Cover
Titel
Kodiak Kreol. Communities of Empire in Early Russian America


Autor(en)
Miller, Gwenn A.
Erschienen
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
$ 55.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martina Winkler, Abteilung für Osteuropäische Geschichte, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Gwenn Miller beginnt ihr Buch, das aus ihrer Dissertation mit dem durchaus bildhafteren Titel „She was handsome but tattooed. Communities of Empire in Early Russian Alaska, 1784-1820” entstanden ist, mit einem viel versprechenden ersten Kapitel. Die Insel Kodiak, vor der Küste Alaskas gelegen, wird hier verstanden als „the crossroads of early Alaskan colonial contact“ (S. xi). Ganz im Sinne des aktuellen Forschungsinteresses an Kontaktzonen, „middle ground“ und „Hybriditäten“1 soll eine Gesellschaft betrachtet werden, die geprägt war durch imperiale Ambitionen und koloniale Ausbeutung, aber auch durch kulturellen Transfer (in beide Richtungen) und alltägliche, oft familiäre Kontakte. Durch einen konzentrierten Blick auf die koloniale Situation auf Kodiak zur Zeit der Etablierung russländischer imperialer Herrschaft sollen komplexe Entwicklungen sichtbar werden. Miller will das Bild einer Gesellschaft zeichnen, die man nicht klar dualistisch in Unterdrücker und Unterdrückte einteilen kann, sondern deren Akteursgruppen in komplexeren Beziehungen zueinander standen: Da waren die Beamten der Russländisch-Amerikanischen Kompanie, da waren die so genannten Promyschlenniki (russische und sibirische Vertragsarbeiter), da waren Alutiiq (die ursprünglichen Bewohner Kodiaks), da waren Missionare sowie – nach einer Weile – die Gruppe der Kreolen: Kinder, die aus Verbindungen zwischen Russen und Alutiiq-Frauen hervorgegangen waren. Gender bildet eine weitere Dimension, welche diese Komplexität erweitert. Anregend ist auch Millers Idee, die Geschichte Russisch Amerikas stärker in den Kontext der imperialen Aufteilung und Verwaltung Nordamerikas einzubetten, anstatt sie – wie in den meisten einschlägigen Arbeiten – vom Ausgangspunkt des russländischen Imperiums zu betrachten. Schließlich stellt sie an sich den äußerst begrüßenswerten Anspruch, die koloniale Gesellschaft nicht nur aus der Sicht der Kolonisatoren zu beschreiben, sondern auch der indigenen Bevölkerung eine Stimme zu geben. Hehre Ansprüche also – solch ein Buch wäre tatsächlich eine große Bereicherung für die Geschichtsschreibung nicht nur zu Russland und speziell Russisch-Amerika, sondern auch im Feld der Nordamerika-Studien und der Imperiumsforschung generell.

Das Konzept des Kontakts und des Sich-Überschneidens wird auf mehreren Ebenen angewandt: Auf Kodiak trafen verschiedene Kulturen und unterschiedliche soziale Schichten aufeinander, von divergierenden Interessen ganz zu schweigen. Darüber hinaus sah sich das Russländische Reich hier mit konkurrierenden europäischen Imperien konfrontiert. Und schließlich betont Miller das Neben- und Miteinander unterschiedlicher Ebenen des Historischen: Das private Miteinander, so die Autorin, bestimmte die Erfolge und Niederlagen der russländischen imperialen Politik entscheidend mit. Die Gruppe der Kreolen wird von Miller sogar als „the backbone of the Russian enterprise in north America“ bezeichnet. Mit diesen Thesen führt Miller die umfangreiche Forschung fort, welche sich auf das Miteinander verschiedener Gruppen im imperialen Rahmen konzentriert und vor allem Strategien und Mechanismen jenseits gewalttätiger Unterdrückung analysiert.

Dabei ergeben sich jedoch einige Schwierigkeiten: Die wichtigste entsteht aus dem Wunsch, die Alutiiq bzw. die kreolische Bevölkerung Kodiaks gleichberechtigt mit den russländischen Akteuren in die Darstellung einzubeziehen. Der Quellenbestand dafür ist problematisch – noch problematischer allerdings ist, dass Miller diese Schwierigkeit kaum eingestehen will. Dieses Problem ist nicht neu, und zahlreiche Historiker/Anthropologen haben sich intensiv und oft erfolgreich damit auseinandergesetzt. Wenn es aufschlussreiche Studien über die Kulturen der indigenen Bevölkerung Nordwestamerikas und ihr Leben unter russländischer Herrschaft gibt2, so liegt eine wichtige Voraussetzung für deren Gelingen im Offenlegen und sehr bewussten Umgang mit der Quellenproblematik. Genau das allerdings fehlt in Millers Darstellung weitgehend, und so liegt eine Beschreibung auf der Basis fast ausschließlich russischer Quellen vor, die jedoch behauptet, die „gesamte“ Situation erfassen zu können. Und so wird über die Wahrnehmungen, Haltungen, Vorstellungen der Alutiiq und der Kreolen hauptsächlich spekuliert (nur ein Beispiel von vielen: „some Alutiiq women may very well have felt forced to surrender to the promyshlenniki“ (S. 46, Hervorhebungen M.W.) – vom Leser wird Empathie verlangt, nicht Analyse.

Ebenso wird der konzeptionell interessante Ansatz, Russisch-Amerika als einen Teil der nordamerikanischen Geschichte und weniger als eine Verlängerung des Russländischen Imperiums zu betrachten, kaum eingelöst. Nach der durchaus inspirierenden Einleitung erschöpft sich diese Einordnung weitgehend in oberflächlichen historischen Parallelisierungen. „In 1803, one year before Meriwether Lewis and William Clark embarked on their expedition […], the Hieromonk Gideon set out on his expedition from Eurasia to Kodiak“ (S. 113). Welcher Zusammenhang, welche Kontraste werden hier angedeutet? Dies bleibt, auch an anderen Stellen, diffus. Hinzu kommt die wiederholte, eher vage Einordnung in europäische Kontexte. Dabei ist es schlicht und einfach unzutreffend, dass „a Russian post in Alaska might be the only piece of the Russian empire that many Europeans would ever hear about or see" (S. 73) – das imperiale Russland war alles andere als ein isolierter, von Europa abgewandter Koloss. Die wiederholte Erwähnung der napoleonischen Kriege bleibt blass; welche Auswirkungen hatten die Entwicklungen in Europa und im europäischen Teil Russlands denn auf Kodiak? Auch bestimmte Begriffe, allen voran „kolonial“, hätten eine eigene Diskussion verdient.

Hinzu kommen leider noch zahlreiche Unklarheiten und tatsächliche Fehler. Die Zäsur, welche die Autorin wiederholt im Jahr 1818 ansetzt, überrascht. Hier sei die erste Phase der russländischen Präsenz in Amerika beendet, so Miller, aber ihr – eher nebenher erwähntes – Argument, die Russländisch-Amerikanische Kompanie sei nun von der Regierung übernommen worden, überzeugt nicht. Weder war die Kompanie vor 1818 ein eindeutig privates Unternehmen, noch ist danach eine einschneidende Veränderung zu erkennen. Weitere Fehler im Detail kommen hinzu (nur zwei von vielen: „Wilhelm Stellar“ hieß eigentlich Georg Wilhelm Steller, S. 23; und Staatsbauern waren natürlich leibeigen und nicht, wie Miller behauptet, frei, S. 56, FN 27).

Insgesamt liegt hier ein Buch mit wichtigen und spannenden Zielen vor, das in der Umsetzung an methodischen und ganz einfachen faktographischen Problemen weitgehend scheitert. Schade.

Anmerkungen:
1 Avtar Brah / Annie Coombes, Hybridity and its Discontents. Politics, Science, Culture, London 2000.
2 Nur wenige Beispiele: Joan B. Townsend, Ethnoarchaeology in Nineteenth Century Southern and Western Alaska. An Interpretive Model, in: Ethnohistory 20 (1973), 393-412; Aron Crowell, Archaeology and the Capitalist World System. A Study From Russian America, New York 1997; Sergei Kan, Russian Orthodox Missionaries at Home and Abroad. The Case of Siberian and Alaskan Indigenous People, in: Robert P. Geraci / Michael Khodarkovsky (Hrsg.), Of Religion and Empire. Missions, Conversion, and Tolerance in Tsarist Russia, Ithaca 2001, S. 173-201. Die etwas pauschale Vorverurteilung von Studien aus Zeiten des „Kalten Krieges”, die Miller auf S. 84 anbietet, tut der reichen und spannenden Forschung auch dieser Zeit Unrecht.

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