A. Hepp u.a. (Hrsg.): Medienkultur im Wandel

Cover
Titel
Medienkultur im Wandel.


Herausgeber
Hepp, Andreas; Höhn, Marco; Wimmer, Jeffrey
Reihe
Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft 37
Erschienen
Konstanz 2010: UVK Verlag
Anzahl Seiten
474 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Grampp, Institut für Theater- und Medienwissenschaft, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Der Sammelband „Medienkultur im Wandel“ geht auf die Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft 2009 in Bremen zurück. Im einleitenden Text der Herausgeber ist zu lesen: Mit „Medienkultur“ soll „ein Thema behandelt [werden], das über viele Jahre hinweg offenbar eher ein Schattendasein im Gesamt der kommunikations- und medienwissenschaftlichen Forschung hatte“ (S. 9). Obwohl klar ist, dass jede Publikation beinahe zwangsläufig mit einem vermeintlichen Desiderat in der Forschung legitimiert wird, so ist solch eine Beschreibung doch äußerst verwunderlich. Denn gerade „Medienkultur“ ist einer der Begriffe, der in der Medienwissenschaft der letzten Jahre sehr viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat und keinesfalls ein „Schattendasein“ führen musste. Abzulesen ist das schon allein daran, dass inzwischen nicht nur Basisliteratur zu diesem Paradigma verfügbar ist, sondern auch Studiengänge namens Medienkulturwissenschaft eingerichtet sind.1

Einsichtiger wird die Aussage dann, wenn man sich klar macht, dass die Herausgeber offensichtlich eine bestimmte Kommunikations- und Medienwissenschaft meinen. Es geht hier nämlich nicht um die aus der geistes- bzw. kulturwissenschaftlichen Forschung hervorgegangene Medienwissenschaft, wo der Begriff „Medienkultur“ seit langem etabliert ist, sondern um eine Kommunikationswissenschaft, die sich der sozialwissenschaftlichen bzw. der publizistischen Tradition verpflichtet fühlt. Diese Differenz, die der Wissenschaftsrat mit den schönen begrifflichen Wendungen „Kommunikationswissenschaft“ vs. „kulturwissenschaftliche Medialitätsforschung“ auch forschungspolitisch zementiert hat, ist nicht nur ein diskursives Phänomen im Kampf um Ressourcen, sondern sie zeigt sich tatsächlich auch in der konkreten Forschungspraxis.2 Der „kulturwissenschaftlichen Medialitätsforschung“ werden gemeinhin Merkmale zugewiesen wie: Ausrichtung an hermeneutischen Interpretationsverfahren, historisch perspektiviert, primär fiktionale Werke analysierend, meist aus dem audiovisuellen Bereich, aber auch: Ausweitung des Medienbegriffs bis ins Unkenntliche. Die kommunikationswissenschaftliche Forschungstradition dagegen wird eher mit Attributen ausgestattet wie: empirisch, gegenwartszentriert, mit dem primären Untersuchungsgegenstand journalistischer Kommunikationsprozesse, Limitierung des Medienbegriffs auf technische Kommunikationsmittel.3 So stereotyp diese Gegenüberstellung auch sein mag und so antiquiert solch eine Unterscheidung in Zeiten der Vernetzung, Inter- oder Transdisziplinarität daher kommen mag, so klar findet sie sich in der konkreten Forschungspraxis. Gerade der vorliegende Sammelband bietet hierfür ein anschauliches Beispiel.

So erfüllt „Medienkultur im Wandel“ das „kommunikationswissenschaftliche“ Attribut der Gegenwartszentrierung nahezu vollständig. Zwar hat der Sammelband auch eine kleine historische Sektion (S. 109-147), jedoch sind die allermeisten Texte ausschließlich an Phänomenen der Gegenwartskultur interessiert, beispielsweise dem Online-Wahlkampf von Obama (im Beitrag von Caja Thimm), am Social Web (im Beitrag von Uwe Hasebrink u.a.), an den Mohammed-Karikaturen (im Beitrag von Stig Hjarvard), an der Verwendung von Mobiltelefon und Internet durch Migranten (im Beitrag von Caroline Düvel) oder an Computerspielkulturen (im Betrag von Jeffrey Wimmer).

Weiterhin wird gleich in der Einleitung auf die empirische Ausrichtung des Gesamtunternehmens aufmerksam gemacht, ja eine solche als konstitutiv gesetzt. Denn die Herausgeber wollen die Kommunikations- und Medienwissenschaft als „empirisch arbeitende Sozialwissenschaft“ (S. 21) verstanden wissen und dementsprechend Grundzüge einer „empirischen Medienkulturforschung“ (S. 22) entwerfen. „Empirisch“ kann freilich viel bedeuten. Hier meint es mindestens dreierlei: Zunächst einmal ist damit eine gewisse Skepsis gegenüber deduktiven Großtheorien ausgedrückt, die (Medien-)Technik als monokausale Ursache aller kultureller Prozesse verstehen, wie sie nicht zuletzt in der kulturwissenschaftlich orientierten Medienwissenschaft lange Zeit virulent waren (siehe zu dieser Kritik die Einleitung des Bandes [S. 20] oder auch den Beitrag von David Morley [S. 49]). Konsequenterweise geht es zweitens in den einzelnen Beiträgen vor allem um Fallstudien konkreter Medienpraktiken. Drittens finden sich in dem Sammelband vergleichsweise viele quantitative Datenauswertungen, Statistiken und vor allem sehr viele Befragungen von Akteuren im Medienfeld, seien das Fernsehproduzenten, Computerspieler oder Journalisten.

Fiktionale Angebote sind im gesamten Buch so gut wie überhaupt kein Thema, wie überhaupt (audio-)visuelle Wahrnehmungsphänomene im Gegensatz zu Kommunikationsprozessen nur marginal angesprochen werden. Zudem nimmt die Untersuchung journalistischer Handlungs- und Systemprozesse erheblichen Raum ein. Damit sind in diesem Sammelband tatsächlich genau jene Charakteristika zu finden, die gemeinhin einer sozialwissenschaftlich orientierten Medienforschung zugesprochen werden. Auch hinsichtlich des zu Grunde gelegten Medienbegriffs bestätigt sich dies: Zwar wird er in der Einleitung der Herausgeber nicht eigens thematisiert beziehungsweise schlicht als „technische Kommunikationsmedien“ (S. 8) definiert, was immer damit genau gemeint sein soll. Doch zeigt sich in den jeweiligen Beiträgen, das damit wohl „die üblichen Verdächtigen“ umschrieben sind, allen voran die Zeitung, darüber hinaus Mobiltelefon, Internet und Computerspiel.

Solch eine Limitierung des Medienbegriffs stellt eine erhebliche Differenz zum Verständnis von „Medien“ in der kulturwissenschaftlichen Medialitätsforschung dar. Dort können bekanntlich nicht nur Zeitung, Mobiltelefon und Internet Medien sein, sondern auch Höhlenzeichnungen (Vilém Flusser), „das Lasttier“ (Paul Virilio) und „die Frau“ (Werner Faulstich); oder Medialität wird gleich transzendentalphilosophisch als Möglichkeitsbedingung jeglicher Kultur begriffen. Eine Beschränkung, wie sie in „Medienkultur im Wandel“ vorgenommen wird, ist vor diesem Hintergrund durchaus sympathisch, macht es das Feld doch erst einmal kleiner. Jedoch bleibt eine genaue Definition andererseits ebenso ausgespart wie die Integration einer historischen Tiefendimension jenseits moderner medialer Phänomene. So wird nicht wirklich geklärt, welche Kultur eigentlich keine Medienkultur ist und wie sich eine Medienkultur davon unterscheiden könnte. Ein schlichter Verweis darauf, dass „in Medienkulturen ‚das Mediale‘ als Zentrum der Gesellschaft konstruiert wird“ (S. 21), reicht dafür wohl kaum aus.

Das Buch bietet zahlreiche interessante Einzelbeobachtungen. Um nur zwei Beispiele anzuführen: Im Beitrag von Caja Thimm zum Online-Wahlkampf Obamas wird nicht nur ein naheliegender Vergleich zu traditionellen Wahlkampfformen gezogen (S. 366ff), sondern es wird auch darauf hingewiesen, dass Obamas Online-Wahlkampf allein möglicherweise gar nicht entscheidend war. Mindestens ebenso wichtig sei gewesen, dass Obama in den klassischen Massenmedien permanent als Kandidat verhandelt wurde, der eine Onlinepräsenz hat. Damit war ein positives Image verbunden: Obama wäre als Präsident up to date, eine Art Steve Jobs unter den Präsidenten (S. 381). Ebenso instruktiv liest sich der Beitrag von Sigrid Baringhorst, Veronika Kneip und Johanna Niesyto, in dem der „Wandel von Protest- und Medienkulturen“ (S. 385) analysiert wird. Entgegen der Vermutung, dass die Protestbewegungen im Netz vollkommen anders ablaufen als traditionelle, nämlich in Form quasi-anarchistischer, dezentralisierter Graswurzelbewegungen, machen die Autoren in ihrer empirischen Studie auf die weiterhin bestehende Abhängigkeit solcher Protestbewegungen von institutionell organisierten kollektiven Akteuren aufmerksam (S. 398).

Jenseits solcher Einzelaspekte ist der Sammelband vor allem in seiner universellen Zugriffsweise spannend, auch und vor allem für kulturwissenschaftlich orientierte Medienforscher. Dort erfährt man alles, was man über die gravierenden Unterschiede zwischen kommunikationswissenschaftlicher Medienforschung und kulturwissenschaftlicher Medialitätsforschung wissen muss in actu. Dem sozialwissenschaftlich orientierten Medienforscher sei dagegen die Dokumentation der letzten Jahrestagungen der Gesellschaft für Medienwissenschaft auf deren Homepage anempfohlen.4 Schon das Thema der Tagung spricht Bände hinsichtlich der facettenreichen Zugriffsweisen wie der schwindelerregenden Entgrenzung des Gegenstandes „Medien“ in der kulturwissenschaftlichen Medialitätsforschung. Thema: „Loopings“. Ein Sammelband dazu ist nicht in Planung.

Anmerkungen:
1 Vgl. unter anderem Claus Pias u.a. (Hrsg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart 1999; Claudia Liebrand u.a. (Hrsg.), Einführung in die Medienkulturwissenschaft, Münster 2006.
2 Siehe dazu: Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Kommunikations- und Medienwissenschaften in Deutschland (25.5.2007), in: <http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/7901-07.pdf> (01.12.10). Zur Selbstbeschreibung der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) vgl.: DGPuK, Kommunikation und Medien in der Gesellschaft: Leistungen und Perspektiven der Kommunikations- und Medienwissenschaft. Eckpunkte für das Selbstverständnis der Kommunikations- und Medienwissenschaft. Selbstverständnispapier der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) (01.05.2008), in: <http://www.dgpuk.de/index.cfm?id=3376> (01.12.10). Siehe dagegen die Selbstbeschreibung der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM): GfM, Kernbereiche der Medienwissenschaft. Ein Strategiepapier der Gesellschaft für Medienwissenschaft (04.10.2008), in: <http://www.gfmedienwissenschaft.de/gfm/start/index.php?TID=188> (12.11.10).
3 Vgl. zu dieser Unterscheidung beispielsweise aus Sicht der kulturwissenschaftlichen Medialitätsforschung Werner Faulstich, Einführung in die Medienwissenschaft, München 2002, S. 55ff. und seitens der Kommunikationswissenschaft Heinz Bonfadelli, Medieninhaltsforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen, Konstanz 2002, S. 40ff.
4 Siehe: GfM, GfM-Jahrestagung 2010: „Loopings“ – Konzept und Call for Panels, in: <http://www.gfmedienwissenschaft.de/gfm/start/index.php?TID=494> (01.12.10).

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