M. Böhm: Akkulturation und Mehrsprachigkeit der Brandenburger Hugenotten

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Titel
Sprachenwechsel. Akkulturation und Mehrsprachigkeit der Brandenburger Hugenotten vom 17. bis 19. Jahrhundert


Autor(en)
Böhm, Manuela
Erschienen
Berlin 2010: de Gruyter
Anzahl Seiten
640 S.
Preis
€ 119,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Klingebiel, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Die Hugenotten in Deutschland sind in der Vergangenheit wiederholt Gegenstand von literatur- und sprachgeschichtlichen Untersuchungen gewesen. Einige wenige Studien, die in konzeptioneller Hinsicht inzwischen vielfach überholt sind, waren auch dem Sprachenwechsel gewidmet, doch gewöhnlich auf einzelne Orte (Berlin, hessische Gemeinden) beschränkt (vgl. S. 15ff.). Die neue Studie von Manuela Böhm ist dagegen vergleichend angelegt: Neben der Berliner Hauptgemeinde hat sie die hugenottischen Kommunitäten in Strasburg/Uckermark, einer Ackerbürgerstadt, und den ebenfalls uckermärkischen ländlichen Siedlungen um das kirchliche Gemeindezentrum Battin untersucht. Sie hat mithin sowohl den Stadt-Land-Unterschied als auch die unterschiedliche soziale und regionale Zusammensetzung der hugenottischen Gemeinschaften für ihre Studie nutzbar machen können. Zu den archivalischen Quellen der Arbeit zählen einerseits die lokalen Gemeinderegister (Kirchenbücher, Konsistorialprotokolle, Korrespondenzen mit den Oberbehörden), andererseits die im Französischen Dom zu Berlin zu findenden Akten der Oberbehörden. Private Korrespondenzen hat sie nur gelegentlich heranziehen können.

Die Studie hat für eine Dissertation einen beträchtlichen Umfang. Dies ergibt sich teils aus den Darstellungszwängen des vergleichenden Zugriffs, teils aber aus der Länge der etwas umständlich entwickelten einleitenden Abschnitte, denen eine Reduktion auf das funktional Erforderliche gut getan hätte: Nach einer sehr knappen Einleitung (S. 1-10) hat die Verfasserin ihren konzeptionellen Ansatz im Rahmen von zwei Vorkapiteln, die zum einen dem Stand der Sprachkontaktforschung und historischen Soziolinguistik (S. 11-45), zum andern dem der historiographischen Forschung (S. 46-81) gewidmet sind, noch einmal aufgenommen und ausführlich erläutert. Eine Reflexion über Sprachdebatten im Refuge dient als Brücke zum Hauptteil (S. 82-103). Der Hauptteil der Studie, der über 400 Seiten umfasst, besteht aus 4 Kapiteln (Profil 1-4) von unterschiedlicher Länge. Zunächst wird der Schrift- und Sprachenwechsel in den hugenottischen Kolonien Berlin, Strasburg und Battin betrachtet (S. 118-245), wobei von den vier Parametern der historische Kontext ausführlich dargelegt (S. 128-184), das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit (S. 185-200), die Textsorten und ihre Kontextualität (S. 201-213) sowie schließlich die Domänen Kirche/Gottesdienst und Schule (S. 214-238) stärker verdichtet erörtert werden. Dann folgt eine diachrone Untersuchung der Verschriftungspraxis in Konsistorialprotokollen (S. 247-384), eine Analyse individueller Sprachenwechselszenen und -biographien (S. 385-434) und schließlich die Rolle der Schule beim Sprachenwechsel (S. 435-515). Die Zusammenfassung bietet neben einer Erörterung der Kapitelerträge eine gedankenreiche, differenzierende Evaluation der eingesetzten Methoden (S. 516-535).

Die sprachwissenschaftlichen Untersuchungen im engeren Sinne hat die Verfasserin insgesamt mit Problembewusstsein, Umsicht und methodischer Präzision durchgeführt. Es ist hier nicht möglich, die reiche Vielfalt der Ergebnisse und Diskussionspunkte im Einzelnen zu erörtern. Wichtig für die Hugenottenforschung ist vor allem, dass die Phasenabfolge des asynchronen Sprachenwechsels in Berlin und in den Landgemeinden aufs Ganze gesehen den von Frédéric Hartweg vorgeschlagenen Rahmendaten entspricht (vgl. nur die Übersicht S. 250). Die Leistung Böhms besteht vor allem darin, ihre Ergebnisse auf breiterer stofflicher Basis und mit größerem methodischen Aufwand gewonnen zu haben. Indes ist ein Vorbehalt anzufügen: So überzeugend auch die sprachwissenschaftliche Analyse der Texte ist, so sehr lässt die Einbeziehung des historischen Kontextes, ohne den die Textproben nicht verständig eingeordnet werden können, in einigen Fällen zu wünschen übrig. Hier zeigt sich, dass die Verfasserin zu wenig mit der Lebenswelt der frühen Neuzeit vertraut ist, um die benutzte Literatur eigenständig beurteilen zu können. Nur so ist es zu erklären, dass sie bei Ausführungen zur politischen, Wirtschafts-, Sozial- und Verfassungsgeschichte beinahe stets den jeweils zitierten Werken folgt, die freilich, was Entstehungszeit und methodischen Zugriff angeht, sehr unterschiedlicher Provenienz sind. Die Abhängigkeit von den jeweils benutzten Referenzwerken führt zu kuriosen Fehlschlüssen: Bei Böhms ansonsten überzeugender Analyse einer aus dem Jahre 1731 stammenden Handschrift von Abraham Devantier, einem laboureur, stellt sie ausgehend von der kalligraphischen Qualität Überlegungen zu dessen Beruf an und mutmaßt, dass es sich dabei um einen Facharbeiter oder Spezialhandwerker handeln könnte (S. 404). Im Abschnitt zum historischen Kontext hat sie dagegen richtig notiert, dass die Battiner Kolonie ausschließlich aus dienstpflichtigen Ackerbauern bestand (S. 165f.). In diesem Sinne ist aber auch laboureur zu verstehen, ein Begriff, der in den älteren Kolonielisten oft in der Form laboureur de terre vorkommt.

Bemängeln muss man auch, dass die Verfasserin ihre Begriffe nicht immer sorgfältig genug gewählt hat: So bezeichnet sie die vom Sprachenwechsel betroffene, je länger, je weniger scharf zu fassende Gruppe in Anlehnung an den Berliner Sprachgebrauch durchweg als 'Kolonisten' (S. 53, 502 und öfter). Das ist problematisch: Französische bzw. Pfälzer Kolonie und französisch-reformierte Gemeinde waren zwar anfangs Zwillingsinstitutionen, haben sich aber aus vielerlei Gründen bald voneinander entfernt (S. 141, 144 weist sie selbst im Zusammenhang mit dem Wahlbürgerrecht von 1772 darauf hin, zieht aber nicht die notwendigen Schlüsse). Der Sprachenwechsel erfolgte stets schneller in der Kolonie als in der Kirchengemeinde. Und da Manuela Böhm sich, was bereits ihr Quellenkorpus ausweist, ganz überwiegend mit dem Sprachenwechsel innerhalb der kirchlichen Gemeinde beschäftigt hat (und eben nicht mit den Gerichtsakten der Kolonien), führt der Begriff Kolonist in die Irre: Wenn etwa Kolonistenzahlen genannt werden, weiß nur der Kenner der von ihr zitierten Literatur, ob damit die Mitglieder der französische Gemeinde oder die der Kolonie gemeint sind.

Ferner ist davor zu warnen, frühneuzeitliche Institutionen durch den unvermittelten Einsatz moderner Bezeichnungen zu 'modernisieren'. So ist zu betonen, dass die von Böhm in ihrem konzeptionellen Setzkasten als 'Domäne' klassifizierte Schule (insbesondere S. 125ff., 435ff., 528f.) mit ihrem Lehrpersonal keineswegs eine eigenständige Institution war, sondern bis ins 19. Jahrhundert hinein zumal auf dem Land eine Veranstaltung der Kirche geblieben ist – bei einem Küster von Lehrer zu sprechen ist zumindest missverständlich. Schließlich sei angemerkt, dass die von der Verfasserin erörterte sehr frühe Übernahme deutscher Rechtsbezeichnungen durch die Hugenotten auch ein Reflex der frühmodernen Rechtskultur war (S. 198); bei einer Übersetzung drohte der Verlust des Rechtsgehalts (auch die Deduktionen in lateinischer Sprache haben deshalb stets die deutschen Begriffe eingestellt).

Die Verfasserin hat sich verständlicherweise darum bemüht, ihre Studie mit der Erfahrungswelt der von Migrationsvorgängen und ihren Folgen erfüllten Gegenwart zu verknüpfen. Soweit dies, etwa in den einleitenden Überlegungen, auf assoziativem Wege geschieht, ist dagegen nichts einzuwenden. Doch wenn dabei ein diachroner Vergleich angestrebt wird, ist der aktuelle entleerte Integrationsbegriff der politischen Klasse kein taugliches Instrument: In einer Ständegesellschaft fanden Integrationsprozesse im soziologischen Sinne unter ganz anderen Vorzeichen statt als im modernen deutschen Sozialstaat. Im Preußen des 18. Jahrhunderts gab es zudem keine egalitäre Bürgergesellschaft, sondern – neben anderen – nur den Stand des Stadtbürgers (vgl. dagegen Böhms Varianten des Bürgerbegriffs S. 73, 138, 140, mit 59f.). Man muss nicht Kosellecks Konzept der Achsenzeit teilen, um zu erkennen, dass es im Zeitalter der Französischen Revolution zu grundlegenden Wandlungen gekommen ist, die bei einer ja auch das 19. Jahrhundert einschließenden Studie über den Sprachenwechsel der Hugenotten zu beachten sind. Damit verknüpft ist schließlich auch die Frage, ob man mit Blick auf die Berliner Hugenottengemeinschaft (von kleineren Gemeinden zu schweigen) von einer ungebrochenen Kontinuität (oder gar einer überzeitlichen Identität) vom 17. bis zum 20. Jahrhundert sprechen darf – wie die Verfasserin gelegentlich zu glauben scheint – oder ob das ein Konstrukt des 19. Jahrhunderts ist.

In der Summe leistet die Studie einen willkommenen Beitrag zur Hugenottenforschung; ihr hauptsächlicher Wert liegt allerdings in der Erprobung von sprachwissenschaftlichen Ansätzen an einem historischen Gegenstand, der in mancher Hinsicht noch von Mythen geprägt ist, die sich modernen Sichtweisen anverwandeln können (S. 215). Das ist, zumal für eine Nichthistorikerin, die zunächst den eigenen fachlichen Anforderungen genügen will, sicher nicht leicht zu bewältigen. Indes zeigt die Studie auch, dass die Anwendung moderner, auf empirischen Studien des 20. Jahrhunderts beruhender Konzepte auf historische Themen ohne eine angemessene Operationalisierungsleistung nicht möglich ist. Manuela Böhm hat das Problem zwar in einem allgemeinen Sinne erfasst, aber in ihrem Konzept nicht systematisch aufgehoben, so dass sich – trotz aller Umsicht bei den sprachwissenschaftlichen Analysen – kurzschlüssige Ergebnisse hin und wieder nicht haben vermeiden lassen. Das ist ärgerlich, aber auch lehrreich.

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