M. Brumlik u.a. (Hrsg.): Umdeuten, verschweigen, erinnern

Cover
Titel
Umdeuten, verschweigen, erinnern. Die späte Aufarbeitung des Holocaust in Osteuropa


Herausgeber
Brumlik, Micha; Sauerland, Karol
Reihe
Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts 18
Erschienen
Frankfurt am Main 2010: Campus Verlag
Anzahl Seiten
257 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian Peters, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam / Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Über die spezifischen historischen Erfahrungen der Osteuropäer sagte der polnische Nobelpreisträger Czesław Miłosz in den 1980er-Jahren: „Es gibt zweifellos zwei Europa, und uns, den Bewohnern jenes zweiten, blieb es vorbehalten, in den innersten Kern der Dunkelheit des 20. Jahrhunderts einzutreten.“ (S. 244) Neben der stalinistischen Diktaturvergangenheit gehört zu diesem Erfahrungshintergrund auch der Holocaust, dessen Schwerpunkt weit stärker als gemeinhin bekannt in osteuropäischen Kontexten zu verorten ist, wie Timothy Snyder jüngst wieder betont hat.1 Der vorliegende Sammelband zur Geschichte des Umgangs mit dem Holocaust in Ostmittel- und Osteuropa widmet sich mithin Fragen von bleibender Aktualität.

Nun besteht freilich in den letzten Jahren kein Mangel an Sammelbänden, die Probleme nationaler Erinnerungskulturen in europäisch vergleichender Perspektive thematisieren.2 Vor dem Hintergrund dieser intensiven Forschungsdiskussion macht sich bei einigen Aufsätzen des hier zu besprechenden Bandes die außergewöhnlich lange Zeitspanne zwischen der Entstehung der Beiträge, die auf eine bereits 2004 veranstaltete Konferenz des Fritz Bauer Instituts zurückgehen, und ihrer Veröffentlichung bemerkbar. Ein Manko ist dies insbesondere bei denjenigen Beiträgen, welche die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in den postkommunistischen Gesellschaften nach 1989/90 analysieren. Auch die Ergebnisse der produktiven neueren Forschung in Ostmitteleuropa zu einschlägigen Fragen konnten teilweise nicht mehr zur Kenntnis genommen werden.3

Trotzdem bietet der Band eine Reihe erkenntnisträchtiger Fallstudien und konziser Problemaufrisse. Der regionale Schwerpunkt liegt dabei eindeutig auf Ostmitteleuropa: Fünf der elf Beiträge sind Polen gewidmet, drei weitere befassen sich mit der DDR. Zwar erfährt der Leser nichts über die nach 1989/90 immer wieder aufflammenden polnischen Debatten zur Mitschuld polnischer Akteure am Holocaust – mehrfach ausgelöst durch das Erscheinen jeweils neuer Bücher von Jan Tomasz Gross.4 Es entsteht aber ein differenziertes Bild des Umgangs mit der Holocaust-Vergangenheit in Volkspolen.

So berichtet Frank Golczewski über ein oftmals unbeachtetes Kapitel polnisch-jüdischer Geschichte: die Neuansiedlung jüdischer Holocaust-Überlebender in den ehemaligen deutschen Ostgebieten nach 1945. Besonders in Niederschlesien siedelten sich neben überlebenden Juden aus den Arbeitslagern von Groß-Rosen allein 80.000 jüdische Rückkehrer aus der Sowjetunion an. Die neu entstehenden jüdischen Gemeinschaften erfreuten sich, so Golczewski, bis 1948 relativ weitgehender politischer und kultureller Freiheiten, sahen sich zugleich jedoch einer inkonsistenten Politik des neuen polnischen Staates gegenüber. Offenkundig wurde ihre prekäre Lage schon durch die mit dem Pogrom von Kielce im Juli 1946 einsetzende massenhafte Emigrationsbewegung.

Ebenfalls mit den ersten Nachkriegsjahren befasst sich Klaus-Peter Friedrich, der die Auseinandersetzung des liberal-katholischen Krakauer „Tygodnik Powszechny“ („Allgemeines Wochenblatt“) mit dem Holocaust und den Nachkriegspogromen bis 1952 analysiert. Anders als konservativere Teile der katholischen Publizistik habe sich diese Zeitung explizit gegen Antisemitismus positioniert und die besondere Verfolgungsgeschichte der Juden hervorgehoben, zugleich aber auch polnische Hilfeleistungen für Juden betont.

Einen konzentrierten Überblick zur wissenschaftlichen Erforschung des Judenmords in Polen zwischen dem „Tauwetter“ von 1956 und der antisemitischen Kampagne von 1968 gibt Dieter Pohl. Er konstatiert einerseits eine – auch im Vergleich zur westlichen Historiographie – beachtliche Forschungsleistung, andererseits aber eine Isolierung des Judenmords von den vorherrschenden nationalkommunistischen Narrativen.

Beate Kosmala kontrastiert die Erinnerungsgeschichten der beiden Warschauer Aufstände, also des jüdischen Ghettoaufstands von 1943 und des polnischen Aufstands von 1944, im staatssozialistischen Polen. Während der Ghettoaufstand zum antifaschistischen Heldengedenken umdekoriert wurde, blieb das Gedenken an den polnischen Nationalaufstand zunächst tabuisiert und auch später stets problematisch. Kosmalas Darstellung tendiert allerdings dazu, die gesellschaftliche Erinnerung etwas zu idealisieren und die „Verdrängungs-, Verleugnungs- und Umdeutungsmanöver“ (S. 198) allein der Geschichtspolitik des Regimes zuzuschreiben.

Wie deutlich die Narrative der polnischen Literatur über Konzentrationslager und Judenvernichtung von den im gelenkten Literaturbetrieb der DDR vorgegebenen Deutungen abwichen, führt Thomas Taterka vor Augen, der die Umstände der Veröffentlichung einschlägiger polnischer Texte in der DDR untersucht. Er arbeitet insbesondere die Rolle des Komitees der Antifaschistischen Widerstandskämpfer (KAW) als „Diskurswächter von eigenen Gnaden“ heraus (S. 211). Das KAW verhinderte unter anderem die Publikation von Tadeusz Borowskis Auschwitz-Erzählungen (die 1946 erstmals in Polen und 1963 in der Bundesrepublik veröffentlicht wurden), weil diese den in der DDR propagierten Lagerdiskurs mit seiner Privilegierung der (deutschen) politischen Häftlinge unterminiert hätten. Die Leitlinien dieses Diskurses eruiert auch Bill Niven, und zwar am Beispiel des polnisch-jüdischen „Buchenwald-Kindes“ Stefan Jerzy Zweig. Dessen Rettung durch deutsche kommunistische Lagerhäftlinge sei in Bruno Apitz’ Roman „Nackt unter Wölfen“ sowie in den Verfilmungen zu einer wirkmächtigen „Gründungslegende der DDR“ (S. 230) umgestaltet, dabei jedoch teilweise verfälscht worden.5

Ein weiterer Beitrag (von Christian Lotz) skizziert den Umgang mit der NS-Vergangenheit im ostdeutschen Samizdat, während sich die drei übrigen Aufsätze des Bandes jeweils einzelnen osteuropäischen Ländern zuwenden. So stellt Anika Walke auf der Grundlage von Zeitzeugeninterviews Überlegungen zur Bedeutung der Kategorie „Gender“ bei der Anerkennung jüdischer Partisanenvergangenheit in der Sowjetunion vor. Zwei sehr brisanten Fällen widmen sich schließlich Joachim Tauber und Mariana Hausleitner, die die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in Litauen und Rumänien betrachten. Diese steht vor besonderen Schwierigkeiten, ist doch die jeweils eigene Mitverantwortung für den Judenmord sowohl im Falle des 1941 von der Wehrmacht besetzten Litauen als auch in Bessarabien und Transnistrien, den von rumänischen Truppen des Antonescu-Regimes besetzten bzw. verwalteten Gebieten, außerordentlich hoch. Wenngleich Tauber sowohl für Sowjetlitauen als auch für das Exil ein differenziertes Bild zeichnet und den politischen Willen zur Aufarbeitung des Holocaust nach der Unabhängigkeit betont, steht die Opferkonkurrenz mit den litauischen Opfern des Stalinismus einer rückhaltlosen Anerkennung litauischer Mitschuld am Holocaust weiter im Wege. Für Rumänien sieht Hausleitner eine Kontinuität des antisemitischen Feindbilds der „Judeo-Kommunisten“ (S. 81), das von den politischen Eliten in erster Linie aufgrund der Bemühungen um die Westintegration des Landes bekämpft werde.

Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, die „Aufarbeitung des Holocaust in Osteuropa“ als „spät“ zu charakterisieren. Zugleich macht die Zusammenschau der Beiträge jedoch klar, dass neben einer normativen Wahrnehmung der osteuropäischen Realität als defizitär auch eine weitergehende Historisierung dieser Prozesse zu leisten ist, um über das im titelgebenden Dreischritt „Umdeuten, verschweigen, erinnern“ anklingende, konventionell-teleologische Narrativ der Läuterung hinauszukommen. Insofern ist den Herausgebern Micha Brumlik und Karol Sauerland zuzustimmen, wenn sie als Quintessenz formulieren, „dass zur Erhellung der Erinnerungskultur in den […] osteuropäischen Ländern noch vieles getan werden muss“ (S. 24). In den vielfältigen Beiträgen ist dazu manche weiterführende Anregung zu finden.

Anmerkungen:
1 Vgl. Timothy Snyder, Der Holocaust: die ausgeblendete Realität, in: Transit 38 (2009), S. 6-19, Online-Version: <http://www.eurozine.com/articles/2010-02-18-snyder-de.html> (14.01.2011); sowie ders., Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin, New York 2010.
2 Vgl. z.B. Regina Fritz / Carola Sachse / Edgar Wolfrum (Hrsg.), Nationen und ihre Selbstbilder. Postdiktatorische Gesellschaften in Europa, Göttingen 2008 (vgl. Kerstin von Lingen: Rezension zu: Fritz, Regina; Sachse, Carola; Wolfrum, Edgar (Hrsg.): Nationen und ihre Selbstbilder. Postdiktatorische Gesellschaften in Europa. Göttingen 2008, in: H-Soz-u-Kult, 04.07.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-3-011> [24.01.2011]); Birgit Hofmann u.a. (Hrsg.), Diktaturüberwindung in Europa. Neue nationale und transnationale Perspektiven, Heidelberg 2010.
3 Beispielhaft wären hier folgende neuere Studien zur Erinnerungskultur im staatssozialistischen Polen zu nennen: Zofia Wóycicka, Przerwana żałoba. Polskie spóry wokół pamięci nazistowskich obozów koncentracyjnych i zagłady 1944–1950 [Unterbrochene Trauer. Polnische Auseinandersetzungen um die Erinnerung an die nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager 1944–1950], Warszawa 2009; Renata Kobylarz, Walka o pamięć. Polityczne aspekty obchodów roznicy powstania w getcie warszawskim 1944–1989 [Kampf um die Erinnerung. Politische Aspekte der Feierlichkeiten zu den Jahrestagen des Aufstands im Warschauer Ghetto 1944–1989], Warszawa 2009; Joanna Wawrzyniak, ZBoWiD i pamięć drugiej wojny światowej 1949–1969 [ZBoWiD und die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg 1949–1969], Warszawa 2009 (ZboWiD war der staatliche polnische Veteranenverband); außerdem der monumentale kulturwissenschaftliche Sammelband von Tomasz Majewski / Anna Zeidler-Janiszewska (Hrsg.), Pamięć Shoah. Kulturowe reprezentacje i praktyki upamiętnienia [Erinnerung an die Shoah. Kulturelle Repräsentationen und Erinnerungspraktiken], Łódź 2009.
4 Eine solche Debatte dürfte in den kommenden Monaten angesichts des Erscheinens von Gross’ Essay „Złote żniwa“ [„Goldene Ernte“] erneut bevorstehen; vgl. Michał Olszewski, Na obrzeżach Zagłady [An den Rändern der Vernichtung], in: Tygodnik Powszechny [Allgemeines Wochenblatt], 27.12.2010, online unter <http://tygodnik.onet.pl/30,0,57364,na_obrzezach_zaglady,artykul.html> (14.01.2011).
5 Siehe dazu inzwischen auch Bill Niven, Das Buchenwald-Kind. Wahrheit, Fiktion und Propaganda, Halle (Saale) 2009 (vgl. Cornelia Siebecks Rezension der englischen Originalausgabe: Cornelia Siebeck: Rezension zu: Niven, Bill: The Buchenwald Child. Truth, Fiction and Propaganda. New York 2007, in: H-Soz-u-Kult, 21.06.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-2-179> [24.01.2011]).