T. David (Hrsg.): Die Produktion von Ungleichheit

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Titel
Die Produktion von Ungleichheiten. La production des inégalités


Herausgeber
David, Thomas; Groeber, Valentin; Schaufelbuehl, Janick Marina; Studer, Brigitte
Erschienen
Zürich 2009: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 31,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Hübner, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Wie entstehen Ungleichheiten? Die Autoren dieses Bandes gehen dieser Frage am Beispiel der Schweiz vom Beginn der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart nach. Das ist nicht ohne Reiz. Denn auf den ersten Blick könnte es scheinen, als stünde die Schweiz eher für Gleichheit. Waren es nicht im Jahr 1291 Vertreter der Schweizer Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden, die auf dem Rütli, einer über dem Vierwaldstätter See gelegenen Bergwiese, ihren Ewigen Bund – zumindest nach Friedrich Schiller – als „ein einzig Volk von Brüdern“ beschworen? Hatte nicht rund 450 Jahre später der aus Genf stammende Jean Jacques Rousseau 1755 im kritisch gewendeten „Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes“1 der Gleichheit ein Loblied gesungen? Und war das 1934 zum Gesetz erhobene Schweizer Bankgeheimnis nicht geradezu eine Institution der Gleichheit – bis vor kurzem zumindest?

Es gehört offenbar zu den Konstanten der Geschichte, wenn hinter demonstrativer Gleichheitsrhetorik mehr oder minder versteckt Ungleichheit lauert. Der Umstand jedenfalls, dass im Gegensatz zu Artikel 2 der Schweizer Bundesverfassung, der eine möglichst große Chancengleichheit unter den Bürgerinnen und Bürgern vorschreibt, die Ungleichheiten etwa bei den Einkommen und der Bildung in jüngster Zeit eher zu-, als abgenommen haben, war den Herausgebern Anlass, das Thema um eine historische Perspektive zu erweitern. Gelegenheit hierzu bot im Mai 2008 die Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Lausanne. Man wird daran erinnern dürfen, dass der 47. Deutsche Historikertag ebenfalls 2008 unter dem Leitthema „Ungleichheiten“ stand.

Im einleitenden Beitrag zu diesem Band machen die Herausgeber auf ein in allen hochentwickelten Staaten anzutreffendes Phänomen aufmerksam: Wurden dort im Zeitraum 1950 bis 1980 soziale Ungleichheiten eher abgeschwächt und verwischt, so verlangsamte sich dieser Prozess seither oder kam ganz zum Erliegen, in manchen Fällen erfolgte sogar eine Trendumkehr. Dieser Befund steht in einem offenkundigen Zusammenhang mit der in den 1970er-Jahren aufbrechenden Krise moderner Arbeitsgesellschaften und Sozialstaaten, die sich als großes Thema der Zeitgeschichte erweist. Es ist sicher kein Zufall, wenn nahezu zeitgleich mit dem hier anzuzeigenden Band in Deutschland eine Aufsatzsammlung über soziale Ungleichheit im Sozialstaat erschien.2

Ungleichheiten gibt es viele, aber es sind insbesondere soziale Ungleichheiten oder solche, die soziale Konsequenzen nach sich ziehen, denen die Frage nach Ursachen und Verantwortlichkeiten wie ein Schatten folgt. Dies mag die Herausgeber in der Absicht bestärkt haben, den Fokus nicht nur auf Ungleichheiten „als solche“ zu richten, sondern „auf die Herstellung und Reproduktion von Ungleichheiten und auf ihre (wissenden wie unfreiwilligen) Protagonisten“ (S. 15). Ein solcher Forschungsansatz weckt unbestreitbar die wissenschaftliche Neugier, doch wirft er auch erhebliche methodische Probleme auf. Dabei geht es nicht einmal in erster Linie um die diffizile Quellenlage, vielmehr verlangen die Begriffe „Produktion“ und „Ungleichheit“ nach kritischer Reflexion. Denn mit der Verwendung des Produktions-Begriffs verbindet sich konsequenterweise die Frage nach den Produzenten. Auf diese Weise erfährt der Produktions-Vorgang soziale, wirtschaftliche, politische und kulturelle Konnotationen. Gleichzeitig zeigt sich der Begriff offen für ganz verschiedene Produktionsszenarien, lässt sich doch Ungleichheit durch brachiale Ausbeutung oder verschleierte Benachteiligung ebenso erzeugen wie durch subtile Distinktion. Die bewusste Bindung der Produktion von Ungleichheit an den Vorgang der Diskriminierung fokussiert das Thema auf soziale Ungleichheit. Dieses zweifellos legitime Verfahren stellt aber auch die Frage nach der Produktion von Gleichheit sowie deren Erfolg oder Misserfolg in den Raum. Dieser Aspekt wird in einigen Beiträgen zumindest tangiert.

Der Band gliedert sich nach fünf Schwerpunkten: 1. Ungleichheiten und Diskriminierung; 2. die Kategorisierung, Offenlegung und Verschleierung; 3. Ungleichheiten gegenüber Risiken; 4. Instanzen der Ungleichheitsproduktion; 5. Staat und Produktion von Ungleichheiten. Im ersten Themenkreis untersucht Daniel Schläppi die Rolle von Kommunen und Korporationen der Vormoderne als „Differenzmaschinen“ am Beispiel der Berner „Burger“ und wie sie im 19. und 20. Jahrhundert mit Hilfe juristischer Privilegien durch Festhalten an Traditionen ihren Kollektivbesitz gegen moderne und postmoderne Begehrlichkeiten verteidigen. Anne Lise Head-König beleuchtet die Diskriminierung von Frauen bei der Vererbung von Grundbesitz in der Luzerner Landwirtschaft seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Benachteiligung von nicht voll- und langzeitbeschäftigten Frauen durch die Schweizer Pensionskassen ist der Beitrag von Mathieu Leingruber gewidmet. Im zweiten Schwerpunkt zeigt Andreas Würgler, wie die Abgesandten der eidgenössischen Tagsatzung vom 16. bis 18. Jahrhundert Riten und Rituale einsetzten, um egalitäre Ideale mit der ungleichen Verteilung von politischer und wirtschaftlicher Macht in Einklang zu bringen. Mariama Kaba rekonstruiert am Beispiel des Umgangs mit behinderten Menschen die Aufladung des Begriffs der Ungleichheit mit der Kategorie des „Nichtnormalen“. Die Beispiele von Ingenieuren und Betriebswirtschaftlern zieht Felix Bühlmann heran, um zu illustrieren, wie das Postulat der Aufstiegsmobilität die Benachteiligung von Frauen und Arbeitern verbirgt. Reto Schumacher und Michel Oris gehen im dritten Schwerpunkt sozialen Faktoren nach, die in der Mortalität der Genfer Bevölkerung zwischen 1625 und 2004 zu Buche schlugen. Kritisch betrachten Jean-Pierre Tabin, Isabelle Probst und George Waardenburg die Statistik der Schweizerischen Unfallversicherung, die bestimmten Berufen ein höheres Risiko von Arbeitsunfällen zuschreibt, aber solche Arbeitsbedingungen vernachlässigt, die aus Unterschieden nach Geschlecht, Alter oder Nationalität resultieren. Die Frage nach den Instanzen der Reproduktion von Ungleichheit steht im Mittelpunkt des vierten Themenkreises. Hierzu zählt Mischa Suter auch die Sparkassen. In einem Beitrag über die Sparkassenvereine im Kanton Zürich während der Zeit des Pauperismus etwa von 1820 bis 1860 stellt er deren Modernisierungsfunktion heraus und betont ihr Bemühen um die Förderung des Sparens und der haushälterischen Rationalität. Es sei ihnen weniger um soziale Sicherung gegangen als um die Internalisierung bürgerlicher Normen. Philippe Longchamp und Danièle Lanza sowie Sylvie Burgnard und Christina Ferreira beleuchten unter wechselnden Blickwinkeln die Perzeption sozialer Ungleichheit im Verhältnis zwischen Ärzten und Patientinnen, bei den Gesundheitskonsultationen im Schulmilieu sowie über die differenzierende Wirkung des sozialen Status bei der Formulierung von Sozialversicherungsanträgen. Der fünfte Schwerpunkt thematisiert die Rolle des Staates bei der Produktion von Ungleichheiten. So beschreibt Regula Argast die unterschiedliche Anwendung des Assimilationsbegriffs durch die schweizerischen Behörden im 20. Jahrhundert und den Wandel seiner Kriterien. Nach den Gründen, weshalb die Kartellbildung während der Jahre 1928 bis 1931 in der Schweizer Uhrenindustrie im Widerspruch zur Intention zu größeren Ungleichgewichten führte, fragen Johann Boillat und Frédéric Noyer. Eine der wichtigsten Ursachen sehen sie in der Ablehnung der Hochpreispolitik durch einen Teil der Branche. Giesela Hürlimann und Ganga Jey Aratnam problematisieren die Umverteilung durch Steuern. Überraschenderweise sind das Schweizer Steuersystem und seine Wirkungen wenig erforscht. Hürlimann und Aratnam fassen den derzeitigen Kenntnisstand zusammen und spitzen ihren Befund auf die Aussage zu, dass die geringe Steuerprogression trotz mancher staatlichen Intervention kaum zu einer Umverteilung von oben nach unten beigetragen hat, vielmehr zeigte sich seit den späten 1970er-Jahren auch in der Schweiz eine Tendenz zu mehr Verteilungsungleichheit. Mit gutem Grund führt das zu der Frage, ob sich Simon Kuznets’ optimistische Annahme eines positiven Zusammenhangs zwischen technologischer Entwicklung, Wirtschaftswachstum, sektoralem Wandel und abnehmender Einkommensungleichheit erschöpft hat.

Die in diesem Band versammelten Beiträge gewähren am Schweizer Beispiel, das im europäischen Vergleich eine Reihe von Besonderheiten aufweist, differenzierte Einblicke in jene Kausalzusammenhänge und sozialen Mechanismen, die aus sozioökonomischen, ethnischen, Geschlechts- und Generationenunterschieden Ungleichheiten werden lassen. Im Begriff der Ungleichheit schwingt dabei in der Regel auch jener der Ungerechtigkeit mit. Herausgeber und Autoren betonen deshalb auch „die normative Dimension des Forschungsinteresses an diesem Gegenstand“ (S. 19). Es lohnte, diesen Punkt eingehender zu diskutieren, denn die normative Aufladung einer Fragestellung, der Analyse und Interpretation gehört zu den in methodischer Hinsicht heikelsten Übungen. Auf jeden Fall ist es ein Vorzug des Buches, hierzu zu ermuntern. Auch jenseits seiner sozialhistorischen Kerndimension steuert dieser Band sehr bedenkenswerte Fragen und Impulse zu einer brandaktuellen sozialpolitischen Debatte bei. Über die deutsch-französische Sprachschwelle hinweg – außer dem zweisprachig abgedruckten Einleitungsbeitrag sind zehn Aufsätze in Französisch und fünf in Deutsch enthalten – dürfte er die interdisziplinäre Diskussion beleben.

Anmerkungen:
1 dt. Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen.
2 Hans Günter Hockerts / Winfried Süß (Hrsg.): Soziale Ungleichheit im Sozialstaat. Die Bundesrepublik Deutschland und Großbritannien im Vergleich, München 2010.

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