Cover
Titel
Marcus Aurelius. Warrior, Philosopher, Emperor


Autor(en)
McLynn, Frank
Erschienen
London 2010: Vintage Books
Anzahl Seiten
XIX, 684 S.
Preis
£ 9,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Fündling, Historisches Institut, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen

Das Erscheinen der Biographie eines römischen Kaisers in hoher Auflagenzahl ist Grund genug, genau zu verfolgen, welches Bild der Öffentlichkeit – noch dazu in ungewöhnlichem Umfang – vermittelt wird. Der Autor hat sich bisher mit wenigen Ausnahmen der neuzeitlichen Militär-, Kolonial- und Geistesgeschichte gewidmet; von seinem Buch sind also eher Zuverlässigkeit und fruchtbare Denkanstöße als Grundlagenarbeit und detailbezogene Neubewertungen zu fordern.

McLynn legt vier große Abschnitte an: die Zeit von Marc Aurels Geburt bis 161, gefolgt von einem Charakterprofil (S. 1–117), der Partherkrieg nebst Kapiteln über die Philosophie des Kaisers und das Christentum (S. 120–305), die Jahre vom Beginn der Germanenkriege bis 180 (S. 308–419) sowie die Zeit des in grellen Farben gezeichneten Commodus, die Frage nach den Gründen für die Krise des 3. Jahrhunderts und ein abschließendes Rezeptionskapitel (S. 420–537). Immer wieder schiebt McLynn kleine und große Exkurse ein, etwa über Geburtenstatistik und Reproduktionsverhalten (S. 86–90) oder zu Marcus’ Rechts- und Verwaltungsakten (S. 168–191). Quantitativ ergeben sie eine beachtliche strukturhistorische Synthese zum Thema – nur ist sie mit Fußangeln gespickt.

Dies beginnt beim Zugriff auf Quellen und Literatur: Längere Passagen für die frühen Jahre lehnen sich – in umarrangierter Reihenfolge – an die Marcusbiographie von Anthony R. Birley dermaßen an, dass McLynn sie über weite Strecken im Kern nacherzählt und sich mitunter halbe Sätze borgt.1 Das Quellenverzeichnis ist lückenhaft, die Bibliographie steckt in den sehr kompakt gesetzten Anmerkungen, die Kurztitel verwenden, ohne den Ort der Ersterwähnung anzugeben. Der Index verzeichnet keineswegs sämtliche Eigennamen; stark bevorzugt werden moderne Personen. Zudem geschehen mit den antiken Namen schreckliche Dinge, von Hadrians Vorgehen gegen „Severianus“ und „Fruscus“ (S. 32) bis zu „Arrian of Alexander“ (S. 97), lies Appian von Alexandria. Anderswo begegnen wir der Legion „XII Deitorarius“ (S. 325); es gibt Dutzende ähnlicher Verschreiber.

Quellen werden grundsätzlich wortwörtlich genommen. Es ist ein Schock, die fiktionsüberwucherte Vita Avidii der Historia Augusta samt allen Pseudodokumenten rehabilitiert zu sehen (S. 159f. u. 374–377). Cassius Dios Maecenasrede aus Buch 52 wird Protokollcharakter zugewiesen (S. 262); als Reportage aus der germanischen Gesellschaft erscheint folgerichtig Tacitus’ Germania (S. 316f.). Schlecht steht es auch um die einzelnen Sachinformationen: Suffektkonsuln sind „a kind of deputy“ (S. 16), primi pili „elite troops“ (S. 12). Der „praetorian prefect of Egypt“ (S. 381) sei der „top equestrian post“ (S. 175), während Martial in die Zeit Marc Aurels teleportiert (S. 149). Der „alcoholic, homosexual emperor Trajan“ sammelt 30 Legionen zum Krieg gegen Decebalus – also alle, die es gibt, oder gar noch etwas mehr (S. 319). Die Eleusinischen Mysterien, für Athener fast ein Massenereignis, charakterisiert McLynn als „the most sought-after elite association in the ancient world“ (S. 398). Glatter Unfug ist es auch, von einem „state of Ts’In in north-west China“ im 1. Jahrhundert n.Chr. zu sprechen (S. 145); bis 220 herrscht die Han-Dynastie über ein ungeteiltes Reich.

Statusfragen werden ebenso mit Unverständnis quittiert wie solche der römischen Religion: Die Idealbeziehung eines ‚guten‘ Princeps zum Senat ist „an elaborate fiction“ (S. 29), hinter der „naked use of power“ stecke (S. 30). Zu Marcus’ Aktivität in seinem Priesteramt als praefectus feriarum Latinarum heißt es: „Marcus did with this office what he had done as a young priest with the Salii, making something out of an empty ritual“ (S. 37). Selbst das eigenwillige, aber gelungene Nachwirkungskapitel (S. 494–537), das so unerwartete Namen wie Ulysses S. Grant nennt, hat seine Tücken. Auf der Suche nach Personen, die militärisch, politisch und literarisch zugleich tätig gewesen sind, wird ausgerechnet Winston Churchill verworfen, weil ihm „true soldiering“ im Sinn persönlicher Kampfhandlungen fehle (S. 527f.). Erstens ist auch für Marc Aurel kein eigenhändiges Gefecht belegt, zweitens hat Churchill 1915/16 ein halbes Jahr als Major in den Schützengräben verbracht.2 Besonders hübsch ist die Kreation des kaiserlichen „Most Honourable Order“, „roughly the equivalent of the modern British Order of Merit“ (S. 417) – der vermeintlich hochdekorierte Valerius Maximianus rückte schlicht in den Senat (amplissimus ordo) auf.

Der Teufel steckt allerdings nicht nur im Detail, sondern regiert ebenso am anderen Ende der Skala: McLynn personalisiert gern und interessant, zerstört seine eigene Wirkung dann aber durch das beinahe zwanghafte Aufkleben von Etiketten. Im Moment der Adoption fürchtet „the priggish young Marcus“ (S. 17) den Eintritt in „a world of madness, fear and delusion“ (S. 41), nämlich die Nähe des ausgiebig zum Monster stilisierten Hadrian. Als „grim, severe adult“ (S. 107) mit seiner „po-faced melancholy“ (S. 108) verbirgt Marcus dann eine tiefe Depression und innere Wurzellosigkeit samt Bindungsängsten (S. 104 u. 112). Robust entscheidet McLynn „on a common-sense basis“ die dornige Frage, ob und wie sich moderne psychologische Ansätze auf die Antike übertragen lassen: wir hätten heute noch dieselben bewussten „drives, lusts, ambitions and greeds“ wie die Antike (S. 578, Anm. 69). Verändert haben sich jedenfalls das Mischungsverhältnis bewusster Triebanteile und der Sinngehalt von Gefühlsäußerungen, ganz zu schweigen von Lebenszielen oder der Selbstsicht als Individuum – das allein riete zur Vorsicht.

Generell schlecht kommen des Kaisers Zeitgenossen weg: Fronto ist ein „fusspot“, Pedant und Philister (S. 49f. u. 53), Aelius Aristides und Galen ergeht es nicht besser (S. 392 u. 348f.). Ein geheimnisvoller „subtext“ der Selbstbetrachtungen (S. 75; vgl. 95) soll Kritik an der Behandlung durch Antoninus Pius, einen „pedantic, control-freak, parsimonious and narcissistic emperor“, enthalten (S. 94); am Text vorgeführt wird auch das nicht. Nur gratulieren kann man Lucius Verus (und McLynns Synonymwörterbuch) für die Wertung als „profligate, sensualist, drunkard, pansexualist, hedonist and sybarite“ (S. 124). Urteilsfreudig nimmt der Autor sich auch die Philosophie seines Helden vor, in seinen Augen eine Stoa constrictor: „inhuman, killjoy and generally repulsive“ (S. 209). Die Lehre der Stoiker – darunter ausgerechnet Lukrez! (S. 612, Anm. 138) – sage allem, was das Leben lebenswert mache, den Kampf an (S. 67f.), habe einen empörend unklaren Gottesbegriff und scheitere an der Natur des Bösen (S. 230–244). McLynn behandelt hier Fragen, die ihm sichtlich nahe gehen, nur sprengen sie den Rahmen einer historischen Biographie und sind mit keinem Machtwort zu beantworten.

Das Buch sucht leider auch sonst mit aller Gewalt die ‚großen Linien‘ jenseits seiner Möglichkeiten; in Zweifelsfällen gilt grundsätzlich die dramatische Variante, etwa die vom zu konstanter Aggression verdammten Römischen Reich (S. 8 u. 26). Die Donaukriege des Kaisers entzünden sich aus einer „massive conspiracy“ unter Führung der Markomannen, geschmiedet durch einen „unknown genius“ (S. 329, 334 u. 353). Diese Vorliebe gipfelt in der Behauptung, unter Marc Aurel – dem pflichtbewusstesten Herrscher der Geschichte, aber „largely a failure in politics and government“ (S. 254f. u. 494) – habe sich entschieden, dass Rom unterging (wann, wird nicht verraten). Aufgeboten wird eine Reihe als unanfechtbar hingestellter Vermutungen, voran ein „major social breakdown“ infolge der ‚Pest‘, der McLynn hochgerechnete 10–18 Millionen zum Opfer fallen lässt (S. 461). Die These wird durch die Ansicht flankiert, dass die römische Wirtschaft damals förmlich implodiert sei (S. 467–476). Neomarxistische Attacken auf konsumgierige, gehätschelte Senatoren vertragen sich aber kaum mit dem Bedürfnis, die konsequent „mob“ genannte hauptstädtische plebs bei jeder Gelegenheit als Parasiten abzuwerten („too many drones in the hive“, S. 79). Die Rettung hätte für McLynn nur eine Abkehr von der sich vertiefenden Rechtsungleichheit zwischen honestiores und humiliores gebracht, verbunden mit Finanz- und Steuerreformen auf Kosten des Senatorenstandes und der Ritter im Reichsdienst (S. 483–488).

Am Ende einer mit viel Lesefleiß und schriftstellerischem Schwung unternommenen Arbeit stehen damit die üblichen Verdächtigen des 19. Jahrhunderts: cäsarenwahnsinnige Principes, dekadente Oberschichten, unregierbare Soldaten und vergnügungssüchtige Plebejer. Marc Aurel sei „the greatest of Roman emperors, but that is not saying a lot“ (S. 452). Er ist hier weniger porträtiert denn als Kronzeuge im historischen Weltgericht über Rom vorgesehen. Bevor es so weit kommt, hat McLynn durch Vorverurteilungen und Hunderte Ermittlungsfehler den Prozess platzen lassen.

Anmerkungen:
1 Vgl. den Absatz bei McLynn, S. 14f., mit Anthony R. Birley, Marcus Aurelius. A Biography, 2. Aufl., London 1987, S. 30 (Tod des Vaters); McLynn, S. 15, mit Birley, S. 33, Absatz 3 (Catilius); McLynn, S. 17, Absatz 2, mit Birley, S. 31f. (einschließlich der aufgezählten Bauten); McLynn, S. 17 („the old man took a mistress with whom he lived openly“), entspricht Birley, S. 35. Die Briefübersetzungen, S. 57 und 60f., sind Überarbeitungen von Birley, S. 79, 80f. u. 84, dessen ‚Schnitte‘ bei der Wiedergabe der Justinus-Akten (153f.) in McLynn, S. 289f., wiederkehren.
2 Winston S. Churchill, The World Crisis 1911–1918, London 1931, S. 535.

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