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Titel
Tatort. Ein populäres Medium als kultureller Speicher


Autor(en)
Gräf, Dennis
Reihe
Schriften zur Kultur- und Mediensemiotik 1
Erschienen
Marburg 2010: Schüren Verlag
Anzahl Seiten
332 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benjamin Städter, Studienseminar Gelsenkirchen

Massenmedien und gesellschaftliche Transformationsprozesse stehen in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander. Soziale und kulturelle Veränderungsschübe werden von fiktionalen und nichtfiktionalen Medienformaten nicht nur begleitet und ausgedeutet, oftmals können sie gesellschaftlichen Wandel auch aktiv vorantreiben und gestalten. Die Prämissen einer kulturhistorisch ausgerichteten Mediengeschichte führten in den vergangenen Jahren zu einer Vielzahl von Studien, die analysieren, wie sich Massenmedien und Gesellschaft zueinander verhalten.1 Diese Erkenntnisse stehen auch am Beginn von Dennis Gräfs medienwissenschaftlicher Dissertationsschrift über die populäre Kriminalserie „Tatort“, die Gräf als kulturellen Speicher der Bundesrepublik versteht. In seiner Einleitung umreißt der Autor die Zielperspektive seiner Analysen, wenn er feststellt, dass die Untersuchung der zentralen Paradigmen der Tatortreihe Aufschluss über „Transformationsprozesse, Veränderungen und Brüche“ in der bundesrepublikanischen Kultur geben kann. Er möchte somit „Aussagen über mentalitätsgeschichtliche Prozesse sowie über den übergeordneten Bereich der Sozial- und Kulturgeschichte treffen“ (S. 26).

Richtigerweise verwirft Gräf gleich im Klappentext seiner Monografie die von populären, weniger analytischen Darstellungen vertretene These, fiktionale Medienformate wie der „Tatort“ seien ein Spiegel der Gesellschaft.2 Er versteht den „Tatort“ als einen Seismographen, der gesellschaftliche Schwingungen aufnimmt und im Medienformat des Kriminalfilms reflektiert.3 Es wäre zu fragen, ob nicht auch diese Metapher schon eine Engführung der Analyse impliziert und das produktive Potential fiktionaler Medienformate für gesellschaftlichen Wandel in den Hintergrund rückt. Gräf selbst hat zu Beginn seiner Ausführungen dieses produktive Potential im Blick, wenn er etwa betont, der „Tatort“ sei (anders als ein Seismograph) sehr wohl in der Lage, gesellschaftliche Diskurse auch zu initiieren (S. 9).

Methodisch bedient sich die Arbeit eines narratologischen und eines mediensemiotischen Zugriffs auf ausgewählte Tatortfolgen, die in ihrer Mehrzahl aus den 1970er- und 1980er-Jahren stammen. Einen Schwerpunkt der narratologischen Analyse bilden dabei Untersuchungen von semantischen Räumen, die in ihrer Gesamtzahl und der Beziehung zueinander die wesentliche Erzählung der Filme konstruieren. Die Konflikte der Filmbeispiele, an denen Gräf grundlegende Erkenntnisse über die durch die Filme vermittelten Wert- und Moralvorstellungen ausmacht, entspannen sich an den Überschreitungen dieser Grenze. Besonders instruktiv geraten Gräfs Analysen von Leerstellen, unter denen der Autor zentrale Bereiche der Norm- und Wertsysteme versteht, die in der filmischen Narration nicht ausgesprochen werden. Sie werden als allgemein bekannt vorausgesetzt und können in der Analyse gerade deswegen als „fundamentale Annahme der Kultur“ angesehen werden, die keine explizite Nennung braucht (S. 16).

In Gräfs Analyse der semiotischen Zeichensysteme wird das Verhältnis von fiktionaler Filmerzählung und gesellschaftlicher Realität deutlich. Der Autor versteht den „Tatort“ als sekundäres semiotisches System, das sich derjenigen verbalen und visuellen Zeichen bedient, die in der bundesrepublikanischen Gesellschaft bereits existieren und im Tatort dann instrumentalisiert werden, um eine eigene filmische Realität entstehen zu lassen (S. 20).

Gräf teilt seine Geschichte des „Tatorts“ in zwei große Diskursfelder ein, die er zeitlich den Jahrzehnten der 1970er- und 1980er-Jahre zuordnet. Dabei geht er von der Beobachtung aus, dass der „Tatort“ in der ersten Dekade seines Bestehens vor allem die Selbstkonstruktion, die Grenzen und den Wandel des Bürgertums thematisierte. In konzisen Einzelanalysen zeichnet Gräf die Gegenüberstellung zweier filmischer Ideen von Bürgerlichkeit nach: zum einen ein antiquiertes, sich von anderen Gesellschaftsschichten abgrenzendes Bürgertum, zum anderen eine mobile, sich öffnende bürgerliche Lebenskultur. In diesem Spannungsverhältnis entsteht das Verbrechen in den 1970er-Jahren primär aus dem Selbsterhaltungstrieb bürgerlicher Täter heraus, die versuchen, die bürgerliche Fassade ihres Lebensentwurfs aufrechtzuerhalten und dabei in den Sumpf des Verbrechens gezogen werden. Den Mördern geht es zumeist um die Wahrung ihres bürgerlichen Scheins, der für ihre Akzeptanz in der vorgeführten Gesellschaft als grundlegend dargestellt wird. In der Fokussierung auf ein elitäres Bild von Bürgerlichkeit dienen Personen aus anderen Gesellschaftsschichten in den filmischen Handlungssträngen fast ausschließlich der Abgrenzung. Nichtbürgerliche Charaktere können das komplexe System bürgerlichen Handelns nicht verstehen und werden somit zu einer Negativfolie ihrer intellektuell überlegenen Gegenspieler. Daneben dominieren Männerfiguren die verschiedenen Plots; in der Rolle des Kommissars repräsentieren sie Norminstanzen, die die gestörte Ordnung wieder herstellen.

Die Fokussierung auf ein bürgerliches Milieu verliert nach Gräf in den 1980er-Jahren ihre Dominanz. Diesen Wandel macht der Autor primär an der Figur des Duisburger Kommissars Horst Schimanski fest. Es bleibt jedoch zu fragen, in wieweit die Schimanski-Tatorte tatsächlich ein neues Paradigma schufen oder ob sie nicht vielmehr auch in den 1980er-Jahren die Ausnahme von der Regel waren. Der legendäre Lebemann aus dem Arbeitervorort Ruhrort stellte die bürgerlichen Prämissen der 1970er-Jahre zweifelsohne in Frage: sein nonkonformistischer, entformalisierter Habitus kann als Gegenmodell zum eher beschaulichen Tatort der 1970er-Jahre gedeutet werden. Weniger offensichtlich, aber nicht minder überzeugend geraten die Analysen über die Verschiebung des Ortes von Verbrechen: Nicht mehr aus dem privaten Kontext der Verbrecher heraus entstehen die Grenzüberschreitungen, sie werden den Charakteren vielmehr von außen auferlegt. Einmal im Sog des nun zunehmend institutionalisierten Verbrechens gefangen, gelingt es den Charakteren nicht mehr, Kontrolle über die kriminellen Subkulturen zu erlangen, deren Ursprung oftmals im Nebulösen bleibt und somit auch von den Kommissaren nicht mehr nachvollzogen werden kann. Gräf fasst diese Verschiebung unter dem Begriff Internationalisierung zusammen: Vermehrt liegt nun der Ursprung kriminellen Handelns im Ausland und ist somit dem Zugriff der Ordnungshüter entzogen. Das zugrundeliegende pessimistische Weltbild speist sich aus dem Gefühl des Ausgeliefertseins, dem auch die vormaligen Norminstanzen der Polizei nicht entgegenwirken können. Als Antwort darauf folgt der Rückzug in den Privatraum, der auf der Metaebene als Zwang zu einer neuen Identitätssuche in einer bedrohlichen Gesellschaft gedeutet wird, in der sich das Individuum zunehmend als fremdes Element wahrnimmt.

Gräfs Analysen bestechen durch ihre Detailgenauigkeit, mit der er grundlegende Topoi der einzelnen Folgen identifiziert, um sie dann auf einer Metaebene zusammenzuführen. Etwas störend ist stellenweise eine doppelte Hermetik in der Anlage der Studie. So wirken die Ausführungen in einzelnen Passagen sprachlich überladen und verklausuliert. Schwerer wiegt jedoch eine gewisse inhaltliche Engführung. Wenn Gräf, wie er zu Beginn konstatiert, gesellschaftliche Diskurse im Blick hat, die vom fiktionalen Medienformat initiiert werden, bleibt unverständlich, warum eine Rückbindung seiner Analyse an die weitreichenden Veränderungsschübe von Massenmedien und Gesellschaft der Bundesrepublik in den 1970er- und 1980er-Jahren oftmals ausbleibt. Auch wenn er einleitend feststellt, dass etwa der Begriff „Bürgertum“ nicht als „sozialhistorische Größe“ (S.53) verstanden werden soll, sondern als ein vom Film selbst entwickeltes Konstrukt, wäre hier ein Querlesen der sozialhistorischen Analysen der Bundesrepublik wünschenswert gewesen.4 Nicht zuletzt wäre so die Anschlussfähigkeit von Gräfs Thesen an bisherige Forschungen im Bereich der bundesrepublikanischen Medien- und Gesellschaftsgeschichte deutlicher geworden.

Diese Kritik soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem Autor mit seiner Dissertation eine äußerst instruktive Studie gelungen ist. Gerade Historiker, die sich der jüngsten Zeitgeschichte der 1970er- und 1980er-Jahre zuwenden, werden die Ergebnisse nutzen können, um die Analyse der Medienkultur und des Verhältnisses von medialem und gesellschaftlichem Wandel weiter voranzutreiben.

Anmerkungen:
1 Frank Bösch, Mediengeschichte im 20. Jahrhundert. Neue Forschungen und Perspektiven, in: Neue Politische Literatur 52 (2007), S. 409-429.
2 Auf diese Engführung verweist etwa: Knut Hickethier, „Tatort“ und „Lindenstraße“ als Spiegel der Gesellschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 20 (2010), S. 41-46.
3 Siehe hierzu auch das Radiointerview mit Dennis Gräf im Bayerischen Rundfunk vom 29.11.2010, vgl. Hendrik Heinze, Interview mit „Krimiwissenschaftler“ Dennis Gräf, in: <http://www.br-online.de/bayern2/kulturwelt/0-jahre-tatort-in-der-ard--tv-medien-ID1291014772957.xml> (15.03.2011).
4 In dem mit drei Seiten recht dünnen Literaturverzeichnis vermisst der Leser sogar einige Arbeiten zum Verhältnis von Kriminalfilm und gesellschaftlichem Wandel in der Bundesrepublik, etwa: Christiane Hartmann, Von „Stahlnetz“ zu „Tatort“. 50 Jahre deutscher Fernsehkrimi, Marburg 2003.

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