M. A. Obst: Kaiser Wilhelm II. als politischer Redner

Titel
»Einer nur ist Herr im Reiche«. Kaiser Wilhelm II. als politischer Redner


Autor(en)
Obst, Michael A.
Reihe
Otto-von-Bismarck-Stiftung, Wissenschaftliche Reihe 14
Erschienen
Paderborn 2010: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
481 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Norman Domeier, Historisches Institut, Universität Stuttgart

„Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser“, „Völker Europas, wahrt eure heiligsten Güter“, „Pardon wird nicht gegeben“: Das Bild Kaiser Wilhelms II. ist bis heute durch seine Rhetorik geprägt. Umso erstaunlicher ist es, dass erst jetzt eine geschichtswissenschaftliche Studie seiner Verlautbarungen vorgelegt wurde. Es ist das Verdienst von Michael A. Obst, eine profunde Gesamtschau erarbeitet zu haben, denn in der Tat können die Kaiserreden als bedeutendste „Spielart monarchischer Repräsentation“ (S. 10) im wilhelminischen Deutschland gelten.

In klarer und prägnanter Sprache analysiert Obst in der publizierten Fassung seiner 2008 in Düsseldorf verteidigten Doktorarbeit (Gutachter: Holger Afflerbach und Gerd Krumeich) die Reden Wilhelms II. Berüchtigte Manifestationen wie Umsturzrede, Handlangerrede und Hunnenrede werden in den jahrzehntelangen Redestrom des hyperaktiven Monarchen eingebettet, wodurch die mediale Ubiquität Wilhelms II. erkennbar wird, der zu fast allen Streitfragen der Zeit oratorisch Stellung bezog. Deutlich wird gleichzeitig das Schillernde seiner politischen Sprache, die ihn schon für Zeitgenossen mal als ultraorthodoxen Reaktionär, mal als liberalen Avantgardisten erscheinen ließ. Wenn überhaupt, so ein wichtiges Ergebnis der Studie, lassen sich als rote Fäden der „Einigungs- und Sammlungsrhetorik“ (S. 422) Wilhelms II. nur Antisozialismus, Hohenzollernkult sowie Flotten- und Weltpolitik ausmachen.

Indem er Entstehung, Intention und Wirkung der Kaiserreden nachgeht, wählt Obst einen konventionellen methodischen Zugriff. Doch auch wenn die Arbeit nicht dem „linguistic turn“ verpflichtet ist, nimmt sie politische (und moralische) Sprache auf klassisch hermeneutische Weise als historisches Untersuchungsobjekt und Erkenntnismittel ernst. Beachtlich ist die Leistung, für die wichtigen politischen Reden Wilhelms II. einen möglichst authentischen Text zu rekonstruieren, ein Versuch, der bisher nur sporadisch unternommen wurde.

Der auf staatliche Eliten und Institutionen fokussierten Politikgeschichte treu bleibt auch das Erkenntnisinteresse, „die Frage nach den funktionalen beziehungsweise dysfunktionalen Wirkungen der kaiserlichen Reden im politischen System des Kaiserreichs, den Versuchen der Regierung diese zu steuern, nach ihrer Perzeption durch die Öffentlichkeit und ihrem Einfluss auf die Legitimität des Herrschaftssystems“ (S. 10). Berührungspunkte mit der neuen politischen Kulturgeschichte ergeben sich, wenn Obst seiner zweiten Leitfrage nachgeht, ob der rhetorische „Kaiserstil“ ein Erfolg versprechender Weg zur Modernisierung der preußisch-deutschen Monarchie war, der nur an der Inkompetenz Wilhelms II. scheiterte (S. 18).

Ein interessantes Ergebnis dieser Herangehensweise ist es, dass die Reden Wilhelms II. in den 1890er-Jahren konkreten Gesetzesvorhaben galten: dem Arbeiterschutz (1889/90), der Schulreform (1890), der Militärdienstzeit (1892/93), der Umsturzvorlage (1894), der Zuchthausvorlage (1897/99) und der Kanalvorlage (1898/99) sowie mehrfach dem Aufbau einer Kriegsmarine. Nach 1900 und bereits vor den Zurechtstutzungen durch Eulenburg-Skandal und Daily-Telegraph-Affäre habe sich Wilhelm II. eher abstrakten und diffusen politischen Zielen zugewandt. Das Bild der Öffentlichkeit vom Kaiser als Redner habe dieser Kurswechsel nicht tangiert, da es vor allem in der Amtszeit Reichskanzler Caprivis (1890-1894) geprägt und danach nur noch modifiziert und ergänzt worden sei. „Die Argumente, die für oder gegen das öffentliche Auftreten des Monarchen sprachen, sowie die Vorschläge, wie dieses effektiv zu steuern sei, wiederholten sich naturgemäß“ (S. 11). Aus diesem Grund ist es allerdings fraglich, ob eine streng chronologische Struktur der Studie dienlich war, die so zwangsläufig von Redundanzen durchzogen ist. Besser wäre die thematische Anordnung der Reden nach Politik- und Gesellschaftsfeldern gewesen, wie sie auch bereits von zeitgenössischen Wilhelm II.-Kompilatoren vorgenommen wurde.1

„Es gilt das gesprochene Wort“. Diese bis heute gebrauchte Floskel des Sprachmarketings führt zum Kernproblem Wilhelms II. als politischem Redner: der Improvisation. Jahrzehntelang befeuerten nach seinen Reden offizielle und offiziöse Dementis und Gegendementis heftige Pressedebatten. Der Streit um die Authentizität des Gesagten und die Gültigkeit von Redeversionen trug nicht allein dazu bei, die ohnehin meist kontroversen Redeinhalte zu desavouieren und die politischen Absichten des Monarchen zu vereiteln, sondern zog immer wieder dessen politische Kompetenz in Zweifel. Eine stärkere Verknüpfung mit der neuen politischen Kulturgeschichte wäre hier angebracht gewesen. Mit Blick auf den politischen Redner Wilhelm II. bleibt so etwa sein Selbstverständnis als Künstler (eine Ähnlichkeit mit dem oratorischen Selbstbild Adolf Hitlers) ausgeblendet. Mit Blick auf die damalige Gesellschaft, die in beständiger Erwartung kaiserlicher Verbalattacken lebte, hätte es nahe gelegen, der sozialen Aneignung und Nutzbarmachung der „allerhöchsten“ Rhetorik nachzuspüren, insbesondere bei politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Konflikten, in denen es der Monarch war, der oft unvermittelt und überraschend die Grenzen des Denk- und Sagbaren verschob. Kaum zufällig wurden seine Reden deshalb immer wieder als „Taten“ verstanden, allerdings – in diesem tatendurstigen Zeitalter eine beachtliche Leistung – selten im guten, sondern meist im schlechten Sinne. Quellentechnisch hätte Obst zu diesem Zweck der zwölfbändigen (!) Zeitungsauschnittsammlung des Reichslandbundes 2 stärkeres Gewicht im Vergleich zu den altbekannten Tagebüchern und Briefwechseln (beispielsweise Waldersee, Spitzemberg, Eulenburg) und den Diplomatenberichten aus München, Karlsruhe und Wien geben können.

Durch das traditionell politikgeschichtliche Vorgehen gerät zudem die transnationale Wirkung der Reden Wilhelms II. aus dem Blick. Besonders deutlich wird dies bei der berüchtigten „Hunnenrede“, der zweifellos am besten erforschten Rede des Kaisers. Auch in der neuen Bestandsaufnahme durch Obst bleibt sie ein nationales Ereignis. Tatsächlich waren die Kaiserreden jedoch stets Deutungsmasse der internationalen Presse: Unter Zitierung des „Berliner Lokalanzeigers“ hielt die Londoner „Times“ bereits am 28. Juli, einen Tag nach der Rede in Bremerhaven, den berüchtigten Befehl Wilhelms II. „that quarter will not be given, and that prisoners will not be taken” für die globale Öffentlichkeit fest.

In Ansätzen liefert Obst durchaus neue Politikgeschichte, etwa bei der kaiserlichen Intervention in die „Schulkonferenz“ vom Dezember 1890 (S. 100-121), einem gouvernementalen Beratungsgremium, das sich durch seinen zivilgesellschaftlichen Charakter und die Pluralität der vertretenen Meinungen von der autoritären Regierungsstruktur des Kaiserreiches abhebt. Wilhelm II. nahm keinen Anstand, sich unter die Teilnehmer zu mischen und in Eröffnungs- und Schlussrede detaillierte Reformpläne zu postulieren. Das Prestige, das der Monarch durch sein außergewöhnliches rednerisches Engagement der Schulreformbewegung verlieh, wurde jedoch durch die brachiale Ablehnung verschiedener Bildungskonzepte konterkariert. Obst spricht treffend von einer dadurch bewirkten „Deformation“ des Bildungsdiskurses.

Ob die Reden Wilhelms II. wirklich eine rationale Antwort auf die Bedingungen der entstehenden Mediengesellschaft waren, wie bereits Christopher Clark vermutete, ob der Kaiser die demokratische Öffentlichkeit sogar immer wieder bewusst auf ihrem Feld herausforderte oder ob der Monarch nicht beständig seine Politik und die seiner Regierungen beschädigte 3, also einem „Zweckirrationalismus“ verfallen war (S. 419), wird durch die Studie leider nicht klar. Wie Obst betont, hat der medial omnipräsente Kaiser, der – zumindest deutsche – Journalisten verachtete, die Mechanismen der modernen Presse nie durchschaut (S. 424); nur auf den ersten Blick eine Unstimmigkeit, wenn man bedenkt, dass das Reichsoberhaupt auch stolz darauf war, die Reichsverfassung nie gelesen zu haben. Zweifellos ist es Wilhelm II. zeitlebens nicht gelungen, zwischen verschiedenen Öffentlichkeiten zu unterscheiden und ihre Verflechtungen zu bedenken. Nie kam es ihm in den Sinn, dass seine Reden über die Herrlichkeit der Hohenzollern auf brandenburgischen Provinzialdiners in Bayern als anachronistischer Partikularismus, in Paris, London und Moskau überdies als Beleg für die imperialen Phantasien des Deutschen Reiches verstanden werden könnten. Offenkundig war Wilhelm II. eben doch kein „Medienmonarch“. Als Redner führte er vielmehr aller Welt vor Augen, wie schlecht das preußisch-deutsche Kaisertum mit dem beginnenden Massenmedienzeitalter korrespondierte und an welche Grenzen eine traditionale Monarchie stieß, wenn sie charismatisch-populistisch-alltägliche Politikstile aufzunehmen versuchte.

Michael Obsts Arbeit ist vor allem eine kompilatorische Leistung, inhaltlich bringt sie kaum Neues, das Fazit bekräftigt vor allem bekannte Thesen. Die wichtigste Affirmation erfährt Ernst Rudolf Hubers Beschreibung der wilhelminischen Monarchie als einem nicht „institutionalisierten“, wohl aber immer wieder „improvisierten“ persönlichen Regiment Wilhelms II. Seine ubiquitären Reden unterminierten die überkommene Staatsform, die auf Würde, Distanz und Außeralltäglichkeit basierte. Ihre provozierende politische Rhetorik bewirkte eine Enttabuisierung des Monarchen nicht nur im Reichstag, sondern im gesamten öffentlichen Diskurs. So trug die Geschwätzigkeit Kaisers Wilhelms II. ihr Scherflein dazu bei, dass Kriegsniederlage und Revolution die Jahrtausende alte Institution der Monarchie in Deutschland hinwegzufegen vermochten.

Anmerkungen:
1 Etwa Wilhelm Schröder, Das persönliche Regiment. Reden und sonstige öffentliche Äußerungen Kaiser Wilhelms II., München 1907.
2 Im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde.
3 Christopher M. Clark, Kaiser Wilhelm II, London 2000, S. 160.