C. Eisenberg: Englands Weg in die Marktgesellschaft

Titel
Englands Weg in die Marktgesellschaft.


Autor(en)
Eisenberg, Christiane
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 18
Erschienen
Göttingen 2009: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
166 S.
Preis
€ 32,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Roland Ludwig, Hanau

Christiane Eisenberg hat mit „Englands Weg in die Marktgesellschaft“ einen interessanten, wenn auch einseitigen Beitrag zur englischen Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit veröffentlicht.

Im Kern geht es ihr um die frühe Durchsetzung von Marktbeziehungen in England, die es ermöglichten, dass England zum Pionier des Industriekapitalismus wurde. In Zeiten einer De-Industrialisierung stellt sie das „Forschungsparadigma des Industriekapitalismus, das die Dynamik moderner Gesellschaften aus der Industriellen Revolution zu erklären versucht (S. 9 f.)“ in Frage. Dabei stützt sie sich auf eine in der britischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte in den letzten Jahren immer häufiger geäußerte Position, der zufolge die Industrialisierung Englands nur den Höhepunkt oder gar nur den Zeitraum eines relativen Abflachens einer über Jahrhunderte anhaltenden gesellschaftlichen Dynamik von Kommerzialisierung und Marktrationalisierung bildete. Dieser Prozess der Kommerzialisierung und Marktrationalisierung hatte seinen Ursprung in der normannischen Eroberung des Inselreichs und der Zerschlagung der alten Herrschaftsstruktur der Angelsachsen. Recht weit hinten im Buch steht: „In England stand am Anfang nicht Napoleon ... sondern Wilhelm der Eroberer“ (S. 127). Nach der üblichen Gliederung der historischen Wissenschaft beginnt die jüngere Neuzeit im Zeitalter der Französischen Revolution. Mit anderen Worten: Eisenberg verlegt den Beginn dieser Phase für England ins 11. Jahrhundert. Das kann durchaus als eine neue Sonderwegsthese bezeichnet werden, denn laut Eisenberg hatte England gegenüber Kontinentaleuropa bis zum Ende des 18. Jahrhunderts einen Vorsprung von 750 Jahren und hatte eine funktionsfähige Marktgesellschaft ausgebildet. Die von Eisenberg vorgebrachte radikale Abkopplung Englands von Kontinentaleuropa und vom „Weg des Westens“ ist zumindest unkonventionell, könnte aber im Sinne von „Anything goes“ dem wissenschaftlichen Fortschritt dienen. Die Frage ist, welche Grundlage ihre These hat. Doch zurück zu Eisenbergs Argumentation.

Mit den Normannen begann der englische Pfad, das heißt aus dieser Anfangskonstellation entwickelte sich die Kommerzialisierung Englands. Eisenberg versteht diesen Prozess nicht teleologisch, sondern arbeitet mit einem genetischen Klassifikationsschema der Pfadabhängigkeit, die den Prozessverlauf langfristig aus der Anfangskonstellation heraus determiniert. Da die Kommerzialisierung Englands ihren Ursprung im spezifischen Feudalismus des Königreichs hatte, arbeitet Eisenberg mit dem Terminus Feudalsystem.

Der frühe (normannische) Einheitsstaat und die damit verbundene Monopolisierung der Herrschaftsmittel beim König (Geschlossenheit des Wirtschafts- und Rechtsgebietes ohne erwähnenswerte Binnenzölle, Neuordnung des Bodenmarktes, neue Impulse für den Kapitalmarkt und – durch das Kronmonopol auf den Devisenhandel – eine frühzeitige Verallgemeinerung der Kreditwirtschaft) bot den Rahmen für die marktorientierten Beziehungen, was den Erwerb, Verkauf und die Nutzung von Land sowie die Eigentumsrechte betraf. Zu den Eigentumsrechten gehörte die Rechtsform des trust (Treuhänderschaft). Diese Rechtsform, die sich allerdings erst im 14. Jahrhundert herausbildete, bot die Möglichkeit eigenständig Vertragsbeziehungen auszuarbeiten. Sie wird von Eisenberg, die sich auf Alan Macfarlane stützt, als Keimzelle der modernen Zivilgesellschaft in England eingeordnet.

Der Kommerzialisierungsprozess führte im England des frühen 19. Jahrhunderts nicht in die Industrie- sondern in die Dienstleistungsgesellschaft, das bezieht sich laut Eisenberg nicht nur auf die Anzahl der Erwerbstätigen, sondern auch die Wachstumsraten des Bruttoinlandsproduktes waren in Großbritannien von 1700 bis in die ersten Jahre des 19. Jahrhunderts größer im Dienstleistungssektor als im gewerblich-industriellen Bereich.

Die von ihr angeführten Impulse für die Kommerzialisierung, Bevölkerungswachstum, Agrarrevolution, Verstädterung, wirkten sich später auch bei der Industrialisierung aus. Die Bevölkerungsexplosion nach 1750 ging einher mit einer wachsenden Binnennachfrage nach Gütern des gehobenen Bedarfs. Ein Massenmarkt für Gewerbeprodukte konnte sich in England auf eine produktive Landwirtschaft, einen ausgedehnten Kolonialhandel und die Entwicklung neuer Technologien auf der Basis gewachsener Erfahrungen im metallverarbeitenden Gewerbe stützen.

Gegen Max Weber und seine „Protestantische Ethik“ gewandt schreibt Eisenberg, dass die Puritaner 1715 deutlich weniger als zehn Prozent der englischen Bevölkerung ausmachten und, da die Marktgesellschaft mehrere Jahrhunderte vor den Puritanern bzw. vor der Reformation entstanden sei, sei das religiöse Denken eher durch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen geprägt worden und nicht umgekehrt.

Der Kapitalismusbegriff, Karl Marx zog oft die Bezeichnung „kapitalistische Produktionsweise“ vor, wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer gängigen Formulierung für ein System des Antagonismus zwischen Besitzern der Produktionsmittel und Besitzern der Arbeitskraft.

Im Gegensatz zum Feudalismusbegriff verwirft Eisenberg die Brauchbarkeit des Kapitalismusbegriffs, wegen seiner Komplexität, seiner Strukturlastigkeit und der (unterschiedlich gelagerten) England-Problematik der einschlägigen Kapitalismusanalysen, was sie nicht hindert, im Schlussteil auf „wesentliche Elemente des Kapitalismus“ in der englischen Marktgesellschaft zu verweisen (S. 108).

Die mit einem „England-Problem behaftet(en)“ Klassiker Werner Sombart, Marx und Weber werden von ihr ebenso wie die „Meistererzählungen“ von Immanuel Wallerstein, Karl Polanyi und Fernand Braudel nicht oder kaum herangezogen, da sie ihr veraltet erscheinen (S. 21 u. 23). Eisenberg konzentriert sich aber selbst auf die englische Entwicklung.

Den anglozentrischen Grundzug erhält Eisenbergs Studie, die den Vergleich Englands mit den Staaten Kontinentaleuropas vermeidet, nicht zuletzt durch die Ausblendung der „Kapitalismusforschung“ der veralteten Klassiker und Sozialhistoriker. Monokausalen Charakter erhalten ihre Ausführungen durch die Festlegung auf die Pfad-Theorie. Die Simplifizierung historischer Entwicklung wirkt – unter Beachtung der globalhistorischen und transnationalen Forschung - antiquiert und keineswegs „up to date“.

Die Vernachlässigung des Marktes bei Sozialtheoretikern und Historikern früherer Jahrzehnte ist allerdings ein Defizit, dem Eisenberg – gestützt auf britische Studien neuerer Zeit – mit Forschungsergebnissen zur kulturellen Bedeutung ökonomischer Praktiken und der sozialen und kulturellen Beziehungen zwischen Anbietern und Nachfragern auf Märkten entgegenwirkt. Beispielsweise in einem Abschnitt zur sozialen Funktion des Spiels in England.

Als ein Ergebnis ihrer Studie (S. 122) betont Eisenberg den weitgehend autochthonen Prozess der Kommerzialisierung Englands, dessen Insellage Schutz vor weiteren Eroberungen, kriegerischen Zerstörungen und Einschleppung von Epidemien bot. Deshalb konnte der Kommerzialisierungsprozess in England nahezu reibungslos und ohne nennenswerte Störungen vonstatten gehen. Die Insellage als begünstigender Faktor für die Entwicklung von Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und politischem System Englands – das ist allerdings keineswegs eine neue Erkenntnis.

Daraus einen englischen Sonderweg zu konstruieren, ist nach meiner Ansicht überzogen. Zudem in der knappen Studie mit 130 Textseiten – inklusive Abbildungen – Vieles nicht oder nur in wenigen Passagen enthalten ist: die politische Dimension, die Einordnung in die Geschichte der europäischen Staaten und der europäischen Ökonomie. Die globalen und transnationalen Zusammenhänge kommen, wie die Entwicklung des britischen Empires, die Überseeexpansion und der Imperialismus wenn überhaupt, dann nur am Rande vor. Die industrielle Revolution, die auch in England erst nach einer krisenhaften Übergangsphase seit 1820 in eine Hochphase überging, wäre ohne den Zugang zu Rohstoffen kaum denkbar. Was fehlt, ist ein Kapitel zur Wissenschafts- und Technikgeschichte. Englands Tradition in Wissenschaft und Technik, die vielfältigen technischen Neuerungen in der Neuzeit waren Teil des britischen Erfolgsmodells. Nicht ohne Relevanz für Eisenbergs Fragestellung wäre hierbei die Wechselwirkung mit dem „Pfad“ der Wirtschafts- und Sozialgeschichte.

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