A. Fleischauer: Die Enkel fechten’s besser aus

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Titel
Die Enkel fechten’s besser aus. Thomas Müntzer und die Frühbürgerliche Revolution – Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in der DDR


Autor(en)
Fleischauer, Alexander
Erschienen
Münster 2010: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerd Dietrich, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

„Aber die wütenden Angriffe, welche die Anwälte der herrschenden Klassen seit Luther und Melanchthon bis auf unsere Tage gegen Münzer mehr als gegen jeden anderen Kommunisten und Revolutionär seiner Zeit […] richten, sind gerade das mächtigste Mittel geworden, das Andenken an ihn im Volke wachzuhalten und ihm dessen Sympathien ungeschmälert zu bewahren. Münzer war und ist heute noch im Volksbewußtsein die glänzendste Verkörperung des rebellischen, ketzerischen Kommunismus.“1

Dies soll kein Beitrag zu einer aktuellen/alten Debatte sein, sondern wurde von Karl Kautsky in seinem Buch „Vorläufer des neueren Sozialismus“ 1909 geschrieben, 1947 im Dietzverlag der SED wieder aufgelegt. Zitiert als Beispiel dafür, dass Geschichtspolitik wie -propaganda, lange bevor sich die DDR ihrer bemächtigte, Teil der Erinnerungskultur der sozialistischen Bewegung waren. Auch Alexander Fleischhauer verweist in diesem Sinne auf die Vorläufer und Stichwortgeber für die SED: Friedrich Engels, Franz Mehring und Karl Kautsky. Diese Arbeit ist als Dissertation im Sonderforschungsbereich 437 „Kriegserfahrungen – Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“ (Tübingen) entstanden. Sie untersucht Geschichtsbild und -inszenierung in der DDR zwischen 1949 und 1989. Der Haupansatz der Studie ist auf das Forschungsfeld Jubiläen gerichtet: Erinnerungskultur anhand von historischen Gedenktagen. Dabei werden mehrere Untersuchungsebenen in den Blick genommen: wissenschaftlicher Forschungsstand, politisch-ideologische Leitlinien, Gedenkstätten und Erinnerungsorte, evangelische Kirche, Blockparteien CDU und DBD sowie Film und Belletristik. Alexander Fleischhauer hat hierfür umfangreiches und vielfältiges Material erschlossen.

Die Arbeit gliedert sich chronologisch in fünf Hauptkapitel nach den entsprechenden Jubiläen. In „Fürstenknecht und Bauernmagister“ werden zunächst das marxistische Bild der Reformationsära in der SBZ und der DDR der 1950er-Jahre behandelt sowie das Müntzer-Denkmal von Will Lammert in Mühlhausen, Friedrich Wolfs Drama „Thomas Müntzer – der Mann mit der Regenbogenfahne“ und der DEFA-Film nach Wolfs Szenario 1956, Rosemarie Schuders Kinderbuch „Meine Sichel ist scharf“ und Hans Lorbeers historischer Roman „Die Rebellen von Wittenberg“. Im zweiten Hauptkapitel „Das Konzept der frühbürgerlichen Revolution und das Reformationsjubiläum 1967“ geht es um die Entstehung, Etablierung und Wirkung des genannten Konzepts, die staatlichen Vorbereitungen des Jubiläums 1967, die Konflikte zwischen Staat und Kirche, die Positionen der CDU, Festakt, Festumzug und Auseinandersetzungen um die Lutherhalle in Wittenberg und um die ideologische Verknüpfung des Reformationsjubiläums mit dem 50. Jahrestag der Oktoberrevolution. Zum Dritten werden in „Thomas Müntzer und die frühbürgerliche Revolution in den 1970er-Jahren – das Jubiläum 450 Jahre deutscher Bauernkrieg“ die ideologischen Paradigmenwechsel der frühen Honecker-Ära, der Stand der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung, die Konzeption, das Komitee und der Festakt zum Bauernkriegsjubiläum, die Positionen der DBD und die Zentrale Gedenkstätte in der Mühlhäuser Kornmarktkirche analysiert. Für den Bereich Film und Belletristik um Thomas Müntzer stehen in dieser Zeit ein Fernsehspiel von Hans Pfeiffer „Denn ich sah eine neue Erde“, eine neue Fassung des DEFA-Films von 1956, Hans Pfeiffers „Thomas Müntzer – Ein biographischer Roman“ und Heinz Kruschels Buch „Rebell mit Kreuz und Schwert“ sowie die Anthologie Alexander Abuschs „Wir Enkel fechten’s besser aus“. Im vierten Hauptkapitel bildet „Die DDR und ihr humanistisches Erbe – der 500. Geburtstag Martin Luthers 1983“ den Schwerpunkt, denn natürlich ist in einem Buch über Müntzer an Luther nicht vorbei zu kommen. Es werden der neue Umgang mit Erbe und Tradition beschrieben sowie die Entwicklung in der DDR-Geschichtswissenschaft, die Jubiläumskonzeption, das Luther-Komitee und der Festakt in Berlin, das Verhältnis von Staat und Kirche, die Rolle der CDU im Lutherjahr, die Bedeutung der Reformationsstätten bei der Luther-Ehrung und der Luther-Fünfteiler des DDR-Fernsehens mit Ulrich Thein in der Hauptrolle. Das fünfte Hauptkapitel schildert „Das Müntzerjahr 1989 – ein Staat in Agonie feiert seinen angeblichen Ahnherrn“. Nach der politischen Situation geht es um den wissenschaftlichen Umgang mit Thomas Müntzer, um die Konzeption, das Komitee und den Festakt von 1989, um die Kirche und die DBD im Müntzerjahr sowie um das Panoramagemälde von Werner Tübke in Bad Frankenhausen, um den Fernsehfilm „Ich. Thomas Müntzer, Sichel Gottes“ und den historischen Roman von Juliana Bobrowski „Otilie Müntzer“. Alle fünf Hauptkapitel enden jeweils mit Zwischenbilanzen, die das Lesen der ungemein materialreichen Arbeit sehr erleichtern.

In seinem Resümee fasst Alexander Fleischhauer zunächst die Ergebnisse der Studie nach den genannten Untersuchungsebenen geschichtswissenschaftlicher Forschungsstand, politisch-ideologische Leitlinien, Gedenkstätten und Erinnerungsorte, Positionen der evangelischen Kirche und der Blockparteien sowie Beiträge von Film und Belletristik zusammen. Hervorzuheben ist, dass er dabei von komplexen und wechselseitigen Beziehungen zwischen SED und Wissenschaft im Sektor Geschichtspolitik spricht. „Die Historiker waren sowohl linientreu als auch liniensetzend.“ (S. 328) Das Konzept von der frühbürgerlichen Revolution brauchte zum Beispiel eine gewisse Zeit, bis es sich durchsetzte, dann die Jubiläen 1974/75 und 1983 bestimmte, um schließlich in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre wieder zu erodieren. Alexander Fleischhauer kommt zu dem Schluss, dass es die DDR-Geschichtsschreibung nicht schaffte, eine eigene, von der westdeutschen bzw. der älteren deutschen Forschung unabhängige Traditionslinie zu entwickeln. „Statt konsequent Thomas Müntzer als den historischen Helden und Vorkämpfer der DDR zu inszenieren, war die SED gewissermaßen gegenüber den Verlockungen, Luther als einen Teil der eigenen Tradition zu vereinnahmen und somit auf vorhandenen Traditionskonzepte aufzubauen, schwach geworden. […] Die Mixtur aus eigenen sozialistischen und vereinnahmten bürgerlichen Traditionen gelang den DDR-Historikern nicht überzeugend.“ (S. 331) Auch aus diesen Gründen wurden Jubiläumsveranstaltungen über Gebühr zur Konstruktion der eigenen Traditionen und zur Denkmalsetzung herangezogen. Ausführlich geht Alexander Fleischhauer im Resümee auch auf das Konzept politischer Mythen und die Kernelemente und Funktionen des Müntzermythos ein. Die sogenannte frühbürgerliche Revolution kennzeichnet er als einen Ursprungsmythos der DDR, den Müntzermythos als eine der wichtigsten historisch-politischen Mythen der DDR. Dieser Mythos freilich war wandelbar: vom Revolutionär und Bauernführer in der frühen zum Theologen der Revolution und Apokalyptiker in der späten Zeit der DDR, womit man sich letztlich von einem Müntzermythos verabschiedete. Dass hierfür auch marxistische Philosophen in der DDR einen Beitrag leisteten, hat Alexander Fleischhauer übersehen. So war Ernst Blochs „Thoma Münzer als Theologe der Revolution“ (1921) bereits 1960 wieder im Aufbau-Verlag erschienen und wurde 1989 bei Reclam neu aufgelegt. Da ist der Blick doch bei allem Material- und Ideenreichtum etwas verengt. Und so wie der Anfang der DDR nicht der Beginn marxistischer Geschichtsschreibung war, so stellt auch ihr Verschwinden nicht das Ende der marxistischen Geschichtsschreibung auf deutschem Boden dar.

Anmerkung:
1 Karl Kautsky, Vorläufer des neueren Sozialismus. Zweiter Band. Der
Kommunismus in der deutschen Reformation, Berlin 1947, S. 103.

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