S. Bott u.a. (Hrsg.): Wirtschaftsgeschichte in der Schweiz

Cover
Titel
Wirtschaftsgeschichte in der Schweiz: Eine historiografische Skizze. L'histoire économique en Suisse – une esquisse historiographique


Herausgeber
Bott, Sandra; Hürlimann, Gisela; Mazbouri, Malik; Schiedt, Hans-Ulrich
Reihe
Traverse 2010/1, Zeitschrift für Geschichte - Revue d'histoire
Erschienen
Zürich 2010: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 18,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfred Zollinger, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Wirtschaftsuniversität Wien

Nach 50 thematischen Schwerpunktheften von traverse liegt nun ein Spezialheft zur wirtschaftshistorischen Forschung in der und zur Schweiz vor, dem weitere zur Sozial-, Kultur- und Politikgeschichte folgen werden. Der Schwerpunkt liegt auf Arbeiten der letzten beiden Jahrzehnte, doch sind auch davor erschienene grundlegende Publikationen berücksichtigt.

Auch in der Schweiz scheinen wirtschaftshistorische Konjunkturschwankungen an die allgemeinen gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen und Diskurse gebunden zu sein. So diagnostizieren die Verantwortlichen des Heftes (Sandra Bott, Gisela Hürlimann, Malik Mazbouri, Hans-Ulrich Schiedt) sowohl eine „Entökonomisierung der Geschichtswissenschaft“ als auch ein Nachlassen des früher deutlicher zu vernehmenden „sozialgeschichtlichen Impetus“. Und während noch in den 1960er- und 1970er-, teilweise noch in den 1990er-Jahren ein Dialog zwischen Ökonomie und Wirtschaftsgeschichte zu beobachten war – so etwa in den Arbeiten von Paul Bairoch und Hansjörg Siegenthaler – konstatieren die Herausgeberinnen und Herausgeber nun eine „weitgehende Abkoppelung“. Dazu hat auch die Versessenheit des neoklassischen Mainstreams der Ökonomie auf Modellbildung beigetragen, die historische Kompetenz allenfalls als Beiwerk betrachtete, aber auch die historische Forschung teilweise überforderte.

Wenn nun im Zuge der neuesten Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise allenthalben eine Rückbesinnung auf historisch fundierte Interpretationen zu beobachten war, steht dies – nicht nur in der Schweiz – in merkwürdigem Gegensatz zum Terrainverlust der universitär verankerten Wirtschaftsgeschichte – wobei jedoch der Anteil der Wirtschaftsgeschichte an universitären Lehrveranstaltungen und in wissenschaftlichen Zeitschriften an allen historischen Themen 1950 etwa 12,5 Prozent betrug und bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts auf 20 Prozent stieg. Noch vor der Krise geplant, könnte das Heft ein Beitrag zum wirtschaftsgeschichtlichen Angebot sein und somit „antizyklisch wirken“ – ein angesichts des mehr oder weniger schleichenden Rückfalls in den ökonomischen Mainstream vielleicht sehr frommer Wunsch.

Als „Leitartikel“ kann der Beitrag von Hans Ulrich Jost über das paradoxe Wesen der Wirtschaftsgeschichte in der Schweiz (Du caractère paradoxale de l’histoire économique en Suisse) gelten, in dem der Autor einige Stationen der Entwicklung der Forschung mit ihren konzeptuellen, epistemologischen und methodologischen Ausprägungen übersichtlich und informativ darstellt. Jost verweist auf Jean-François Bergier, der 1965 in der wirtschaftshistorischen Forschung ein Defizit feststellte, für das er den ausgeprägten Föderalismus und die Bevorzugung lokaler Untersuchungen zu Lasten der Anknüpfung an im Ausland geführten methodologischen Debatten, die Indienstnahme der Geschichte im patriotisch-nationalen Sinn und ein Erbe des 19. Jahrhunderts, in dem die „Großmeister“ die Wirtschaftsgeschichte nie besonders gewürdigt hatten, verantwortlich machte. Diesem Befund glaubt Jost in vielfacher Hinsicht zustimmen zu müssen, wobei er die Wirtschaftsgeschichte noch nicht auf jenem professionellen Niveau sieht, das eine autonome und international anerkannte universitäre Disziplin ermöglichen würde. Besonders gravierend sei das Fehlen von Gesamtdarstellungen (travaux de synthèse), was allerdings auch auf die komplexe Struktur der Schweiz und ihre stark zersplitterte Wirtschaft zurückzuführen ist. Das Paradoxe ist für ihn dabei der Umstand, dass dies in einem der am weitesten entwickelten modernen Länder zu beobachten sei, und zudem in einem, das sich am frühesten industrialisiert hat, bevor es im 20. Jahrhundert zu einem der weltweit bedeutendsten Finanzplätze aufstieg. Als Positivum ist jedoch das für 2011 geplante, unter der Ägide der Schweizerischen Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte stehende Handbuch zur schweizerischen Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts zu verbuchen, das auch auf internationale Vergleiche abzielt und so den „Fall“ Schweiz in die internationale Forschung integrieren soll. Dies entspricht ja durchaus dem Status dieser stark in die Weltwirtschaft eingebundenen „small open economy“, wobei – wie die Historiographie schon gezeigt hat – der Mythos vom kleinen, den „Großen“ ausgelieferten Land noch deutlicher zurückgestutzt werden dürfte (siehe den Aufsatz von Cédric Humair).

Jost verschweigt die erzielten Fortschritte und erbrachten Leistungen nicht. Und die übrigen Beiträge geben ein Bild davon. Die behandelten Themen folgen einerseits einem chronologischen Muster (Hans-Jörg Gilomen: Forschungen zur Schweizer Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters; Jon Mathieu: Literatur und Forschung zur Wirtschaftsgeschichte der frühneuzeitlichen Schweiz), andererseits dem sektoriellen Schema (Peter Moser zur Landwirtschaft in der wirtschaftshistorischen Geschichtsschreibung; Roman Rossfeld zur schweizerischen Binnenwirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert; Béatrice Veyrassat zu den Exportindustrien der ersten Industrialisierungsphase; Margrit Müller zu den Exportindustrien im 20. Jahrhundert; Christof Dejung zu schweizerischen Handelsfirmen im 19. und 20. Jahrhundert; Laurent Tissot zu Tourismus, Transport und Mobilität in der schweizerischen Wirtschaftsgeschichtsschreibung; Marc Perrenoud zu Wirtschaftspolitik und Außenbeziehungen; Cédric Humair zu Außenwirtschaft und Handelspolitik; Sébastien Guex und Malik Mazbouri zur Historiographie der Banken und des Finanzplatzes Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert; Gisela Hürlimann zu öffentlichen Finanzen und Budgetkulturen im Wandel). Ergänzt werden diese Beiträge durch drei weitere gründlich gearbeitete, die Statistiken, Datenbanken und anderen wirtschaftshistorischen Instrumenten gewidmet sind: Christian Pfister und Roman Studer zum „Swistoval“, dem Historischen Geldwertrechner für die Schweiz ab 1800 (wo en passant, aber anschaulich anhand verschiedener Indizes über den Jahreslohn Albert Einsteins im Jahre 1909 auf der Basis von Schweizerfranken 2008 informiert wird), Heiner Ritzmann-Blickenstorfer zur Historischen Statistik der Schweiz sowie Manuel Hiestand und Patrick Kammerer zum Projekt „Online-Datenbasis zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Schweiz“.

Die eigentlichen Themenbeiträge zeigen in einer quantitativen und qualitativen, kritisch-engagierten Bestandsaufnahme den State of the Art ebenso auf wie Desiderata und Forschungslücken. Letztere stehen oft in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zur volkswirtschaftlichen Bedeutung, was wie etwa beim Thema Banken und Finanzplatz sowohl dem Problem nicht geöffneter Archive als auch der wenig ausgeprägten Geneigtheit geschuldet ist, an der Erfolgsgeschichte und der offiziellen Mythenbildung zu kratzen – auch dies kein rein schweizerisches Phänomen. Die thematisch ausgerichteten Aufsätze liefern aber mehr als nur Informationen über Forschungsstand und –perspektiven. Sie verknüpfen diese mit historischen Basisinformationen zu den einzelnen Themenbereichen und stellen so selbst kleine, einführende Wirtschaftsgeschichten dar. Damit hat das verdienstvolle Heft fast Handbuchcharakter und bietet nützliche und aufschlussreiche Informationen. Insofern hat sich der entsprechende Wunsch der Herausgeberinnen und Herausgeber erfüllt. Die Publikation muss in dieser Hinsicht zur weiteren fruchtbaren, vor allem auch internationalen vertiefenden Auseinandersetzung so empfohlen werden, wie man sich auf die folgenden Spezialhefte freuen darf.

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