L. Ehrlich u.a. (Hrsg.): Ereignis Weimar-Jena

Titel
Ereignis Weimar-Jena. Gesellschaft und Kultur um 1800 im internationalen Kontext


Herausgeber
Ehrlich, Lothar; Schmidt, Georg
Erschienen
Köln 2008: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
299 S.
Preis
34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Helmreich, Seminar für deutsche Philologie, Georg-August-Universität Göttingen

Der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis einer im September 2007 an der Universität Jena abgehaltenen Tagung, die die Klassik Stiftung Weimar und der Sonderforschungsbereich „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“ (SFB 482) aus Anlass des 200. Todestages Anna Amalias von Sachsen-Weimar und des 250. Geburtstags ihres Sohnes, des Großherzogs Carl August, veranstaltet haben. Zwei Worte prangen auf dem Titelblatt des Bandes, die nicht im Titel des Jenaer SFB-Projektes standen: „Gesellschaft“, womit der politischen und der kultur- bzw. sozialhistorischen Perspektive der in diesem Band versammelten Aufsätze Rechnung getragen wird, sowie „international“.

Das Adjektiv „international“ bezieht sich nicht allein auf die Nationalität der Autoren des zu besprechenden Buches, sondern in erster Linie auf den überaus fruchtbaren Themenkomplex, der hier verhandelt wird. Es geht in der Tat um die vielfältigen Beziehungen, die die beiden Städte Weimar und Jena zu den großen deutschen und europäischen Zentren unterhalten haben. Dabei sollen die literarischen Bewegungen, die in Weimar und/oder Jena entstanden, nicht isoliert untersucht werden; vielmehr wird die Literaturgeschichte als Teil eines größeren Ganzen gesehen: Politik, Gesellschaft, Kunst, Naturwissenschaft, Ideen- und Sozialgeschichte sind eng miteinander verbunden. Dieses Faktum tritt besonders deutlich in den disziplinübergreifenden Schriften des bekanntesten der „Weimarer“ Autoren, bei Goethe, zutage, der dementsprechend in dem Sammelband auch besonders oft berücksichtigt wird.

Der Kulturraum Weimar-Jena ist in den Jahren 1770 bis 1830 nicht nur der Treffpunkt vieler Dichter und Denker aus dem gesamten deutschen Raum, sondern auch ein Punkt in einem breit gefächerten Kommunikationsnetz. In dem Sammelband entdeckt der Leser beispielsweise, wie groß im Bereich der Musik der Einfluss der Wiener Komponisten war (Cornelia Brockmann); Roland Krebs zeichnet in seinem spannenden Beitrag nach, wie wichtig für Goethes und Schillers projektierte Theaterreform Wilhelm von Humboldts Betrachtungen über den Pariser Theaterbetrieb waren, während Paul Raabes Ausführungen besonders anschaulich die Bedeutung der kulturellen Traditionen der verschiedenen Fürstengeschlechter hervorheben: So scheint die büchersammelnde Herzogin Anna Amalia in Weimar gewissermaßen eine Tradition einzuführen, die in ihrer Familie, dem Wolfenbütteler Fürstenhaus, über Generationen gepflegt wird. Spannend sind auch die politischen Implikationen der Verbindung des Hauses von Sachsen-Weimar mit der russischen Zarenfamilie, die Franziska Schedewie anhand der Briefe Carl Augusts an seine Schwiegertochter Maria Pavlovna, der Schwester Alexanders I., nachzeichnet.

Nicht immer geht es in diesem Band darum, die Wechselbeziehungen zwischen dem Weimar-Jenaer Raum und dem nahen oder fernen „Ausland“ nachzuzeichnen. In einigen Beiträgen werden andere Räume mit Sachsen-Weimar kontrastiert, so zum Beispiel in dem Beitrag Walter Schmitz’, der Dresdens kulturelle Stellung im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert beschreibt und analysiert, oder in Herbert Zemans Artikel, in dem die Leistung der Wiener Komponisten und ihrer Textdichter für die Entstehung eines spezifisch österreichischen Text- und Literaturverständnisses zwischen Aufklärung und Biedermeier herausgearbeitet wird. Sehr erhellend ist auch das Panorama der französischen Literatur, das Heinz Thoma in seinen Ausführungen liefert. Bekanntlich ist die seit der „Querelle“ immer wieder aufgenommene Frage der Beziehung zwischen der Kunst der Neuzeit und der klassischen Kunst und Literatur der Griechen und der Römer ein zentrales Thema vieler deutschsprachiger Autoren des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Vor diesem Hintergrund ist die Skizze, die Thoma vom Stand der Debatte in Frankreich entwirft, besonders lehrreich. Die Betrachtung der kulturgeschichtlichen Entwürfe, die Condorcet („Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain“, 1795), Madame de Staël („De la littérature“, 1800) und Chateaubriand („Le Génie du Christianisme“, 1802) in der revolutionären und nachrevolutionären Zeit vorlegten, zeigt, so Thoma, dass „die Antike, jedenfalls konzeptionell, keinen spezifischen qualitativen Referenzpunkt mehr bildet. Nicht jedoch in Sicht ist ein modernes Geschmacksideal. Es bleibt durch die eben die Antike nachahmenden Autoren des ‚Siècle de Louis XIV’ geprägt“ (S. 214).

Neben der internationalen Perspektive muss auch der zweite Schwerpunkt des zu besprechenden Bandes hervorgehoben werden: Die Analyse der Position Weimars und Jenas in der Zeit um 1800 wird eingebettet in den historischen und politischen Kontext, wobei insbesondere die Situation des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach im Alten Reich dargestellt wird. Dabei werden unter anderem die Bemühungen Carl Augusts thematisiert, der in dieser Zeit des Umbruchs versuchen musste, seinem kleinen Herzogtum Gestaltungsräume zu geben, der sich gleichzeitig aber auch für eine Reichsreform einsetzte und in den 1780er-Jahren eine aktive Rolle im Fürstenbund spielte. Zunehmend konnte auch das kulturelle Gewicht der „Weimarer“ Autoren in politisches Kapital umgemünzt werden. Der Glanz des Weimarer Musenhofes, der Jenaer Universität und der kulturellen Leistungen Wielands, Goethes, Herders und Schillers strahlte gewissermaßen auch auf das Herzogtum als politische Entität zurück.

Die Inszenierung „Weimars als deutsches Musenidyll“ (Georg Schmidt, S. 31), das von den Weimarer Autoren schnell zu einem deutschen „Bethlehem“ oder „Athen“ (S. 20) stilisiert wurde, ist auch das Ergebnis einer aktiven „Kulturpolitik“, die insbesondere in Gerhard Müllers Artikel („Kultur als Politik in Sachsen-Weimar-Eisenach“) nachgezeichnet wird. Die politische Schwäche des Herzogtums sollte durch die „Beförderung der Künste und Wissenschaften“ (Goethe, Zitat bei G. Müller, S. 67) gleichsam kompensiert werden. In dem Sammelband finden Forschungen zum Alten Reich ihren Niederschlag, die schon seit geraumer Zeit dem gängigen, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts insbesondere von den kleindeutsch-preußischen Historikern propagierten und noch heute gern wiederholten Bild des Reiches als „buntscheckigem Flickenteppich“, in dem das Reich als politisch machtloses Sammelbecken von Kleinstaaten und letztendlich von der Geschichte überholtes Gebilde erscheint, entgegentreten. Die Beschreibung der „Grundlagen und Perspektiven des deutschen Föderalismus“ (um den Titel des Artikels von Johannes Burkhardt hier wieder aufzunehmen) zeigt auch, wie sehr die historisch-politische Bewertung der Geschichte des Alten Reichs von der Weltsicht des Geschichtsschreibers abhängt: Dort, wo ein Treitschke in der deutschen Vielstaaterei einen Effizienzverlust ausmachte, weil die teilweise widerstreitenden Kräfte der verschiedenen deutschen Territorien keine deutsche Machtpolitik zuließen, kann heute, da nationale Machtpolitik im Lichte der katastrophalen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts in Deutschland nicht mehr wünschenswert erscheint, das komplexe System des Reiches, in dem ständig die Balance neu austariert werden musste, wiederentdeckt und aufgewertet werden.

Es ist in der gebotenen Kürze nicht möglich, hier all die Themen aufzuführen, die in dem Band angeschnitten werden. Die historische, geographische und pluridisziplinäre Perspektive erlaubt es, eine zentrale Epoche und einen zentralen Ort der deutschen Kulturgeschichte (den „Ereignisraum“ zu nennen allerdings vielen auswärtigen Teilnehmern der Tagung – im Gegensatz zu den Mitarbeitern des SFB – offensichtlich schwer fällt) neu zu erfassen und genauer zu verstehen. Dass die bewundernswerte Themenvielfalt des Sammelbandes auch eine gewisse Heterogenität nach sich zieht, ist wohl unvermeidbar. Hätten sich alle Beiträge auf ein enger gefasstes Thema konzentriert, wäre dies a contrario auf Kosten der weiten Perspektive gegangen. Dabei ist eine Weiterführung und Vertiefung des Forschungsansatzes des SFB 482 wünschenswert, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die verschiedenen Facetten der Geschichte Weimars und Jenas auszuleuchten und die vielfältigen nationalen und internationalen Verknüpfungen aufzuzeigen, die diesen Kulturraum ganz eigentlich auszeichnen.