in seine innersten Betriebsgeheimnisse hinnehmen – wenngleich erst Jahre nach dem eigenen Untergang.

Zu den großen zeitgenössischen Niederlagen des MfS zählt ohne Zweifel der Übertritt von Werner Stiller, Mitarbeiter im „Sektor Wissenschaft und Technik“ der MfS-Hauptverwaltung Aufklärung (HVA). Es waren nicht einmal vorrangig seine konkreten Angaben zu einer Reihe von DDR-Spionen in der Bundesrepublik und in Österreich sowie die ausgeplauderten Erkenntnisse über Struktur und Innenleben der HVA, die den Seitenwechsel des Oberleutnants in der Nacht vom 18. auf den 19. Januar 1979 für das MfS so brisant machten. Viel nachhaltiger wirkend erzeugte seine Flucht eine tiefgreifende Verunsicherung in der Staatssicherheit. Der studierte Physiker Stiller stand nach Herkunft und Bildung beispielhaft für jene in der DDR sozialisierten homi novi, die das MfS im Zuge seiner Expansion und seiner Professionalisierung in den 1970er-Jahren an sich band und deren Loyalität scheinbar außer Frage stand. Mit dem Verrat Stillers wurde dieses Vertrauen in die eigenen Kader auf dramatische Weise unterminiert. Der Bundesnachrichtendienst (BND) trug dazu seinen Teil bei, indem er den Überläufer motivierte, seine Geschichte in einem Buch niederzuschreiben, das 1986 erschien und inzwischen als Klassiker des Genres gilt: „Im Zentrum der Spionage“ erweckte den Eindruck, Stiller hätte schon mehrere Jahre vor seinem Übertritt für den BND spioniert. Das Buch überzeugte durch die dichte, glaubhafte Beschreibung der Atmosphäre in der HVA. Einen solchen authentischen Einblick in das Innere des Spionageapparates von Markus Wolf hatte die Öffentlichkeit nie zuvor erhalten. Diese sachlich zutreffende Schilderung macht bis heute den Quellenwert von Stillers erstem Buch aus.1

Ein Vierteljahrhundert danach legt der ehemalige Geheimdienstoffizier, der sein Geld im Westen als Bankier und Geschäftsmann verdient hat, nach: In „Der Agent“ erzählt er jedoch mitnichten sein „Leben in drei Geheimdiensten“, wie es im Untertitel heißt. Denn nach seinem Übertritt wurde er zwar vom BND und der amerikanischen CIA betreut, geschützt und intensiven Debriefings unterzogen, aber Insiderkenntnisse dieser Dienste blieben ihm verwehrt. Ab 1981 studierte er mit neuer Identität als „Klaus-Peter Fischer“ in St. Louis/Missouri Business Administration. In den folgenden Jahrzehnten gelang ihm ein bemerkenswerter Aufstieg in der Welt der Großbanken, unter anderem bei Goldman Sachs und bei Lehmann Brothers, dem ein ebenso bemerkenswerter Abstieg und wiederholte Neubeginne folgten, mit Stationen in New York, in London, in Frankfurt am Main, schließlich in Budapest. Dieser Teil, das letzte Viertel des Buches, bietet eine Art Lebensbilanz zwischen Erfolg und Scheitern, jedoch ohne großen Erkenntnisgewinn für die historische Geheimdienstforschung.

In seinem zweiten Buch schildert Stiller aber auch, seit wann er wirklich im Kontakt mit dem BND stand – nämlich nicht seit April 1976, wie „Im Zentrum der Spionage“ suggeriert wird, sondern erst seit Juli 1978 –, und er beschreibt Details des Seitenwechsels in den Westen. Das Buch erreicht hier über längere Passagen die Intensität und die Spannung des Vorgängerbandes. Ergänzend werden Aktenauszüge des MfS abgedruckt, die Auskunft darüber geben, wie die Stasi ihm und seiner Geliebten Helga Michnowski auf die Spur kam. Stillers Flucht von Ost- nach West-Berlin und die Ausschleusung seiner Geliebten und ihres Sohnes aus Warschau gelang nur, weil das Paar Risikobereitschaft mit größtmöglicher Vorsicht verband, Wagemut mit guter Planung, und weil Stiller über Systemkenntnisse aus erster Hand verfügte. Und weil ein Übermaß an Glück hinzukam. Das MfS war dem Paar dicht auf den Fersen, reagierte aber – behindert durch den „Katastrophenwinter“ 1978/79 – einen Tick zu langsam.

Kein gutes Haar lässt Stiller an der operativen Arbeit des BND, die er im Vorgängerband noch gelobt hatte. Die handwerklichen Fehler Pullachs waren in der Tat haarsträubend und sind nur erklärbar durch eine Mischung aus erstarrter Routine, mangelnden Detailkenntnissen und einer groben Unterschätzung der peniblen Arbeit des MfS. Es entzog sich wohl Pullachs kühnsten Vorstellungen, dass in einem „Briefkasten“ in der freien Natur deponierte vorgefertigte Briefe, die dann von Stiller versandt wurden, muffig-erdig rochen und dadurch der Stasi-Postkontrolle auffielen. Behandlung und Schutz durch BND und CIA nach der Flucht würdigt er hingegen. Weiß man um die Unnachgiebigkeit, mit denen das MfS über viele Jahre nach anderen DDR-Flüchtigen im Westen gesucht hat, bleibt es auch in der Rückschau verwunderlich, dass der Überläufer nicht entdeckt wurde.

Werner Stiller ist stets ein Abenteurer geblieben, clever, aber alles andere als ein Intellektueller oder ein politischer Kopf; ein hedonistisch veranlagter, den Frauen zugeneigter Mann auf der beständigen Suche nach dem persönlichen Vorteil.2 So couragiert er bei seinem Übertritt gehandelt hat, so wenig taugt er als Sympathieträger. Seine Familie in der DDR hat er unvorbereitet im Stich gelassen, moralisch sicherlich der wundeste Punkt in seinem Leben. Für ehemalige Vorgesetzte im MfS ist er, fast müßig es zu erwähnen, ein Verräter. Die Spione, deren Identitäten von Stiller den westlichen Diensten offenbart wurden, erlitten im Einzelfall ein trauriges Schicksal, bezeichnenderweise allerdings nicht im Westen, sondern nachdem sie sich rechtzeitig in die DDR abgesetzt hatten, wo sie mit den Dingen des Lebens nicht klarkamen. Die eigentlichen Opfer waren deren ahnungslose Kinder – Opfer zuallererst nicht von Stillers Seitenwechsel, sondern der Spionagetätigkeit ihrer Väter.3 Selbst verraten zu werden, blieb Berufsrisiko in einem Gewerbe, das Werner Stiller weniger aufgrund politischer Weltanschauung als vielmehr nach persönlichem Temperament, Charakter und Karrierestreben wählte. Nicht der Mensch Stiller, wohl aber der „Fall Stiller“ behält Bedeutung für eine als Verflechtungsgeschichte gelesene Historiographie deutscher Nachrichtendienste im Kalten Krieg.

Anmerkungen:
1 Vgl. Werner Stiller, Im Zentrum der Spionage. Mainz, 1. - 5. Aufl. 1986. Eine quellenkritische Analyse dieses Buches unternimmt Stephan Konopatzky, Werner Stiller: „Im Zentrum der Spionage“. Eine authentische Innenansicht der Hauptverwaltung Aufklärung, in: Horch und Guck H. 45 (2004), S. 81f., sowie ders., Möglichkeiten und Grenzen der SIRA-Datenbanken, in: Georg Herbstritt / Helmut Müller-Enbergs (Hrsg.), Das Gesicht dem Westen zu… DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland, Bremen 2003, S. 112-132, hier S. 126-130.
2 Vgl. dazu auch das kurze, aber treffende Bildnis von Nicole Glocke, Werner Stiller – Versuch eines Porträts, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat Nr. 11 (2002), S. 102-109.
3 Vgl. Thomas Raufeisen, Der Tag, an dem Vater uns erzählte, dass er ein DDR-Spion sei. Eine deutsche Tragödie, Freiburg 2010, und die hinsichtlich ihrer Schlussfolgerungen über Werner Stiller vom Rezensenten nicht geteilte Besprechung zu diesem Buch von Helmut Müller-Enbergs: Rezension zu: Raufeisen, Thomas: Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei. Eine deutsche Tragödie. Freiburg 2010, in: H-Soz-u-Kult, 07.12.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-4-170>.

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