J. v.Puttkamer: Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert

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Titel
Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert.


Autor(en)
von Puttkamer, Joachim
Reihe
Oldenbourg Grundriss der Geschichte 38
Erschienen
München 2010: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
XII, 353 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Catherine Horel, CNRS, IRICE, Universität Paris I

Entsprechend der bewährten Struktur der Reihe „Oldenbourg Grundriss der Geschichte“ verbindet das anzuzeigende Buch einen realgeschichtlichen Teil (hier seit dem späten 18. Jahrhundert) mit einem Bericht über den Stand sowie die Probleme der gegenwärtigen Forschung und schließt mit einer thematisch gegliederten Auswahlbibliographie. Neu ist, dass nicht ein Land und dessen Geschichte, sondern eine Region – Ostmitteleuropa mit den vornehmlich behandelten Geschichten Ungarns, Polens, Tschechiens und der Slowakei – in den Blick genommen wird. Doch bereits bei der (geschichts)regionalen Definition Ostmitteleuropas beginnen die Probleme. So misst Joachim von Puttkamer Polen vergleichsweise großes Gewicht zu. Dieses Land, wie andere Teile der Region auch, existierte zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlicher territorialer Größe, war geteilt und von anderen Staatsgebilden besetzt, was es notwendig macht, von variierenden regionalen Rahmungen auszugehen.

Für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bereitet die gewählte regionale Abgrenzung deutlich weniger Schwierigkeiten als für die Zeiten davor, da sich die Darstellung nun auf die drei Kernländer (Polen, Tschechoslowakei und Ungarn) reduzieren kann. Man mag diese Begrenzung mit Blick auf den vorgegebenen Umfang des Buches verstehen, kann sie aber auch bedauern. Würde man beispielsweise die Habsburgermonarchie als integralen Bestandteil Ostmitteleuropas bis 1918 betrachten, müssten deren südlichen Gebiete mit behandelt werden. Die italienischen Provinzen des Reiches aber kommen bei von Puttkamer nur sehr selten oder gar nicht vor. Der Verlust der Lombardei 1859 etwa, eine wichtige Etappe im „Ostruck“ der Monarchie, findet keine Erwähnung. Für die Geschichte Ungarns sind Kroatien, Serbien und dann Jugoslawien genauso von Bedeutung wie Litauen für Polen, bleiben dennoch ausgeblendet. Zu den Themenkomplexen, die nur angedeutet werden, obgleich sie durchaus mehr Platz verdient hätten, zählt die „Ermordung der Juden“. Sie kommt auf nur knapp zweieinhalb Seiten zur Sprache (S. 100-103). Da viele thematische Fragen im zweiten Teil des Buches wiederholt behandelt werden, hätte man im ersten vielleicht mehr Raum für solche hier nur kurz erwähnten Problemlagen schaffen können. Das gewählte Darstellungsverfahren bringt zudem rasch gezogene und nicht immer besonders treffende Vergleiche hervor, wie jenen von antisemitischen Pogromen im Zarenreich und in der Habsburgermonarchie (S. 55). Genauso ist die Liste von Städten mit einer Einwohnerzahl von mehr als 100.000 unausgewogen, da man doch nicht Triest und Lemberg, die mehr als 200.000 Einwohner hatten, mit Zagreb und seinen nicht einmal 80.000 Bewohnern vergleichen sollte (S. 49). Zudem ist es ärgerlich, hier wie in vielen Publikationen zu lesen, dass am 1. Mai 2004, „zehn Länder des ehemaligen Ostblocks“ der EU beigetreten seien (S. 146), womit Zypern und Malta in eine Welt integriert werden, die ihnen fremd war.

Die Geschichte der drei ostmitteleuropäischen Kernländer ist ansonsten sehr gründlich und konsequent dargestellt, wobei von Puttkamer seine Vergleichsperspektive nie aus den Augen verliert und stets auf erläuternde regionale Zusammenhänge bedacht ist. Die Interpretation der Nachkriegsordnung und der Kleinen Entente als ein defensives Bündnis lässt die Gegensätze zwischen Polen und der Tschechoslowakei eindeutig aufscheinen, basierend auf den jeweils anderen Konzeptionen potentieller Gefahr: für die Polen kam sie aus dem unmittelbaren Osten, für die Tschechen aus dem unmittelbaren Westen. Am Ende hatten beide Recht (S. 227) und ihre Beziehungen zur Sowjetunion einerseits und zu Deutschland andererseits werden mit Blick auf damit je verbundenen unterschiedlichen Erinnerungen sowie Traumata geschildert. In Bezug auf die Tschechoslowakei ist die Tatsache besonders interessant, dass es bei den Tschechen bis 1968 eine gewisse Russland- und später sowjetfreundliche Haltung gegeben hat (S. 113), die sich auf Slawophilie gründete und bis in die Zeit der Revolution von 1848 zurückreichte. Tschechische Politiker wie Hubert Ripka wollten den Sowjets selbst 1948 keine bösen Absichten unterstellen. Dass es bis heute eine relativ starke kommunistische Partei in der Tschechischen Republik gibt, sollte daher wenig überraschen (S. 147).

Zu jenen Teilen der Region, die in der Darstellung etwas vernachlässigt werden, zählt auch die Slowakei, was den Blick auf die dortige besondere Kulturwelt zwischen den Böhmischen Ländern und Ungarn verstellt. Die heute immer mehr zum Mythos verklärte ethnische Vielfalt der Bukowina hingegen wird erwähnt (S. 186). In Bezug auf Ungarn könnte man betonen, dass das Land schon ab 1919 praktisch ethnisch homogen geworden war (S. 78 u. S. 91) und auch die Rolle der alliierten Siegermächte des Ersten Weltkrieges bei der Machtübernahme durch den Reichsverweser Miklós Horthy sollte nicht verschwiegen werden (S. 69). Vollkommen einleuchtend wird das Bild des Adels in Ungarn mit dem in Polen verglichen, wobei zu berücksichtigen wäre wie attraktiv die adelige Lebensform war und wie sehr sie die Assimilation von Deutschen und Juden in die ungarische Nationalgemeinschaft beschleunigte. Mit einem solchen Modell waren die Deutschen in den böhmischen Ländern nicht konfrontiert. Sie sahen die Tschechen als „kleine Leute“ an, mit denen man sich nicht identifizieren wollte. In diesem Sinne ist der Begriff der „Veradelung“ der Bürger, wie in von Puttkamer für Ungarn verwendet, sehr zutreffend (S. 173).

Im zweiten Teil des Bandes werden zahlreiche Forschungsperspektiven nachgezeichnet und vorgeschlagen, die sich nicht zuletzt auch auf die Ausbildung der Studierenden auswirken können. Die Zahl der „weißen Flecken“ hat abgenommen, dennoch bestehen einige fort oder kommen neu auf die Agenda. Es ist richtig, hier die Vielfalt der Länder des sozialistischen Blocks zu betonen. So ist zur Haltung ihrer politischen Entscheidungsträger während den verschiedenen Krisen einiges zu entdecken. Die zweideutige Stellungnahme beispielsweise von János Kádár gegenüber Alexander Dubček wurde unlängst von Miklós Kun erläutert.1 Auch die Geschichte der Juden in Ostmitteleuropa und ihrer Vernichtung hat in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht. Dennoch bleibt je nach Land vieles aufzuarbeiten. Wenn im Buch von Integration anstatt von Assimilation gesprochen wird ließe sich darüber debattieren, ob es nicht anachronistisch ist, hier mit einem zeitgenössischen Konzept eine damalige Situation zu beschreiben (S. 188). Die Neubewertung der Habsburger Monarchie ist ein weiteres Thema. Neue Arbeiten wie das letzte Buch von Lothar Höbelt 2 bleiben nicht auf die Figur von Kaiser Franz Joseph begrenzt, sondern betrachten das Reich als Gesamtwerk. Mit Recht wird Österreich-Ungarn als Frühform einer regionalen Integration betrachtet (S. 201). Schließlich bleibt die Diskussion über die Erinnerungskulturen und Gedächtnisorte der Region eine der bis heute anregendsten Forschungsrichtungen. Was die im dritten Teil dargebotenen Auswahlbibliographien betrifft, so ist trotz aller Einsicht in die gebotene Selektivität mit Bedauern festzuhalten, dass Ergebnisse der französischen Ostmitteleuropaforschung 3 nahezu komplett negligiert geblieben sind.

Bei dem als gelungenen anzusehenden Versuch Joachim von Puttkamers, einen großen regionalen Bogen zu schlagen, haben sich gleichwohl sachliche Unkorrektheiten im Detail eingeschlichen, die nahezu alle mit Ungarn zu tun haben. Diese können der ausgezeichneten Arbeit wenig schaden, sollten aber in einer zweiten Auflage korrigiert werden: die ungarische Armee kapitulierte am 13. August 1849 (S. 37); die Schließung der slowakischen Gymnasien wurde 1875 beschlossen (S. 48); der Einmarsch der deutschen Truppen in Ungarn erfolgte am 19. März 1944 (S. 94); die Visumpflicht wurde auf Initiative Österreichs zugunsten der Polen und Ungarn 1987 abgeschafft (S. 140). Schließlich ist über den Tod des tschechischen Philosophen Jan Patočka zu sagen, dass er zwar nach einem polizeilichen Verhör verstarb, aber zu Hause, da sich das Prager Regime keinen zweiten Märtyrer erlauben konnte (S. 142).

Anmerkungen:
1 Miklós Kun, A „prágai tavasz“ titkos története [Die Geheimgeschichte des Prager Frühlings], Budapest 2008.
2 Lothar Höbelt, Franz Joseph I. Der Kaiser und sein Reich. Ein politische Geschichte, Wien 2009.
3 Catherine Horel, Cette Europe qu’on dit centrale. Des Habsbourg à l’intégration européenne (1815-2004), Paris 2009.

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