AG gegen Rassismus (Hrsg.): Gemachte Differenz

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Titel
Gemachte Differenz. Kontinuitäten biologischer „Rasse“-Konzepte


Herausgeber
AG gegen Rassismus in den Lebenswissenschaften
Erschienen
Münster 2009: Unrast Verlag
Anzahl Seiten
376 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Pascal Germann, Universität Zürich

Wer sich einen Überblick über die umfangreiche Literatur zur Geschichte der Rassenforschung verschafft, wird schnell eine grobe Periodisierung feststellen. Rassenforschung gehört ins 19. und in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die einschlägigen Monographien betonen zwar auch Kontinuitäten nach 1945. Bei den dabei erwähnten Akteuren handelt es sich aber grosso modo entweder um alternde Professoren, die ihre Forschungsprogramme unbeirrt fortsetzten, oder aber um unverbesserliche Rassenideologen, die ihre politischen Motive nur unzureichend hinter Objektivitätsbeschwörungen zu verdecken vermochten. Man erhält den Eindruck eines Rückzugsgefechts von wissenschaftlich verbrämten Rassisten, denen zwar regelmäßig ein öffentlichkeitswirksamer Coup gelang, die in den Wissenschaften aber zunehmend auf breite Ablehnung stießen. Ab den 1970er-Jahren festigte sich unter den namhaften Populationsgenetikern und Anthropologen ein Konsens, der darin bestand, dem Rassenkonzept jegliche biologische Bedeutung und mithin jeglichen Forschungsnutzen abzusprechen.

Weitgehend unbeachtet von der bisherigen Historiographie zur Rassenforschung blieb aber ein gegenläufiger Trend in den aktuellen Biowissenschaften: Seit den 1990er-Jahren wird in der genetischen und biomedizinischen Forschung wieder vermehrt und teilweise ganz selbstverständlich auf Rassenkategorien zurückgegriffen, wobei renommierte Forscher auch offen dafür plädieren, das Rassenkonzept wieder in Wissenschaft und Medizin einzuführen. Im englischen Sprachraum löste diese neue Hinwendung zum Rassenkonzept eine breite Debatte aus, an welcher sich sowohl Biologen als auch Soziologen, Anthropologen und Wissenschaftsforscher beteiligen. Mit dem Buch „Gemachte Differenz. Kontinuitäten biologischer ‚Rasse‘-Konzepte“ liegt nun zum ersten Mal ein deutschsprachiger Sammelband vor, dessen Beiträge aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven die Re-Etablierung des Rassenkonzeptes in biowissenschaftlichen Forschungs- und Anwendungsfeldern analysieren, problematisieren und in einen historischen Kontext stellen. Der Sammelband ermöglicht dem Leser einen lohnenswerten Einblick in eine aktuelle Debatte, die bislang – fast ausschließlich – in englischer Sprache geführt wurde, und er bringt diese zugleich mit Rassismusforschungen in Deutschland zusammen.

Beim Herausgeberkollektiv handelt es sich um eine interdisziplinär zusammengesetzte Gruppe aus Studierenden und Promovierenden, die 2006 in Berlin eine Konferenz mit dem Titel „Von der ‚Rasse‘ zur ‚Metapopulation‘ – Zum gegenwärtigen Rassismus in den Lebenswissenschaften“ organisierten. In den Sammelband wurden neben den Vorträgen der Konferenz weitere Beiträge aufgenommen. Die Herausgeber verfolgen einen doppelten Zweck: Einerseits soll der Band die erstaunlichen Kontinuitäten biologischer Rassenkategorien und Differenzkonzepte analysieren und insofern als ein Beitrag zur soziologischen und historischen Wissenschaftsforschung verstanden werden. Andererseits ist er als eine politische Intervention gedacht, die „Raum für Kritiken und emanzipative Gegenentwürfe“ (S. 9) öffnen möchte. Diese Gratwanderung zwischen analytischer und normativer Zielsetzung meistert der Sammelband insgesamt überzeugend, da viele Beiträge vorführen, wie sich fundierte empirische Beschreibungen und kritische Argumente gegenseitig ergänzen und befruchten können.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Unter den Titeln „Überblicke“ und „Einblicke“ widmen sich Beiträge den Verwendungen und Neugestaltungen des Rassenkonzeptes in den heutigen Biowissenschaften. Ein historischer Teil behandelt Entwicklungen des Rassenkonzeptes und der Rassenforschungen im 20. Jahrhundert. Der einleitende Aufsatz von Thomas Brückmann, Franziska Maetzky und Tino Plümecke führt informativ ins Thema ein und entwickelt Perspektiven, die auch für die übrigen Beiträge von Bedeutung sind. Zu schematisch bleibt allerdings der historische Abriss über den wissenschaftlichen Rassismus. Von Carl von Linné über Charles Darwin bis zum Rassismus des 20. Jahrhunderts werden Kontinuitätslinien skizziert, die wesentliche Zäsuren wie die Dynamisierung des Rassenkonzeptes ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, das Aufkommen der Eugenik sowie den neuen politischen Kontext des Imperialismus zu wenig berücksichtigen. Erhellend ist hingegen der gegenwartsbezogene Teil, der einen hilfreichen Überblick über die verschiedenen Forschungs- und Anwendungsfelder bietet, in welchen Rassenkategorien in offener oder kaschierter Form benutzt werden: Dies reicht von populationsgenetischen Großprojekten, über biomedizinische Forschungen bis zum Erstellen von Täterprofilen in der Forensik. Schließlich loten die drei Autoren die Tragweite und die Potentiale verschiedener Formen der Kritik aus, die an den „tot gesagten“, aber erstaunlich persistenten Rassenkonzepten geübt wird. Sie plädieren überzeugend dafür, dass eine sozialkonstruktivistische Sichtweise mit einer „realistischen“ Perspektive verbunden werden müsse, welche etwa die realen Effekte von Rasseneinteilungen auf Gesundheit und Krankheitserwartungen in den Blick nimmt.

Gerade aber bezüglich der festgestellten Gesundheitsunterschiede zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen gibt es Interpretationsspielräume: Sind sie die Folge von sozialen Differenzen und Diskriminierungen? Oder basieren sie auf genetischen Unterschieden? Die Biologin Anne Fausto-Sterling geht in ihrem differenziert argumentierenden Beitrag den entsprechenden Diskussionen in den USA nach, wobei sie eine Hegemonie von genetischen Krankheitsinterpretationen konstatiert. Der Beitrag zeigt Ambivalenzen der aktuellen biomedizinischen Thematisierung von angeblichen Rassendifferenzen. So argumentieren Biomediziner, dass man gegen die Gesundheitsunterschiede zwischen afroamerikanischer und weißer Bevölkerung nur vorgehen könne, wenn man Rasse als wesentliche Variable in der biomedizinischen Forschung verankere. Fausto-Sterling argumentiert indessen, dass der genetische Reduktionismus kein adäquates Mittel darstelle, ethnische Gesundheitsunterschiede zu überwinden. Vielmehr lenke er die Aufmerksamkeit von sozialen Differenzen, Bildungsunterschieden und Diskriminierungserfahrungen ab, die gesundheitsrelevant seien.

Auch Troy Duster argumentiert in seinem Beitrag gegen einen genetischen Reduktionismus. Bei der Kategorisierung von Menschengruppen in der Biomedizin seien das Biologische und das Soziale untrennbar miteinander verbunden. Es sei deshalb aufschlussreich, die „Feedbackmechanismen“ (S. 312) zwischen sozialen Verhältnissen und deren körperlichen Manifestationen zu untersuchen. Dabei dürfe man die Rassenkategorie nicht „lebendig begraben“ (S. 302), sondern ihre Wechselwirkungen mit Funktionen des menschlichen Körpers in den Blick nehmen.

Skeptischer gegenüber dem Versuch, Rassekategorien in kritischer Absicht zu verwenden, äußert sich Susanne Bauer, die in einem sehr lesenswerten Aufsatz den Einsatz von ethnischen und rassischen Kategorien in der Epidemiologie sowie deren politische Implikationen und Auswirkungen untersucht. Sie stellt ein Oszillieren von Differenzkategorien „zwischen biologisierenden und politisch-emanzipatorischen Diskursen“ (S. 297) fest, so dass etwa der Gebrauch von „Rasse“ als sozialer Kategorie „Effekte der Biologisierung“ (S. 298) nach sich ziehen könne.

Etwas quer zu den gegenwartsbezogenen Artikeln steht der historische Teil des Sammelbandes. Während erstere hauptsächlich auf Diskussionen und Forschungen in den USA Bezug nehmen, fokussieren die historischen Beiträge fast ausschließlich den deutschen Kontext, was – entgegen den Intentionen der Herausgeber – den Effekt hat, dass es bisweilen schwer fällt, historische Verbindungslinien zu erkennen. Zudem bleibt die Qualität der historischen Arbeiten leider oft hinter den differenzierten und fundierten Artikeln zur Gegenwart zurück. So reduziert Kerstin Palm in ihrem Beitrag über den biologischen Rassenbegriff nach 1945 die komplexen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen auf eine zu einfache Gegenüberstellung von Befürwortern und Gegnern eines typologischen Rassenkonzeptes, wobei wesentliche Akteure wie Julian Huxley, Ashley Montagu, Carleton S. Coon, Richard Lewontin oder Luca Cavalli-Sforza unerwähnt bleiben.

Trotz solcher Kritikpunkte bleibt es das große Verdienst des Sammelbandes, einer deutschsprachigen Leserschaft einen differenzierten und informativen Einblick in eine Debatte zu gewähren, die bislang im deutschen Sprachraum kaum zur Kenntnis genommen wurde. Die Beiträge analysieren und problematisieren auf überzeugende Weise, wie der Rassenbegriff gerade als unscharfes und vages Konzept auch im 21. Jahrhundert an unterschiedliche Kontexte angeschlossen wird und vielfältige Bedürfnisse bedient. Für eine historische Perspektive stellt sich die Frage, inwiefern es sinnvoll ist, die Zusammenhänge zwischen dem wissenschaftlichen Rassismus der beiden vergangenen Jahrhunderte und der Verwendung von ethnischen und rassischen Kategorien in den aktuellen Biowissenschaften ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Kontinuität zu betrachten, wie es der Untertitel des Sammelbandes impliziert. Zwar sind einige Kontinuitäten tatsächlich erstaunlich, wie etwa das Zurückgreifen auf Rassenklassifikationen aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Die Kontexte, in welchen diese Klassifikationen ihre Bedeutung erhalten und ihre Wirkung entfalten, änderten sich aber grundlegend. Um Kontinuitäten und Wandel von Differenz- und Bevölkerungskonzepten in biowissenschaftlichen Wissenschafts- und Anwendungsfeldern sowie in unterschiedlichen politischen Kontexten historisch zu rekonstruieren, bedarf es insbesondere für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts weiterer Forschungen.1 Die vielen fundierten und sehr lesenswerten Beiträge im Sammelband können dazu wertvolle Anregungen liefern.

Anmerkung:
1 Vgl. etwa das Forschungsprojekt von Veronika Lipphardt, Susanne Bauer und Alexandra Widmer: Historicizing Knowledge about Human Biodiversity, <http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/en/news/features/feature9> (03.02.2011).

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