G. Gahlen: Das bayerische Offizierskorps

Titel
Das bayerische Offizierkorps 1815-1866.


Autor(en)
Gahlen, Gundula
Reihe
Krieg in der Geschichte 63
Erschienen
Paderborn 2011: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
775 S.
Preis
€ 88,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Ebnöther, Schweizergeschichte / Wirtschaftsgeschichte, ZHAW Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften

Die militärgeschichtliche Forschung zu den Offizierkorps des 19. Jahrhunderts konzentrierte sich in Deutschland bisher vornehmlich auf Preußen. Diese Fokussierung birgt zwei wesentliche Nachteile in sich: Zum einen können die Forschungsresultate wegen der besonderen politischen Entwicklung in Preußen nicht ohne weiteres auf die deutschen Mittel- und Kleinstaaten übertragen werden. Zum anderen ist die enge und schicksalhafte Verflechtung zwischen Politik, Militär und Gesellschaft im Herrschaftsgebiet der preußischen Könige nicht typisch für die übrigen Territorien des Deutschen Bundes. Um mittelfristig auf einer breiteren Basis eine überzeugende Antwort auf die übergeordnete Frage nach der Dominanz des Militärs in der neueren deutschen Geschichte zu erhalten, sind weitere Studien unabdingbar, die sich mit den Verhältnissen ausserhalb Preußens auseinandersetzen.

Die 2011 erschienene Dissertation von Gundula Gahlen nimmt dieses Forschungsdesiderat auf und bildet eine Wegmarke auf diesem langen und mühevollen Weg der deutschen Militärgeschichte. Gahlen rekonstruiert auf der Grundlage des umfangreichen Quellenbestandes des Bayerischen Kriegsarchivs in München die Sozialstruktur des bayerischen Offizierkorps zwischen 1815 und 1866 und zeigt den Sozialstatus der Offiziere der bayerischen Armee auf. Sie berücksichtigt dabei bewährte Parameter wie die soziale Herkunft, die Altersstruktur, die regionale und konfessionelle Zusammensetzung, die Karrierechancen, die rechtliche und wirtschaftliche Lage, das Heiratsverhalten sowie den Zusammenhalt des Offizierkorps. Gundula Gahlen ist es dabei in überzeugender Weise gelungen, aus den untersuchten Einzelaspekten ein detailliertes Bild der Linienoffiziere Bayerns in der Epoche zwischen dem Russlandfeldzug von 1812 und der Heeresreform nach der Niederlage von 1866 gegen Preußen zu zeichnen.

Die 775 Seiten starke Studie zeigt auf, dass sich das bayerische Offizierkorps in diesem halben Jahrhundert wesentlich von der Vergleichsgröße Preußen unterschied. Das herausragendste Merkmal ist der über den untersuchten Zeitraum schwankende Anteil von Bürgerlichen im Offizierkorps. Dieser veränderte sich jeweils nach einschneidenden politischen Ereignissen wie beispielsweise der Revolution von 1848/49 signifikant. Die Doktorarbeit von Gundula Gahlen leistet gerade in Bezug auf diese Fragestellung einen zweifachen Beitrag zur Forschung. Einerseits macht sie deutlich, dass die theoretischen Konzepte, die von der Geschichtswissenschaft für das preußische Offizierkorps entwickelt wurden, sich nicht auf andere Territorien übertragen lassen. Andererseits wird durch Gahlen die bis dahin in der Literatur verbreitete These eines kontinuierlichen Verbürgerlichungsprozesses des Offizierkorps in Bayern überholt.

Eine weitere sozialgeschichtliche Erkenntnis ist bemerkenswert: Die Armee war in Krisenzeiten gezwungen, die Offiziersstellen auch mittleren und niederen Gesellschaftsschichten zu öffnen und den Aspiranten Aufstiegsmöglichkeiten innerhalb der militärisch-hierarchischen Strukturen zu bieten, was letztendlich zur Steigerung der sozialen Mobilität beitrug. Gundula Gahlen relativiert damit auch die Vorstellung von der hohen Bedeutung der Bildung, die für das Offizierkorps bereits schon vor 1850 charakteristisch gewesen sein soll.

Die Konsequenz aus der Entwicklung des bayerischen Offizierkorps in der Epoche des Deutschen Bundes war die Herausbildung eines heterogenen Körpers, dem es jedoch an innerer Kohärenz, sozialer und politischer Eigenständigkeit sowie an gesamtgesellschaftlicher Prägekraft mangelte. Aus verfassungsgeschichtlicher Perspektive ist ein weiterer Aspekt der Arbeit zu unterstreichen. Die noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts uneingeschränkte Verfügungsgewalt des Monarchen über das Heer wurde durch die Verfassung und das Budgetrecht des Parlaments zunehmend eingeschränkt. Die Folge davon waren Kürzungen des Heeresetats ohne parallel durchgeführte grundlegende Heeresreformen, sinkende Präsenzstärken, ein Mangel an brauchbarem Kriegsmaterial, Ausbildungsdefizite, Überalterungstendenzen und ein Beförderungsstau. Der Zustand des Heeres Bayerns verschlechterte sich zusehends. Erst die militärische Niederlage von 1866 brachte ein radikales armeepolitisches Umdenken in Bayern – eine Annäherung an die Verhältnisse im preußischen Offizierkorps. Die neu eingeführte Abiturpflicht für Offiziersanwärter und die Heeresreform nach preußischem Vorbild zeitigten schon bald eindeutige Ergebnisse. Die bayerische Armee konnte sich dank den Umstrukturierungen im Krieg von 1870/71 erfolgreich im Felde behaupten.

Die Studie von Gundula Gahlen zeichnet sich durch eine sehr sorgfältige Ableitung der Erkenntnisse aus den Quellen aus. Zahlreiche Tabellen und Grafiken im Text und im Anhang zeugen von der aufwändigen statistischen Durchdringung des Materials. Sie wählte dabei eine bewährte Stichprobenmethode, bei der sie zehn Prozent der Offizierpersonalakten untersuchte. Die Kurzbiografien zu den ausgewählten Offizierslaufbahnen sowie ein Personen- und Ortsregister runden das Werk ab.

Die Untersuchung erschien in der Reihe „Krieg in der Geschichte“, die an sich den Anspruch stellt, den Blickwinkel auf die Kriegsgeschichte von einer militärimmanenten Betrachtungsweise hin zu einer kulturgeschichtlichen Perspektive zu öffnen. Das Werk von Gundula Gahlen strebt durch den Aufbau, die Vorgehensweise und die Methode diesen integralen Ansatz durchaus an. Dennoch wünscht sich der Leser in praktisch allen untersuchten Teilaspekten neben der Analyse des Zahlenmaterials und der Verbindung zur bayerischen Heerespolitik eine stärkere Einbindung in die übergeordneten politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturgeschichtlichen Entwicklungslinien des 19. Jahrhunderts in Deutschland und Europa.

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