P. Ressler: Nonprofit-Marketing im Schulbereich

Cover
Titel
Nonprofit-Marketing im Schulbereich. Britische Schulgesellschaften und der Erfolg des Bell-Lancaster-Systems der Unterrichtsorganisation im 19. Jahrhundert


Autor(en)
Ressler, Patrick
Reihe
Komparatistische Bibliothek - Band 20
Erschienen
Frankfurt am Main 2010: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
365 S.
Preis
€ 51,80
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Tim Köhler, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Universität Bielefeld

Globale Konvergenzen von Bildungsinstitutionen sind ein ständiger Anstoß politischer und bildungstheoretischer Diskussionen und rücken damit zunehmend auch in den Fokus bildungshistorischer Studien. Patrick Resslers Untersuchung von gemeinnützigen Schulgesellschaften unter einer Marketingperspektive schließt hier bildungshistorisch an die breite wirtschaftshistorische Forschung an.

Ressler untersucht in seiner Dissertation Unterrichtsorganisation und weltweite Verbreitung des englischen Elementarschulmodells, des sogenannten Bell-Lancaster-Systems. Zentrales Moment dieses Modells ist die disziplinäre Unterrichtsordnung der gegenseitigen Schüler-Schüler-Unterrichtung. Entwickelt wurde es, ohne dass es ein einzelnes einheitliches Modell gab, von zwei Geistlichen, dem missionarisch tätigen Lehrer Andrew Bell (1753-1832) in Madras und dem Londoner Armenlehrer Joseph Lancaster (1778-1838). Zügig nach der Publikation der jeweiligen Unterrichtsorganisationsmodelle um 1800 wurden viele Schulen in England nach dem Bell-Lancaster-System eingerichtet, woran sich eine weltweite Diffusion und Rezeption anschloss (S. 19ff.).

Im Zentrum der Untersuchung stehen die Verbreitung der Modelle sowie die Marketingstrategien und Aktivitäten der beiden Trägergesellschaften, der British and Foreign School Society (BFSS) und der National Society. Die Systeme basierten auf je unterschiedlich großen, aufeinander aufbauenden Lehreinheiten, denen Schüler als sogenannte Monitore vorstanden. Lehrer bildeten dazu einzelne Schüler für Hilfslehrer- und Ordnungsaufgaben als „intellectual and moral machines“ (S. 108) aus. Dabei ging es ausschließlich um eine Basisausbildung aus „Lesen, Schreiben, Rechnen und Religion“ (ebd.).

Im zweiten Teil der Studie charakterisiert Ressler als ein zentrales Argument seiner Arbeit die Trägergesellschaften als Non-Profit-Organisationen (NPO). Ausschlaggebend sei der Primat von Sachzielen gegenüber einer Gewinnorientierung (S. 47) gewesen. Ressler definiert NPO über die Kriterien „Organisatorische Permanenz, Nicht-Staatlichkeit, Sachzielorientierung, Autonomie und Freiwilligkeit“ (S. 50) und ordnet nach diesen Kriterien die BFSS und die National Society ein. Die National Society, die Bell unterstützte, wurde 1811 gegründet. Die Unterstützer Lancasters gründeten bereits 1808 eine Gesellschaft, die sich ab 1814 durch einen Bruch mit Lancaster nun British and Foreign School Society nannte. Zentral für den englischen Kontext, so die These, war die Gründung von NPOs im Bereich von Erziehung und Bildung (S. 55). In England begann der Staat erst einige Zeit nach den NPOs als Schulträger umfassender tätig zu werden. Tenorth 1 und viele andere haben für den Bildungsbereich im 19. Jahrhundert gezeigt, dass diese Entwicklung gerade Teil der schulischen Systembildung ist.

Im dritten Abschnitt stellt Ressler in komparatistischer Perspektive die beiden Institutionen und ihre Wirkungsfelder unter Marketing-Gesichtspunkten dar. Herausgestellt werden die zentralen Wirkungsfelder Schule, Mission und Armenfürsorge (S. 65). Alleinstellungsmerkmal, so Ressler, war die Fokussierung auf ein kohärentes System mit wenigen Zentralschulen als Dienstleister für die Unterrichts- und Schulgestaltung: „Dazu gehörten insbesondere die Bereitstellung eines Schul- und Unterrichtskonzepts, die Aus- und Weiterbildung von Lehrern, die Gewährung materieller Unterstützung sowie die Bereitstellung von Schulbüchern und anderen Unterrichtsmaterialien“ (S. 66). Beiden Organisationen inhärent war die christliche Mission: die National Society beschränkte sich auf den anglikanischen Kontext und die BFSS war überkonfessionell orientiert, was zu einem konfessionellen Konflikt analog zu jenem in der britischen gesellschaftlichen Elite führte.

Der vierte Teil beschreibt die Unterschiede der Unterrichtsorganisation der beiden Modelle aus der Perspektive der Produktpolitik. Bei Bell sind die Hauptaufgaben des Lehrers die Monitorenausbildung und deren Kontrolle, jedoch weniger das Unterrichten (S. 112). Innerhalb des Lehrsystems gab es einen arbeitsteiligen Aufbau und Kleinstdifferenzierungen nach Aufgaben und „Leistungsstärke“ der Schülerschaft. Ziel war es, durch Konkurrenz eine Steigerung der Leistungsbereitschaft von Schülern zu erwirken. Lancasters Modell differenzierte stärker nach Aspekten der Unterrichtsorganisation. Festzuhalten ist eine heterogene Ausgestaltung eines grundsätzlich gemeinsamen Prinzips, was in der Forschung meist, so Ressler, – an vielen Stellen jedoch auch von ihm selbst – einheitlich betrachtet wird (S. 123). Das System war durch Theoretisierung, zunehmende Diffusion und ständige Veränderung höchst erfolgreich und hielt sich daher in seinen Grundstrukturen noch über die 1850er-Jahre hinaus, als Pupil teacher System mit gegenseitiger Unterrichtung, jedoch mit nur noch marginalem Bezug zum Ursprungsmodell (S. 164ff.). Es drängt sich die Frage auf, ob nach dieser Diagnose überhaupt noch von einem ‚Modell‘ oder System die Rede sein kann.

Ressler untersucht in seiner Studie die internationale Verbreitung der Systeme anhand ihrer Kontakte in Form einer Netzwerkanalyse. Die Entfaltung der Methode und die Analyse tauchen sehr spät im Buch auf, wodurch etwa die Beschreibung der beiden Gesellschaften erst im Verlauf deutlich wird. Als Quellen dienen die Jahresberichte und einige weitere Publikationen der BFSS und der National Society zwischen 1797 und 1850. Untersuchungsgegenstände sind die jeweiligen Kontakte (S. 205ff.). Ausgewertet werden die Einträge durch eine digitale Datenbank generiert aus dem Projekt „Nationalerziehung und Universalmethode“ 2, wobei es hilfreich ist, dass die Codierungen im Anhang aufgeführt werden. Die Analyse ergibt für die BFSS eine große Anzahl von circa 2.000 Akteuren, im Unterschied zur National Society mit circa 190 belegten Kontakten (S. 212ff.). Mit der egozentrierten Netzwerkanalyse lässt sich die institutionelle Verbreitung in ihrer globalen Diffusion nachweisen. Sie zeigt deutlich die vielfältigen, weltweiten Verbindungen und die Verbreitung der Elementarschulorganisation in europäischen Ländern und den britischen Kolonien sowie neuer Referenzmodelle mit starker eigener Verbreitung auf. Ein einheitliches Bell-Lancaster-System existierte nach den Ergebnissen der Studie nicht. Die Leistung von Bell und Lancaster, so die Pointe der Arbeit, habe in der Entwicklung kohärenter Gesamtmodelle aus bekannten Praktiken sowie ihrer Verbreitung bestanden. Die Modelle trugen zudem zur Systembildung und zur Institutionalisierung der Lehrerausbildung in England bei.

Zum Ende der Arbeit erfolgt schließlich eine Diskussion des Diffusionsbegriffs. Die jeweilige Umsetzung des Modells ist so heterogen, dass das benutzte Konzept als solches in Frage gestellt werden müsse (S. 294f.). Ergo hebt Ressler sich vom Ansatz der Vertreter des World-Polity-Ansatzes des Neo-Institutionalismus ab 3, ohne jedoch ein alternatives Konzept vorzuschlagen.

Verbesserungswürdig und wahrscheinlich den Verlagsvorgaben geschuldet, zeigt sich das Literaturverzeichnis. Dies ist zwar alphabetisch geordnet, jedoch durch den jeweils vorangestellten Vornamen äußerst unübersichtlich und erschwert dadurch das Auffinden einzelner Hinweise.

Ressler behandelt die Gesellschaften als NPOs unter Marketinggesichtspunkten. Dadurch erscheint das Pädagogische nur am Rande und es geht ihm mehr um die Analyse des Erfolges eines in sich schon heterogenen Modells und seiner Diffusion. Ressler leistet mit seiner Analyse für folgende Bereiche einen Beitrag: 1. Schulorganisation unter historischer, globaler Perspektive; 2. Analyse einer Diffusion als Beitrag zur Universalisierung von Schule; 3. Schule in gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen und veränderten Arbeitsanforderungen: 4. Institutionelle Bausteine und Einflussfelder von Schulen durch verschiedene Marketingstrategien und -faktoren.

Über die konkrete Umsetzung der Modelle erfahren wir aufgrund der institutionellen Diffusionsperspektive eher Marginalien. Es stellt sich aufgrund der extrem heterogenen Rezeption und Diffusion die Frage, ob nicht vielmehr ein umfangreicher Beitrag zur Rekonstruktion der Systembildung von Schule geleistet wurde. Für diesen Zusammenhang bietet die Dissertation einen detaillierten und einen methodisch nachvollziehbaren Beitrag.

Anmerkungen:
1 Heinz-Elmar Tenorth, Schule im Kaiserreich, in: R. Dithmar / H.-D. Schultz (Hrsg.), Schule und Unterricht im Kaiserreich, Ludwigsfelde 2006, S. 11-32.
2 Jürgen Schriewer / Marcelo Caruso, „Nationalerziehung und Universalmethode: Globale Diffusionsdynamik und kulturspezifische Aneignungsformen der Bell-Lancaster-Methode im 19. Jahrhundert“, 2003-2010 an der HU Berlin, gefördert durch die DFG.
3 John W. Meyer / Francisco O. Ramirez, Die globale Institutionalisierung der Bildung, in: Georg Krücken (Hrsg.), Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, Frankfurt am Main 2005, S. 212-234.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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