Cover
Titel
Osteuropa – Schlachtfeld der Erinnerung.


Herausgeber
Flierl, Thomas; Müller, Elfriede
Erschienen
Anzahl Seiten
191 S.
Preis
€ 16,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klemens Kaps, Institut für osteuropäische Geschichte, Universität Wien

Der vorliegende Sammelband widmet sich den Themenkomplexen kulturelles Gedächtnis, historische Erinnerung und Erinnerungspolitik, um die sich in osteuropäischen Gesellschaften im Lauf der vergangenen Jahre handfeste Kontroversen entsponnen haben. Wie die Herausgeber Thomas Flierl und Elfriede Müller in der Einleitung betonen, stellt die thematische Klammer der Aufsätze die in den letzten Jahren beobachtbare „Renationalisierung und Ethnisierung der staatlichen Geschichtspolitik in Osteuropa“ (S. 7) dar. Diese Rückbesinnung auf nationale Identitäten ist eine Folge der Transformationsprozesse nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft in Osteuropa, wodurch historische Diskurse einen lebhaften Impuls erhielten, zugleich aber oft neuen Umdeutungen, Manipulationen und politischen Instrumentalisierungen ausgesetzt waren und sind.

Die Stärkung nationaler Erinnerungsdiskurse stellt zudem eine beachtliche Herausforderung für die Herausbildung eines gesamteuropäischen Geschichtsbewusstseins dar, was die Herausgeber an der Diskussion um einen gemeinsamen europäischen Gedenktag festmachen, der die „conflicting memories“ der unterschiedlichen Bewertung von Nationalsozialismus und Holocaust sowie kommunistischer Systeme deutlich macht (S. 10). Die elf Beiträge des Bandes untersuchen diese Kontroversen um divergierende Auffassungen und Deutungen der Vergangenheit in einer Reihe osteuropäischer Staaten.

Polen wird aufgrund der speziellen Bedeutung der deutsch-polnischen Beziehungen mit vier Beiträgen besonders große Aufmerksamkeit gewidmet. Karol Sauerland analysiert in seinem Beitrag die Hintergründe für die unterschiedliche Bewertung der sowjetischen Herrschaft in Ost- und Westeuropa (S. 19-32): Den polnischen Erinnerungsdiskurs stuft er als komplex ein, da dieser nicht nur durch den Status Polens als „Opfer zweier Aggressoren“ (S. 31), sondern auch durch die jahrzehntelange Prägung der Geschichtspolitik durch das kommunistische System bestimmt ist, wodurch Ereignissen wie dem Aufstand des Warschauer Ghettos (1943) oder dem Warschauer Aufstand (1944) selektiv und verzerrend gedacht wurde. Kritisch bleibt anzumerken, dass Sauerland selbst das Bild der „zwei Aggressoren“ zu wenig differenziert betrachtet.

Die Potsdamer Historikerin und Kulturwissenschaftlerin Agnieszka Pufelska (S. 33-56) arbeitet die Bedeutung des Warschauer Aufstands für den geschichtspolitischen Diskurs des polnischen nationalkonservativen Milieus heraus, der mit der Eröffnung des Museums für den Warschauer Aufstand (2004) einen Höhepunkt erfuhr. Indem das Museum ein „Selbstbild vom heroischem Opfertum“ (S. 46) propagiert und über sein „hagiographisches Narrativ“ auch zur Selbstlegitimierung nationalkonservativer Politiker beitragen soll, verwischen sich hier die Grenzen zwischen professioneller Geschichtswissenschaft und Parteipolitik. Diese vage Grenzziehung kennzeichnet auch das in Danzig von den derzeit regierenden Liberalkonservativen initiierte und im Bau befindliche „Museum des Zweiten Weltkriegs“, das jedoch einem sachlicheren Diskurs verpflichtet ist und eine gesamteuropäische Perspektive reklamiert. Allerdings entsteht auch hier durch den zeitlichen Rahmen der Ausstellung, die mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs einsetzt und mit der Gründung der Gewerkschaft Solidarność endet, eine verzerrende Interpretation, die die Grenzen von nationalsozialistischer und kommunistischer Herrschaft verwischt.

Diesen konträren polnischen Museumsprojekten widmen sich auch die folgenden zwei Beiträge. Holger Politt (S. 57-64) arbeitet bei seiner Analyse des Museums vom Warschauer Aufstand die verzerrenden Auslassungen in der Ausstellungskonzeption heraus und verweist auf den parteipolitischen Konnex, in dem der Aufstand zum Symbol für die kommunistische Herrschaft wurde, zu der auch die linksliberalen Oppositionellen gezählt werden. Ein Anmerkungsapparat, auf den der Autor verzichtet, wäre insbesondere für die Quellenangaben wünschenswert. Krzysztof Pilawski (S. 65-70) wiederum konzentriert sich auf die personellen und politischen Verflechtungen bei der Konzeption sowohl des Warschauer als auch des Danziger Museums und konstatiert nicht nur bei den beiden Museumsprojekten, ungeachtet ihrer inhaltlichen Differenzen, eine strukturelle Ähnlichkeit, die sich durch die Nähe von Wissenschaft und Parteipolitik auszeichnet. Diese macht sich auch in dem von der Regierung beeinflussten Institut für das nationale Gedächtnis (IPN) bemerkbar.

Strukturell ähnlich, aber in Sprache und Praxis weitaus radikaler verlaufen die geschichtspolitischen Diskurse der ungarischen Konservativen und Rechtsextremen. Wie die Journalistin und Soziologin Magdalena Marsovszky (S. 71-90) herausarbeitet, setzt die ungarische Rechte nicht nur historische antikommunistische Symbole gezielt zur Delegitimierung von Sozialdemokraten und Liberalen ein, sondern greift hierbei auf markante und teilweise aggressive antisemitische Kodes zurück. Marsovszky macht deutlich, dass das nationalistische Klima auch eine Reaktion auf den von der ungarischen Gesellschaft als Unterordnung empfundenen EU-Beitritt und die wirtschaftlichen Transformationsprozesse darstellt, womit unterstrichen wird, dass die Schaffung eines europäischen Geschichtsbewusstseins und seine Ethnisierung nicht einfach gegenläufige, sondern miteinander verwobene Phänomene sind.

Einen institutions- und rechtsgeschichtlichen Ansatz wählte Jan Pauer für seine Untersuchung des unterschiedlichen Umgangs mit dem kommunistischen Erbe in Tschechien und der Slowakei nach 1989 (S. 91-104). Die gegenwärtigen abweichenden Muster bauen dabei auf der unterschiedlichen Stärke der Kommunistischen Partei vor der Machtübernahme 1948 auf. Deren schwache Verankerung in der Slowakei ließ sie zum Träger von Modernisierung und slowakischer Elite werden, weshalb auch die Verzahnungen nach der Wende enger blieben und die rechtliche Aufarbeitung der kommunistischen Herrschaft nur zögernd vorankam. In Tschechien hingegen wurden aufgrund einer Allianz aus radikalen Antikommunisten und Systemantikommunismus Lustrationsgesetz und Freigabe der Geheimdienstakten durchgesetzt, jedoch auf Kosten einer parteipolitischen Abhängigkeit der historischen Aufarbeitung. Zugleich kam es auch zu einer negativen Umdeutung der Rolle ehemaliger Dissidenten um den Prager Frühling und die Charta 77.

Einer Umdeutung unterliegt auch die Rolle der Partisanen in Slowenien, wie Oto und Breda Luthar in ihrem Beitrag konstatieren (S. 105-129). Massengräber von Partisanenopfer werden zum Anlass genommen, durch eine Täter-Opfer-Umkehr im Zuge eines Diskurses der „nationalen Einheit“ die Grenzen zwischen antifaschistischen Partisanenkämpfern einerseits und mit den Achsenmächten kollaborierenden Gruppen andererseits zu verwischen.

Mit der Analyse von Diskurs und Praktiken der Studierendenproteste in Jugoslawien im Jahr 1968 legt Krunoslav Stojaković ein Fallbeispiel vor (S. 131-156), das weniger eine Analyse eines geschichts- oder erinnerungspolitischen Diskurses darstellt, als vielmehr zu dessen Differenzierung beitragen möchte. In dieser Lesart erschweren die Brüche und Heterogenitäten des „selbstverwalteten“ Sozialismus eine Einordnung in das nationale Narrativ und verlangen nach einer differenzierten Analyse jenseits nationalistischer Paradigmen.

Eine literarisch-essayistische Zugangsweise, die vor dem Hintergrund der übrigen Beiträge des Bandes allerdings etwas unstimmig wirkt, wählte Bosiljka Schedlich für ihre Reflexion über die individuellen Traumata, die Erfahrungen von Krieg und Gewalt in der persönlichen Erinnerung zurücklassen (S. 157-168).

Am Beispiel der litauischen Unabhängigkeitskämpfer demonstriert Roland Mischke (S. 169-174) die komplexen Täter-Opfer-Beziehungen in einem Land, dessen Partisanen zwar gegen die Sowjetunion kämpften, aber auch Massaker an der jüdischen Bevölkerung verübten. Der ohne Anmerkungsapparat auskommende Beitrag wirft jedoch die Frage auf, ob die Repressionen litauischer Partisanen gegen die jüdische Bevölkerung nur auf eine „Bodenschicht an Kriminellen“ zu reduzieren sind, die eine Ausnahme vom Bild der „hehren Helden“ (S. 172) der Partisanen darstellten.

Im letzten Beitrag des Bandes widmet sich Franziska Bruder mit der ukrainischen Erinnerungs- und Geschichtspolitik einem in den vergangenen Jahren besonders kontrovers diskutierten Feld (S. 175-189). Dementsprechend bietet der Beitrag auch wenig neue Information, stellt aber eine gelungene Zusammenfassung über aktuelle Entwicklungen dar. Bruder deutet in ihrem Text die ukrainische Geschichtspolitik als ein wichtiges Element in der nachholenden Nationsbildung des Landes und zeigt auf, wie durch selektives Ausblenden und manipulative Umdeutung nicht nur die Verstrickungen der westukrainischen Nationalisten in Holocaust, Pogrome und die Massaker an der polnischen Zivilbevölkerung verdrängt wird: Vielmehr kommt es zu einer Ethnisierung der ukrainischen Nation, aus der Russen und Juden ausgeschlossen bleiben. Die von Bruder aufgezeigte problematische Rolle des ehemaligen Präsidenten Viktor Juščenko, in dessen Partei rechtsradikale Kräfte ihren fixen Platz hatten, wirft die Frage nach der Rolle der zentral- und ostukrainischen Akteure auf, die in diesem Beitrag allerdings ausgeblendet bleibt, womit die Heterogenität der ukrainischen Erinnerungspolitik wohl nicht hinreichend deutlich gemacht wird.

Insgesamt bietet der vorliegende Band eine anregende und gut lesbare Lektüre, die durch ausgeprägte Aktualität gekennzeichnet ist und sich nicht nur an ein Fachpublikum richtet. Dass manche Beiträge dennoch durch aktuelle Ereignisse – wie den Wahlsieg der ungarischen Rechtskonservativen – bereits wieder teilweise überholt sind, ändert nichts an ihrer Relevanz und Aussagekraft. Die in den einzelnen Texten herausgearbeiteten Elemente stellen eine solide Grundlage für einen Vergleich dar, der in der Einleitung noch stärker akzentuiert werden hätte können.

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