P. Roche (Hrsg.): Lucan, De bello Ciuili, Book I

Cover
Titel
Lucan, De Bello Ciuili, Book I. Edited with a Commentary


Herausgeber
Roche, Paul
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 418 S.
Preis
£ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Habermehl, Die griechischen christlichen Schriftsteller, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Gibt es ein erfreulicheres Zeugnis für die Aufmerksamkeit, die Lukan heute allerorten erfährt, als diese neue Arbeit zu Bellum civile I von den Antipoden? Kommentare zu Lukan bedürfen keiner Rechtfertigung, wohl aber einer zu Buch I, das in jüngerer Vergangenheit konkurrenzlose vier Mal kommentiert wurde.1 Eine solche Rechtfertigung bleibt Roche dem Leser schuldig. Indirekt liefert er sie dafür umso eindrücklicher – wenn seine vier Vorgängerkommentare sich im Vergleich mit ihm mitunter wie Proseminararbeiten ausnehmen.

Die substantielle Einführung trägt mit ihren 64 Seiten erheblich zu dem vorzüglichen Gesamteindruck bei. In ihr liest Roche Buch I gleichsam als Schlüssel zum Gesamtwerk. Dies geht weit über die Analyse der Architektur von Buch I oder über das Offenlegen subtiler Verbindungen zwischen diesem und späteren Büchern (vor allem Buch II und VII) 2 hinaus, und endet längst nicht mit der detailreichen Analyse von Lukans rhetorischem Stil, der ungeachtet seines vorwiegend ‚prosaischen‘ Vokabulars mit colores, sententiae und allen erdenklichen Stilmitteln glänzt.3

Roches Stärke liegt im Aufarbeiten intertextueller Verflechtungen. Im Kielwasser der modernen Diskussion liest er das Bellum civile vor allem vor der Folie Vergils. Während die Aeneis von der Gründung Roms erzählt, rückt Lukan den Untergang der Republik in den Mittelpunkt seines Textes. Damit spricht er der Aeneis die Erfüllung ihres augusteischen Telos ab (vgl. Aen. 1,254–296) und stellt so Vergils Vision des Prinzipats in Frage. Diese Opposition gegen das Gründungsdokument des neuen Roms und des Prinzipats entzaubert Vergils Mythos von Roms Ursprung und künftiger Größe.

Die radikale Kritik am Prinzipat als aus dem Bürgerkrieg geborene Monarchie lässt sich nicht erst in den späteren Büchern, sondern von Anfang an fassen (S. 6f.). Den zentralen Einwand gegen eine solche Lesart – den panegyrischen Preis Neros – entkräftet Roche mit Tarrant und anderen Exegeten: der Kontext, aus dem es unorganisch wie ein Fremdkörper heraussticht, annihiliert das Herrscherlob. Die verheißene Wiedergeburt Roms unter Nero wird nirgendwo im Text greifbar; überall hingegen sehen wir Italiens Niedergang. Das Epos widerlegt die Panegyrik: Nero inspiriert ein Lied, das von der Zerstörung der Republik und der Versklavung freier Bürger singt. Das Bellum civile wird zur Ätiologie der Autokratie. Diesen Eindruck unterstreicht auch Lukans Erzähler, der sich ausdrücklich in Neros Zeit situiert, Parallelen zur eigenen Epoche zieht und deren ideologischen Prämissen hinterfragt (etwa in 1,670–672). Gerade in den vielen Apostrophen (etwa in 1,8–32), die das Geschehen kommentieren, klingt immer wieder an, dass die Geschichte anders hätte verlaufen können.

Lob verdient nicht zuletzt der Umstand, dass Roche (S. 45–47) auf ein frühes Rezeptionszeugnis eingeht, das Lukanexegeten allzu gerne ignorieren: das Bürgerkriegsepos (genauer: dessen Auftakt), das Petron seinem Dichter Eumolpus in die Feder diktiert (Sat. 119–124). Aufschlussreich genug hat Eumolps Lied eine ähnliche Dreiteilung wie Lukans erstes Buch: Zunächst hören wir von den Gründen für den Bürgerkrieg (Sat. 119–120, 1–66; vgl. Lukan 1,1–182); es folgen Caesars Invasion in Italien (Sat. 120–123, 67–208; vgl. Lukan 1,183–465) und die Reaktionen in der Kapitale (Sat. 123–124, 209–295; vgl. Lukan 1,466–695). Doch es gibt auch auffällige Differenzen: Bei den Ursachen des Bürgerkriegs blendet Petron die politischen Faktoren, die bei Lukan im Zentrum stehen, weitgehend aus und konzentriert sich auf Roms moralischen Niedergang. Und er setzt einen genuinen Götterapparat in Szene: die freundlichen Götter ziehen sich zurück, dunkle Mächte – allen voran Discordia – treten auf den Plan und lenken das Geschehen. Roches Seiten bieten damit auch solide Anhaltspunkte für vertiefende Petron-Analysen.4

Kommen wir zum Kommentar: Was Roche hier leistet, verdient durch die Bank hohes Lob. Allein den sieben Versen des Proöms widmet er 18 Seiten Auslegung, die jedes noch so kleine Detail ausleuchten. Vorbildlich ist insbesondere die Analyse zum klassischen epischen Proöm und zu den Erwartungen an das Vorwort, wie die antike Literaturkritik sie formuliert.5 Um so klarer treten Lukans Abweichungen zutage, denn von den klassischen drei Komponenten des Proöms bewahrt Lukan allein die propositio (Überschrift bzw. Thema): bella […] plus quam civilia (1,1); es fehlen narratio (Inhaltsangabe) und invocatio (Anrufung der Götter bzw. Musen). Statt der narratio lesen wir diverse Paraphrasen des Themas Bürgerkrieg; und die Anrufung Neros (1,33–66) ersetzt die invocatio.6

Was vor Roche noch nie so plastisch aufgezeigt wurde, ist das dichte Geflecht intertextueller Bilder, mit denen das Proöm arbeitet. Der hellhörige Vergleich mit Homer und Vergil (aber auch Horaz, Ovid oder Calpurnius Siculus) offenbart das Bellum civile als eine Ilias ohne Heros und Ruhm, als eine Aeneis ohne Heimkehr und nationale Wiedergeburt. Gerade Calpurnius Siculus’ optimistischer Deutung der Geschichte sagt sein Zeitgenosse Lukan den Kampf an. Die Albträume der Vergangenheit sind Wirklichkeit geworden: die Welt ist aus den Fugen, die Römer begehen kollektiven Selbstmord. Und dieser Bürgerkrieg war die notwendige Voraussetzung für Neros Herrschaft.

Die Einzelkommentare sind vorzüglich und in der Regel mehr denn ausreichend. Historische Realien werden ebenso diskutiert wie der Gebrauch markanter Wendungen oder die Konnotationen poetischer Junkturen. Parallelen erscheinen ökonomisch genug nur dort, wo sie grammatisch oder inhaltlich etwas zur Deutung beitragen; so wird etwa zu 1,130 auf Ciceros boshaftes Bonmot (Att. 7,13,1) auf Pompeius, dem dux astratégetos („Feldherr ohne strategisches Talent“), verwiesen. Fragen der Textkritik werden durchgängig besprochen, knapp und pointiert (so zu 1,16 und 1,18)7, mitunter auch sehr ausführlich (so die problematische Passage 1,74–75, wo Roche mit Pohlenz nach 1,74 einen Versausfall vermutet).8 Eindeutig zu selten jedoch geht es um Grammatik. Wer je das Vergnügen hatte, Lukan zu unterrichten, weiß, an welchen teilweise banalen Hürden Studierende heutzutage straucheln.9 Dass Roche seinen Kommentar offenbar vor allem ‚editorum in usum‘ verfasst hat, lassen des Öfteren auch fehlende Hinweise auf gängige Stilmittel ahnen.10

Doch dies sind Kleinigkeiten, die kaum ins Gewicht fallen. Dieser kluge Band gehört in die Hände aller, die sich unbefangen auf Lukan einlassen wollen, Philologen wie Historiker. Er hat das Zeug zum Standardwerk.

Anmerkungen:
1 Paul Lejay (Hrsg.), M. Annaei Lucani De bello civili liber primus, Paris 1894; Robert J. Getty (Hrsg.), Lucan. De Bello Ciuili 1, Cambridge 1940 (ND 1992); Pierre Wuilleumier / Henri Le Bonniec (Hrsg.), M. Annaeus Lucanus. Bellum Ciuile Liber Primus, Paris 1962; Donato Gagliardi (Hrsg.), M. Annaei Lucani Belli civilis liber primus, Napoli 1989. Franz van Oudendorps materialreiches opus magnum (Pharsalia. Sive Belli Civilis libri decem, Leiden 1728) wird nirgendwo zitiert.
2 Evidente Verbindungslinien zwischen I und VII sprechen für eine Komposition in 12 Büchern, die mit der Schlacht von Thapsus ende(n soll)te.
3 Wie Roche herausarbeitet, reflektieren gerade Curios und Laelius’ Reden (1,273–291; 359–386) den Einfluss der deklamatorischen Rhetorik im Bellum civile; wie Ovid war Lukan in jungen Jahren ein gefeierter Deklamator.
4 Nur ein Thema behandelt die Einführung stiefmütterlich: Textüberlieferung und -konstitution. Auskünfte zu den maßgeblichen karolingischen Textzeugen (die zentrale Studie von Harold C. Gotoff, The transmission of the text of Lucan in the ninth century, Cambridge 1971, erscheint nicht einmal in der Bibliographie), zur Flut der ‚recentiores‘ oder zu den maßgeblichen modernen Editionen sucht man vergebens. Zu 1,227 findet sich eine ansprechende neue Konjektur von St. Harrison: paci statt des überlieferten fatis (satis his konjizierte Housman).
5 Roche hätte auf Servius’ unerwartete Stellungnahme zu Lukans Proöm eingehen können: Lucanus tamen ipsum ordinem invertit. Primo enim proposuit, inde narravit, postea invocavit (Aen. 1,8; vgl. S. 92).
6 Wie Roche treffend vermutet, ist diese Leerstelle vermutlich ein erstes Indiz für die ‚Abwesenheit‘ der Götter in Lukans Text.
7 Beim Plädoyer für die besser überlieferte Lesart 1,18 Scythico glacialem frigore pontum (statt Scythicum glaciali eqs.) wäre die in der Dichtung vielfach belegte Wendung Scythicus Pontus zu diskutieren.
8 Zu der 1,74–75 evozierten Kollision der Gestirne vgl. Nonnos, Dionysiaka 38,349–409 (wo gleichfalls ein „zweites Chaos“ droht: 38,344).
9 Willkommen wären etwa Hinweise zur Wortstellung 1,14 (~ hoc sanguine, quem …), zu summis 1,70, zur verqueren Syntax 1,85–86, zu dem ungewohnten Bild einer Objekt gewordenen Sonne 1,90, zu dem Indikativ induit 1,126.
10 So z.B. markante Hyperbata wie 1,1, 1,3 oder 1,122, auffällige Chiasmen wie 1,6–7 (signis – signa – pila – pilis), oder in 1,117 das Paradox der entwaffneten bewaffneten Hände.

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