S. Jüngerkes: Deutsche Besatzungsverwaltung in Lettland 1941-1945

Titel
Deutsche Besatzungsverwaltung in Lettland 1941-1945. Eine Kommunikations- und Kulturgeschichte nationalsozialistischer Organisationen


Autor(en)
Jüngerkes, Sven
Reihe
Historische Kulturwissenschaften, Band 15
Erschienen
Konstanz 2010: UVK Verlag
Anzahl Seiten
575 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Björn Felder, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Universität Göttingen

Die Region Mittelosteuropa, speziell die baltischen Staaten, die Ukraine, Weißrussland und Polen gehörten im 20. Jahrhundert zu den europäischen „killing fields“ der 1930er- und 1940er-Jahre. Dort wüteten die totalitären Mächte: auf sowjetischen Terror, Massenerschießungen und Deportationen folgte die nationalsozialistische Besatzung mit den bekannten furchtbaren Folgen, dem Hunger, der Zwangsarbeit und vor allem dem Mord an der jüdischen Bevölkerung, den „Zigeunern“ und den psychisch Kranken. Zur nationalsozialistischen Besatzung in Osteuropa während des Zweiten Weltkriegs sind zuletzt einige Studien erschienen. Doch über die Verwaltung des Grauens, über die deutsche Zivilverwaltung, dem „Reichskommissariat Ostland“ als Teil des „Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete“ unter Alfred Rosenberg, wurde bisher wenig geforscht. Das „Ostland“ entstand nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Herbst 1941 und umfasste die Territorien der drei baltischen Staaten, Estland, Lettland und Litauen, sowie Weißrusslands und Teile der Ukraine, während die frontnahen Gebiete direkt von der Wehrmacht verwaltet wurden.

Sven Jüngerkes hat sich nun eingehend mit der deutschen Zivilverwaltung in Lettland befasst. Sein Ziel war es, das „Reichskommissariat Ostland“ bzw. das „Generalkommissariat Lettland“ in Riga als Behörde unter kommunikations- und kulturwissenschaftlichem Blickwinkel zu betrachten. Als methodische Grundlage wählt Jüngerkes die systemtheoretischen Ansätze nach Niklas Luhmann. Folglich stehen weniger die politische und ideologische Umsetzung der nationalsozialistischen Kolonialpläne durch das „Reichskommissariat“ im Vordergrund, sondern die Institution als bürokratischer Apparat mit seiner internen und externen Kommunikation, den internen Abläufen und dem üblichen Reglement bürokratischer Ordnung.

Nach einer einleitenden Übersicht zur deutschen Baltikumspolitik zwischen den Kriegen schildert er die nationalsozialistischen Kriegsvorbereitungen und umreißt die Vorbereitung der Gründung des „Ministeriums für die besetzen Ostgebiete“ durch Alfred Rosenberg und die anschließende praktische Ausformung in den besetzten baltischen Staaten im Spätsommer 1941. Schließlich beschreibt er die organisatorische Struktur und die Aufgaben des Generalkommissars in Riga und der regionalen Gebietskommissare in Lettland. Hierbei geht er nur am Rande auf die lettische Selbstverwaltung ein, die er in der Planung bloß als deutsche Erfüllungsgehilfen sieht. Gleichwohl existierten neben dem Reichskommissariat noch andere deutsche Dienststellen im „Ostland“, die zumeist mehr als Konkurrenten denn als Partner auftraten, wie etwa die Dienststellen von Heinrich Himmlers Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst, bei denen die eigentliche und einzige Exekutivgewalt lag, und die auch speziell bei der Ermordung der Juden keinen Einfluss von anderen Behörden zuließen. Im eigentlichen Hauptteil behandelt Jüngerkes in „Fallbeispielen“ die Arbeit des „Reichskommissariats“. So zeigt er die Probleme bei der Requirierung von Mitarbeitern. Ausführlich behandelt er die Rigaer Stadtverwaltung, die einen Sonderstatus hatte und die allein in deutscher Hand liegen sollte, und ihren Leiter, den eigensinnigen wie streitfreudigen Hugo Wittrock. Auch die „Reformpolitik“, das heißt die Überlegungen der deutschen Stäbe über eine lettische Autonomie bzw. deren Instrumentalisierung zur Mobilisierung der lettischen Bevölkerung, zeichnet Jüngerkes nach. Mit dem deutschbaltischen Arzt Harry Marnitz gibt er ein Beispiel eines überzeugten Nationalsozialisten, der beim Osteinsatz gleichwohl als Mitarbeiter der Abteilung für Gesundheit und Volkspflege in Konflikte mit anderen Behörden wie der Sicherheitspolizei geriet und schließlich abberufen wurde. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Darstellung des Holocausts und der Beteiligung des „Reichskommissariats“. Auch wenn Reichskommissar Lohse anfangs versuchte, durch Ehegesetze für Juden Weisungshoheit in der „Judenfrage“ zu erlangen, konnte er die Allmacht der Organe des Reichssicherheitshauptamtes nicht in Frage stellen. Die Mehrheit der lettischen Juden wurde bereits im Sommer und Herbst 1941 durch die Einsatzgruppe A ermordet. Obwohl die Verwaltung des im Oktober eingerichteten jüdischen Ghettos in Riga theoretisch der Zivilverwaltung oblag, hatte die deutsche Sicherheitspolizei die alleinige Führung und Befehlsgewalt inne. Das Buch endet mit einer Übersicht des deutschen Rückzugs und der Auflösung des Ostlandes.

Der Fokus der Untersuchung liegt auf der organisatorischen Struktur, der Machtkämpfe innerhalb des Ostministeriums, dem Kompetenzgerangel, der Streitigkeit um Einhaltung von Dienstwegen etc. Es geht um die Weigerung, die „Ostuniform“ zu tragen oder um maßlose Bereicherung und Schwarzhandel. Jüngerkes zeigt das Innenleben einer Institution, ihrer Struktur, Probleme und internen Abläufen nach eine „normale“ Behörde, die es freilich mit Besatzung, Hunger und Massenmord zu tun hatte. Hier liegt eine gewisse Problematik der methodischen Herangehensweise. Man fragt nach dem Erkenntnisgewinn durch diese Methode. So entsteht auch bei Jüngerkes das Bild eines in entscheidenden Fragen machtlosen „Chaosministeriums“, das zudem in sich ebenso zerstritten war wie es in Konflikt mit anderen, konkurrierenden Organisationen lag: ein altbekanntes Bild also. Freilich zeigt Jüngerkes die Behörde weitaus effektiver als angenommen und weist nach, dass dort keineswegs nur Dilettanten tätig waren. Er wendet sich gegen Positionen, die das „Ostland“ als in der Tradition der Kolonialpolitik stehend zeichnen – ohne das weiter auszuführen. Abgesehen davon, dass Reichskommissar Hinrich Lohse sich als Vorbereitung für seine Tätigkeit in Riga speziell mit englischer Kolonialpolitik befasst hatte, kann man der gesamten nationalsozialistischen „Ostpolitik“ wohl die kolonialistische Grundstruktur nicht abstreiten. Der kommunikationstheoretische Ansatz führt in gewisser Weise zu einer Ideologieblindheit, da alle Handlungen auf behördliche oder individuelle Selbstreferenz bezogen werden. Ausführungen, in wie weit das „Reichsministerium“ – neben dem Holocaust – nationalsozialistische Ideologie, etwa die Rassenbiologie, praktisch umsetzte, oder Bezüge zum berüchtigten „Generalplan Ost“, der ja anfangs in Rosenbergs Ministerium mitgestaltet wurde, sucht man vergebens. Auch die Interaktion mit den lettischen Akteuren wird nur am Rande gestreift. Gerade in der Frage der Mittäterschaft im Holocaust bleibt Jüngerkes in sehr holzschnittartigen Stereotypen verhaftet, die von der jüngsten Forschung widerlegt, bzw. weitaus komplexer beschrieben wurden. Ein weiteres großes Manko ist die ausgeprägte narrative Herangehensweise in Form der Ereignisgeschichte, wobei Jüngerkes meist auf Quellen deutscher Herkunft zurückgreift und sich kaum auf aktuelle Forschungsliteratur bezieht. So sind die Ereignisse speziell zum Holocaust in Lettland von anderen Autoren bereits ausführlich dargestellt worden,1 Jüngerkes kann hier kaum Neues beisteuern. Vor allem die Forschung aus Lettland selber wird mangels Sprachkenntnissen nicht berücksichtigt, obwohl allein die Lettische Historikerkommission inzwischen über 20 Bände veröffentlicht hat. Die zwangsläufig dabei entstehenden Lücken führen dann mitunter zu Fehlinterpretationen. Als Beispiel sei hier der bereits erwähnte Harry Marnitz und dessen Position gegenüber der nationalsozialistischen Euthanasie in Lettland angeführt. Obwohl Jüngerkes Krankenmorde erwähnt, scheint er nicht darüber im Bilde zu sein, dass in Lettland wie in anderen Gebieten des Ostlandes 1942 systematisch Insassen psychiatrischer Einrichtungen ermordet wurden: allein in Lettland insgesamt über 2500 Personen – was ausführlich dokumentiert wurde.2 Jüngerkes thematisiert die Euthanasie im „Ostland“ nicht. Tatsächlich war die deutsche Zivilverwaltung an den nationalsozialistischen Krankenmorden viel stärker direkt beteiligt als an der Ermordung der jüdischen Bevölkerung. Während die Generalkommissariate in Estland und Litauen offensichtlich durch entsprechende Rationierungsvorgaben für das Verhungern der psychisch Kranken verantwortlich waren, kooperierte das Generalkommissariat in Riga bei der Erschießung der Geisteskranken mit der Sicherheitspolizei. Der Gebietskommissar von Mitau Walter-Eberhard Freiherr von Medem warb offen bei lettischen Partnern für die Krankenmorde. Der Arzt Marnitz war nicht nur überzeugter Nationalsozialist sondern auch radikaler Rassenhygieniker. So empfahl er als Mitarbeiter der Abteilung für Gesundheit und Volkspflege in einem internen Schreiben indirekt die rasche Durchführung der Euthanasie an Patienten zweier Einrichtungen – und wollte diese nicht schützen, wie Jüngerkes interpretiert (S. 390). Er folgt hier kritiklos der apologetischen Selbststilisierung von Marnitz als vermeintlicher Gegner der Krankenmorde, die dieser in seiner Autobiographie nach dem Krieg formuliert hatte.

Die Arbeit von Jüngerkes enthält viele neue Details zur deutschen Zivilverwaltung: zu nennen sind etwa die aufschlussreichen biographischen Angaben zu einigen Protagonisten. Aufgrund der methodischen Herangehensweise und den inhaltlichen Mängeln stellt der Band aber keinen substantiellen Beitrag im Verständnis der deutschen Besatzungsverwaltung in Lettland dar. Wer sich ein umfassendes Bild zur den Ereignissen in Lettland verschaffen will, muss auf die bisherige Literatur zurückgreifen.

Anmerkungen:
1 Siehe die sich ergänzenden Darstellungen von Andrew Ezergailis, The Holocaust in Latvia 1941-1944, The Missing Center, Riga 1996; Andrej Angrick / Peter Klein, Die „Endlösung“ in Riga. Ausbeutung und Vernichtung 1941-1944, Darmstadt 2006.
2 R. Vīksne, Garīgi slimo iznīcināšana Latvijā vācu okupācijas laikā, in: Andris Caune (Hrsg.), The Issues of the Holocaust Research in Latvia. Reports of an International Seminar 29. November 2001, Riga and the Holocaust Studies in Latvia 2001-2002, Riga 2003, S. 324-350; Björn Felder, Lettland im Zweiten Weltkrieg. Zwischen sowjetischen und deutschen Besatzern 1940-46, Paderborn 2009, S. 206, 287, 294–96; Anton Weiss-Wendt, Murder without hatred. Estonians and the Holocaust, Syracuse 2009, S. 148-149.

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