Cover
Titel
Kollektives Gedächtnis und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Erinnerungskulturen


Autor(en)
Berek, Mathias
Reihe
Kultur- und sozialwissenschaftliche Studien / Studies in Cultural and Social Sciences 2
Erschienen
Wiesbaden 2009: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniela Mehler, Institut für Politikwissenschaft, DFG-Graduiertenkolleg 1412: Kulturelle Orientierungen und gesellschaftliche Ordnungsstrukturen in Südosteuropa, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Trotz der seit knapp drei Jahrzehnten anhaltenden Konjunktur der Erinnerungsforschung und der Beschäftigung mit der – um mit Pierre Nora zu sprechen – histoire au second degré, unzähliger Sammelbände sowie einer Vielzahl unterschiedlichster theoretischer Konzeptionalisierungen und Begriffsschöpfungen steht eine grundlegende Theoretisierung sozialer Erinnerung aus. Diese Lücke verspricht die Dissertationsschrift des Leipziger Kulturwissenschaftlers Mathias Berek zu schließen. Der Klappentext verheißt eine „kohärente Theorie des kollektiven Gedächtnisses“. Auch die Beschreibung seines Vorhabens bleibt ähnlich ambitioniert, wobei hier die „Erinnerungskultur“ in den Mittelpunkt gestellt wird: „Ziel dieser Arbeit ist die systematische Herleitung des konstruktiven Charakters von Erinnerungskultur sowie eine Analyse ihrer Eigenschaften und Funktionen für die Wirklichkeit einer Gesellschaft unter Berücksichtigung von Erkenntnissen der Forschung zu kollektivem Gedächtnis. Es geht darum nachzuweisen, dass Gedächtnis eine notwendige Bedingung menschlichen Selbstbewusstseins ist und Erinnerungskultur eine essenzielle Eigenschaft menschlicher Vergesellschaftung.“ (S. 24)

Zur Vermeidung der häufig anzutreffenden „begrifflichen Inkongruenzen“ (S. 18) diskutiert Berek auf der Grundlage einer Arbeitsdefinition von Erinnerungskultur und Gedächtnis die verschiedenen vorliegenden Begrifflichkeiten. Erinnerungskultur sind bei ihm „gesellschaftliche Prozesse […], in denen Vergangenheit reproduziert wird“, das kollektive Gedächtnis stellt dabei den „gesamte[n] Fundus der repräsentierten Vergangenheitsbilder, -texte und -bedeutungen“ (S. 33) dar.

Leider verliert sich Berek in den Ausführungen seiner Überlegungen zum Teil in bekannten begrifflichen Unschärfen und verwendet Erinnerung identisch mit Gedächtnis; Erinnerungskultur wird bei ihm gleichgesetzt mit sozialer Erinnerung/Gedächtnis. Was nun die Handlung des Erinnerns als Prozess (geleitet von gegenwärtigen Interessen) und damit auch die darin immanenten Aushandlungsprozesse bezeichnet, und was die Institutionalisierung von Erinnerung und deren Repräsentationen, bleibt unklar.

Innovativ an Bereks Vorhaben ist, dass das oftmals unzureichend geklärte Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv im Erinnern mit Ansätzen aus der Wissenssoziologie theoretisch fundiert wird. Erinnerungskultur wird somit nach Peter L. Berger und Thomas Luckmann als Teil des gesellschaftlichen Wissensvorrates verstanden. Mit dem von Luckmann vollendeten Lebenswelt-Konzept Alfred Schütz’ wird das kollektive Erinnern an die individuelle Ebene zurückgebunden. Hilfreich zur Analyse ist eine heuristische Unterteilung der „intersubjektive[n] Entstehung des Gedächtnisses“ (S. 56ff.) in die wissenssoziologischen Prozesse der Objektivierung, Typisierung und Sedimentierung. In einem weiteren Schritt geht Berek auf das Verhältnis von individuellem und kollektivem Wissensvorrat ein, das er als kodeterminiert beschreibt: „Der subjektive Wissensvorrat speist sich zum größten Teil aus dem gesellschaftlichen“ und „der subjektive Wissensvorrat […] [ist] Quelle des kollektiven Wissensvorrats“ (S. 67).

Auf Basis der vorliegenden interdisziplinären Literatur klopft Berek Aufbau und Funktion von Erinnerung mit dem Instrumentarium der Wissenssoziologie ab. Ausgehend von neuronalen und psychischen Grundlagen thematisiert er die Strukturen der Erinnerung und behandelt in einem sehr ausführlichen und gelungenen Teil deren individuellen und gesellschaftlichen Funktionen, um in einem weiteren Schritt das Vergessen zu thematisieren. Vergleichsweise kurz beschäftigt sich Berek mit unterschiedlichen Typen von Erinnerung. Hier geht es um Formen der Repräsentation, Medien sowie Trägergruppen, wobei er zwischen minoritären, subversiven, revolutionären und affirmativen Erinnerungskulturen unterscheidet. Diese Differenzierung wird anhand der Herrschaftsposition und der Funktion eines kollektiven Gedächtnisses für die jeweiligen Akteure vorgenommen.

In einem abschließenden Kapitel führt Berek seine Ergebnisse zusammen. Es sei ihm um eine „erinnerungskulturelle Erweiterung der Wissenssoziologie“ (S. 199) gegangen, darum, den „Nachweis der Durchdringung der Lebenswelt durch die Erinnerungskultur“ (S. 199) zu erbringen. Die Sichtbarmachung der Relevanz von Erinnerung als Teil der symbolischen Sinnwelten ist Berek ohne Frage gelungen, auch die Bedeutung von Erinnerungskultur in den individuellen Lebenswelten: Das Bedürfnis nach Erinnerung, das heißt die imaginierte relationale Verortung in Zeit und Raum und somit zu Geschichte und Gesellschaft, dient der sozialen Orientierung, zur Legitimierung von Identitäten und Institutionen. Die Einsicht, dass Erinnerung – oder um mit Berek zu sprechen: Erinnerungskultur – konstruiert und gleichzeitig Wirklichkeit konstruierend ist, ist keine neue Erkenntnis. Der Versuch einer konsistenten theoretischen Grundlegung hingegen schon, wenn auch die begrifflichen Trennungen in der Einsicht, dass sowohl individuelles als auch kollektives Gedächtnis Teil des Wissensvorrates sind, unscharf bleiben.

Ohne Frage ist es unerlässlich, auf die sozialkonstruktivistische Dimension von Erinnerung, ihrer Topoi und Bedeutungspolysemien hinzuweisen und den Blick auf die Kontexte, Akteure, Intentionen und Funktionen zu lenken. Trotz der Intention Bereks, Erinnerung nicht nach normativen Gesichtspunkten zu untersuchen („wahre Erinnerung“), sondern „Prozesse der Erinnerungskultur auf ihre Motivik, auf die beteiligten Subjekte und Kollektive und auch auf ihre Rezeption und Wirkung hin“ (S. 200) zu analysieren, bleiben die konkreten Vermittlungs- und Aushandlungsprozesse zwischen Individuum und Kollektiv oder auch zwischen Gruppen weitgehend auf Schlagwörter wie „Politik“, „Macht“ und „Herrschaft“ beschränkt. Hier wäre eine stärkere handlungs- oder machttheoretische Fundierung wünschenswert gewesen, die eben auch diese gesellschaftlichen Konstruktionsprozesse von Wahrheit, Normen etc. sowie Hegemonie- und Dominanzbildung kritisch thematisiert.

Bereks Theoretisierung von Erinnerung ist grundlegend, um den Konstruktionscharakter von Erinnerung stärker herauszustellen, und hat die Erinnerungsforschung um eine fundierte wissenssoziologische Lesart bereichert. Seine theoretischen Überlegungen illustriert er durchweg, indem er auf bereits vorliegende empirische Studien zurückgreift. Als Fazit lässt sich festhalten, dass Berek seinem im Titel und im Klappentext formulierten Anspruch nicht ganz gerecht werden kann. Nichtsdestotrotz sollte diese Monografie unbedingt Beachtung in der weiteren Auseinandersetzung mit Erinnerung finden.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension