E. Stadelmann-Wenz: Widerständiges Verhalten

Cover
Titel
Widerständiges Verhalten und Herrschaftspraxis in der DDR. Vom Mauerbau bis zum Ende der Ulbricht-Ära


Autor(en)
Stadelmann-Wenz, Elke
Erschienen
Paderborn 2009: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
265 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arthur Schlegelmilch, Lehrgebiet Neuere Deutsche und Europäische Geschichte, FernUniversität in Hagen

Der als Dissertation an der Freien Universität Berlin entstandenen Studie liegt eine weite Definition von „widerständigem Verhalten“ zu Grunde. Die vorschnelle Festlegung auf die Kriterien der Staatsmacht und ihres Unterdrückungsapparats soll auf diese Weise ebenso vermieden werden wie die einseitige Fixierung auf die Zielsetzungen der widerständigen Akteure und die Effizienz ihres Handelns. Besonderen Wert legt die Verfasserin – in Abgrenzung von totalitarismustheoretischen Ansätzen – auf die Wechselwirkung zwischen Herrschenden und Beherrschten wie auch auf den dynamischen und prozesshaften Charakter widerständiger Handlungsweisen. Auf dem Weg zu einem realistischen Bild der DDR-Gesellschaft dürfe Widerständigkeit nicht als bloße Reaktion auf Herrschaft und nicht als Epiphänomen der „durchherrschten Gesellschaft“ verstanden werden.

Diese plausiblen Ausgangsüberlegungen stehen in ihrer konkreten Umsetzung vor der Schwierigkeit, dass die Quellen- und Datenbasis des Buches in erster Linie auf behördlich/geheimdienstlichen Materialien beruht, das heißt den Akten und Unterlagen der Abteilung Sicherheitsfragen des Zentralkomitees der SED, den Informationsberichten der SED-Bezirksleitungen, den Beständen des Ministeriums der Justiz der DDR sowie der Hauptabteilung IX des Ministeriums für Staatssicherheit. Die Kontrastierung dieser Quellen durch (gedruckte) Zeitzeugenberichte fällt demgegenüber nach Umfang und Darstellung deutlich ab, so dass sich eine Schieflage einstellt, die auch durch die kompetenten quellenkritischen Reflexionen der Verfasserin nicht völlig beseitigt wird und im Ergebnis dazu führt, dass das Ideal der doppelperspektivischen Darstellung nicht erreicht werden kann.

Mit dem Mauerbau und der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht bildeten sich zu Beginn der 1960er-Jahre zwei Themenfelder heraus, an denen sich Dissens und Widerstand dauerhaft festmachten, hinzu kamen das Streben nach inneren Reformen sowie der Wunsch nach verbesserten materiellen Lebensbedingungen – namentlich im Verhältnis zur westdeutschen Bundesrepublik, die trotz des dem Mauerbau folgenden „Antennensturms“ gegen das „organisierte Westfernsehen“ allenthalben präsent blieb. Abgesehen von der unnachgiebig verfolgten „Republikflucht“ signalisierte das Ulbricht-Regime in einigen anderen Punkten indes zunächst Kompromissbereitschaft. So schuf man für „Kriegsdienstverweigerer“ den Ausweg des „Bausoldaten“ und nahm es sogar hin, wenn das geforderte militärische Gelöbnis (durch Schweigen) de facto vorenthalten wurde. Dem offenen Konflikt mit der (evangelisch-lutherischen) Kirche konnte auf diese Weise aus dem Weg gegangen werden, doch rekrutierte sich aus dem Lager der Bausoldaten letztlich der Kern der künftigen Oppositionsbewegung, der schon ab Mitte der 1960er-Jahre unter dem Dach der Kirche mit „Friedensseminaren“ und Beratungsangeboten für junge Wehrpflichtige an einem höchst sensiblen Punkt in die DDR-Gesellschaft hineinzuwirken begann. Als zweischneidiges Schwert erwies sich auch die Deklamation des „Jugendkommuniqués“ von 1963, das einerseits der Mobilisierung der Jugend für den Sozialismus diente und mit dem „Deutschlandtreffen“ von 1964 ein bemerkenswertes Ausrufungszeichen setzte, andererseits demokratische Erwartungen weckte, die dem Politbüro bald schon zu weit gingen und mit dem Beginn der Kampagne gegen „Langhaarige, Gammler, Rowdys“ sowie dem „Kahlschlag-Plenum“ der SED ab Herbst/Winter 1965 ins Gegenteil verkehrt wurden: Der Vertrauenserklärung von 1963 folgte die flächendeckende Überwachung der gesamten Jugendgeneration als neues sicherheitspolitisches Ziel.

Nicht ganz so desaströs endeten die ebenfalls 1963 eingeleiteten Reformen auf justiz- und wirtschaftspolitischer Ebene. So schuf der Rechtspflegeerlass vom 4. April 1963 die Möglichkeit, Arbeitskonflikte nicht mehr prinzipiell als Ausdruck „politischer Feindarbeit“ zu interpretieren und zu verfolgen. Im Ergebnis vergrößerte sich dadurch die Chance auf innerbetriebliche/örtliche Konfliktlösung, die bemerkenswert oft zugunsten aufmüpfiger Arbeiter erfolgte. Auf Grund der Verbesserung der Grundversorgung ging zudem die Intensität der Konsumproteste der Bevölkerung spürbar zurück. Ein in jeglicher Sicht negatives Zeichen setzte dann aber die Intervention der Warschauer-Pakt-Truppen in der CSSR, die einen markanten Anstieg von politisch motivierten Unmutsäußerungen und Protesten nach sich zog und die kurze Reformperiode der DDR endgültig an ihr Ende brachte.

Für die hier skizzierten Entwicklungen und Befunde liefert die Autorin umfassende Nachweise, wobei der Hauptakzent auf den unteren Stufen der Widerstandsskala im Sinne von nonkonformistischen und resistenten Verhaltensformen liegt, während Führungsfiguren und Ikonen des Protestes wie Robert Havemann und Wolf Biermann bzw. loyale Kritiker wie Christa Wolf und Brigitte Reimann nicht in die Systematik widerständigen Verhaltens einbezogen werden. Der auf dem Buchcover erhobene Anspruch der „ersten Gesamtdarstellung widerständigen Verhaltens in der DDR der sechziger Jahre“ bedarf somit der Relativierung. Dies gilt auch insofern, als die Kontraste zwischen Herrschern und Beherrschten teilweise zu scharf gezeichnet werden und die namentlich für die erste Hälfte der 1960er-Jahre charakteristische Mischung von idealistischer Reformerwartung einerseits, realsozialistischer Ernüchterung andererseits, nur unzureichend zum Ausdruck kommt.

Nichtsdestoweniger wird mit vorliegender Studie der überzeugende Nachweis erbracht, dass die 1960er-Jahre mitnichten eine protestarme Periode der DDR-Geschichte bildeten. So belegt schon die amtliche Kriminalstatistik der DDR, dass der Anteil von Delikten mit politischem Hintergrund („Staatsverbrechen“, „Straftaten gegen die Staatsorgane und die allgemeine Sicherheit“) an den insgesamt ermittelten Straftaten zwischen 1960 und 1970 relativ konstant blieb und nur vorübergehend unter die 15 %-Marke rutschte. Ebenfalls klar erkennbar sind der Einschnitt des Jahres 1961 mit signifikant ansteigender Protest- und Verfolgungsintensität, ferner die sich in gegenteiliger Richtung auswirkende Reform- und „Liberalisierungsphase“ von 1963/65 sowie der anschließende sukzessive, ab 1968/69 markante Anstieg der politischen Straftatbestände und justiziellen Ahndungen. Seine besondere Prägung erhielt das Dissens- und Protestszenario der 1960er-Jahre insgesamt durch das öffentliche Auftreten und politische Wirksamwerden der ersten Nachkriegsgeneration („Jahrgang 1945“) mit dem ihr eigenen Abgrenzungsstreben gegenüber der Aufbaugeneration.

Als Problempunkt und Merkposten für künftige Forschungsarbeiten zu Widerständigkeitsphänomenen bleibt die Definitionsfrage. Ist es sinnvoll und zulässig, die Intentionalität des/der Handelnden zugunsten der bestehenden Herrschaftsbedingungen so weit zurückzufahren, dass etwa gewöhnliche Verteilungskonflikte oder alltägliche Unmutsäußerungen im Arbeitsumfeld zwangsläufig als Widerstandshandlungen zu verstehen sind, weil in einem planwirtschaftlichen System die Staatsführung die Letztverantwortung trägt und ökomische Kritik somit immer auch als politische Kritik zu verstehen ist? Eine solch starke Anbindung des Widerstandsbegriffs an die Herrschaftsbedingungen und die Definitionsmacht der Regierenden stellt meines Erachtens nicht nur eine dem heuristischen Nachvollzug hinderliche Pauschalisierung dar, sondern erschwert auch die Durchführung notwendiger Vergleichsanalysen – beispielsweise zu Phänomenen und Implikationen des „Wertewandels“ in den deutschen Halbstaaten der 1960er-Jahre.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension