A. Renner: Russische Autokratie und europäische Medizin

Cover
Titel
Russische Autokratie und europäische Medizin. Organisierter Wissenstransfer im 18. Jahrhundert


Autor(en)
Renner, Andreas
Reihe
Medizin, Gesellschaft und Geschichte – Beihefte (MedGG-B) 34
Erschienen
Stuttgart 2010: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
373 S.
Preis
€ 52,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daria Sambuk, Friedrich-Schiller-Universität Jena / Collegium Carolinum München

Dieses Buch hätte längst geschrieben werden sollen. Doch zwei strukturelle Besonderheiten der deutschen Geschichtswissenschaft haben es bisher verhindert: die äußerst seltene Kenntnis osteuropäischer Sprachen unter den Medizinhistorikern und das ebenfalls seltene Interesse der Osteuropaspezialisten an medizinhistorischen Fragen. Andreas Renner hat mit seiner Kölner Habilitationsschrift diesem Desiderat ein Ende bereitet und sich auf das wenig erforschte Terrain der Medizingeschichte im Russischen Reich begeben.1

Renners Interesse gilt dem 18. Jahrhundert, in dem die Medizin in Verbindung mit der Policeywissenschaft, absolutistischen Herrschaftsformen und der Aufklärung ihre Deutungshoheit in neuen Bereichen manifestierte. Im Zarenreich war das 18. Jahrhundert durch den Import der akademischen Medizin aus dem Westen Europas gekennzeichnet – von Peter I. eingeleitet und von seiner selbsternannten Epigonin, Katharina II., verstetigt. Auf die Regierungsjahre dieser beiden Herrscher, in die die meisten und tiefgreifendsten Veränderungen fallen, richtet sich der Fokus der Studie.

Dass viele Ärzte aus dem europäischen Westen in den Dienst des Zaren traten, dürfte zu den wenigen allgemein bekannten Tatsachen gehören.2 Welche Bedeutung ihre Einladung nach Russland im Sinne eines Wissenstransfers hatte, wie und wie weit sich das importierte Wissen ausbreitete, sind Fragen, die Renner in seiner Arbeit stellt.3 Dabei geht es ihm nicht um die Messung eines angeblichen medizinischen Fortschritts anhand von Erfolgen einer vermeintlich überlegenen akademischen Medizin. Stattdessen fragt Renner „nach den beteiligten Akteuren, ihren Absichten, Interessen und nach dem tatsächlich Erreichten“ (S. 324). Was ihn interessiert, ist der „Kommunikationsprozess zwischen Importeuren und Exporteuren von Wissen“ (S. 329).

Am Anfang steht der Zweifel an der Überlegenheit der akademischen Medizin, die sich im 18. Jahrhundert keineswegs durchschlagender Behandlungserfolge rühmen konnte. Auf dieser Prämisse gründen die beiden zentralen Fragen des Buches: die nach dem Warum des Imports und nach dem Wie seiner Einpassung in die Gegebenheiten des Zarenreiches. Erfreulicherweise nimmt Renner Abstand von der Diskussion über Russlands Rückständigkeit, die ja meist in eindimensionalen Kategorien verhaftet bleibt. Überraschend ist jedoch der fehlende Wunsch, die Untersuchung des bewusst herbeigeführten Wissenstransfers aus dem europäischen Westen auch als einen Beitrag zur Debatte um Russlands Position in und gegenüber Europa zu sehen.

Während die Frage nach dem Warum des Wissensimports schnell und plausibel mit der „Kompatibilität der systematisch geschulten Mediziner mit den Erfordernissen der russischen Reichs- und Staatsbildung“ (S. 323) beantwortet ist, bildet die Frage nach dem Wie des Transfers den eigentlichen Kern der Arbeit. Die Untersuchung findet auf vier Ebenen statt: Ärzte, Medizinalpolitik, Diskurs und Wirkung medizinischer Praxis.

Ziel des medizinischen Wissenstransfers war es, „ein eigenständiges, sich selbst reproduzierendes Medizinalwesen“ (S. 326) zu schaffen, und zwar auf der Grundlage der akademischen Medizin, die im 18. Jahrhundert an vielen westeuropäischen Universitäten, nicht aber in Russland gelehrt wurde. Waren die oberen Ränge der medizinischen Wissenschaft zunächst von Ausländern dominiert, kam ab der Jahrhundertmitte eine zahlenmäßig vergleichbar starke Gruppe einheimischer promovierter Ärzte hinzu, die entweder im Ausland oder an den allmählich entstehenden Bildungseinrichtungen im Zarenreich studiert hatten. Die Rolle der Ärzte beschränkte sich nicht nur auf die Anwendung einer bestimmten Heilkunde. Vielmehr fungierten sie als Träger einer neuen wissenschaftlichen Expertise, die in den von der Staatsgewalt definierten Bereichen eingesetzt wurde. Während Ärzte „zur Bürokratisierung des zarischen Machtapparats beitrugen, erhöhten sie die Reichweite autokratischer Herrschaft“ (S. 324), so dass Renner in Bezug auf Medizinalbeamte von einer „imperialen Elite“ (S. 75) spricht. Zwar blieb ihre Existenz und Tätigkeit eng an die Staatsgewalt gebunden, doch unterschieden sie sich von der übrigen zarischen Beamtenschaft durch eine berufliche Identität und früher einsetzende Professionalisierung.

Die obrigkeitliche Medizinalpolitik erscheint als Teil einer von der zarischen Staatsgewalt initiierten Zivilisierungsmission. Sie bildete zum einen den Rahmen für die Entfaltung der akademischen Medizin, war aber gleichzeitig auf deren Mitwirkung bei der Umsetzung bevölkerungs- und sozialpolitischer Ziele angewiesen. Die Zusammenwirkung von Politik und Medizin schildert Renner anhand von zwei Beispielen, die gleichzeitig die Begegnung der tradierten popularen und der importierten akademischen medikalen Kultur im Alltag darstellen: der Bekämpfung der Pocken und der Pestepidemie in den frühen 1770er-Jahren. Während die Staatsgewalt bei der Pockenimpfung auf langfristige Überzeugung der Untertanen setzte und auf Gewalt verzichtete, lösten die Seuchenschutzmaßnahmen während der Pestepidemie den größten offenen Konflikt zweier medikaler Kulturen aus.

Der importierten Medizin waren nicht nur bei der Umsetzung von Seuchenschutzmaßnahmen Grenzen gesetzt. Trotz des Austauschs zwischen akademischer und popularer Medikalkultur und des Eklektizismus im individuellen medizinischen Alltag stand der positivistische naturwissenschaftliche Anspruch der gelehrten Medizin im Widerspruch zum Kern der tradierten Medizin. Diese räumte dem immateriellen Aspekt von Krankheit einen prominenten Platz sowohl in ihren Deutungsmustern als auch in den Behandlungsmethoden ein. Es ist ein Verdienst von Renners Arbeit, dem Leser einen Einblick in Krankheitsvorstellungen im Zarenreich des 18. Jahrhunderts gewährt zu haben.

Während die sogenannte „Volksmedizin“ sich durch eine mündliche Tradition auszeichnete, eroberte die importierte Medizin den schriftlichen medizinischen Diskurs, der sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts entwickelte. In Abhandlungen für ein akademisch gebildetes Publikum oder in Ratgebern für lesekundige Gutsherren in entlegenen Gegenden des Riesenreiches postulierten die Autoren eine Verantwortung des Individuums für seine Gesundheit und manifestierten gleichzeitig das eigene Deutungsmonopol in Fragen der Krankheit und der Gesundheit.

Auf die Frage nach der Reichweite des Transfers von medizinischem Wissen liefert die Analyse der vier Ebenen ein abgestuftes Ergebnis: Während der Import – unter dem Renner keine bloße Übernahme neuer Inhalte, sondern deren selektive Anpassung an die Gegebenheiten im Russischen Reich versteht – etwa im Bereich der Bildungspolitik erfolgreich war, ließ seine Wirkung nach, je weiter sich das medizinische Wissen von der Politik und von den Eliten entfernte.

Ein Verdienst der Studie besteht darin, dass Renner an vielen Stellen auf Aspekte der russischen Medizingeschichte hinweist, die sie – im Positiven wie im Negativen – im europäischen Vergleich äußerst „normal“ erscheinen lassen: etwa die Symbiose zwischen den akademisch gelehrten Heilkundigen und der Obrigkeit, das „rasch erreichte europäische Niveau medizinischer Forschung und Ausbildung“ (S. 29) oder das Nebeneinander verschiedener medikaler Kulturen im Alltag, das mit einer diskursiven Vernichtung der Laienmedizin durch akademische Ärzte einherging. Diese Ergebnisse mögen zwar für Andreas Renner nicht zu den wichtigsten seiner Studie gehören, sind aber zentral für die Verortung des Zarenreichs in der europäischen Medizingeschichte.

Geschieht hier die Gegenüberstellung von Russland und Europa eher am Rande, ist sie in der Begriffswahl dagegen unübersehbar. Recht früh weist Renner darauf hin, dass „nicht ‚die europäische Medizin‘ […], sondern einzelne Elemente“ ins Zarenreich importiert wurden (S. 39). Auch sei es aufgrund der enormen Anzahl unterschiedlicher theoretischer Schulen und ihrer sich teilweise widersprechenden Heilmethoden schwierig, von einer europäischen Medizin zu sprechen. Allerdings tut es Renner doch, und darin besteht die größte Schwäche seiner ansonsten überzeugend argumentierenden Studie. Im Zentrum der Untersuchung steht die oft reibungsvolle Begegnung zweier medikaler Kulturen, die auch aus unterschiedlichen Gegenden Westeuropas überliefert ist und somit kein russisches Spezifikum bildete.4 Der Kulturkonflikt entzündete sich entlang der Linien akademisch versus nichtakademisch, schriftlich versus mündlich, theoretisierend versus praktisch orientiert, positivistisch-naturwissenschaftlich versus immateriell etc. und nicht an einem vermeintlichen Gegensatz zwischen europäisch und russisch. Genau dies belegt auch Renners Analyse, und somit steht die Begriffswahl im Widerspruch zum Ergebnis der Studie. Bedauerlicherweise suggeriert bereits der Buchtitel eine Gegensätzlichkeit zwischen „russisch“ und „europäisch“, die von den Befunden nicht belegt wird.

Insgesamt ist Andreas Renner eine fundierte und spannende Studie gelungen, die sowohl Medizin- als auch Osteuropahistoriker mit großem Erkenntnisgewinn lesen werden.

Anmerkungen:
1 Die meisten Studien zur Medizingeschichte in Russland konzentrieren sich auf die zweite Hälfte des 19. sowie auf das 20. Jahrhundert. Von den verhältnismäßig wenigen Untersuchungen zum 18. Jahrhundert sind vor allem die Arbeiten von John T. Alexander zu nennen – u.a. Bubonic Plague in Early Modern Russia. Public Health and Urban Disaster, 3. Aufl., Oxford 2003 (1. Aufl. 1980). Von den neueren Studien sei die Arbeit von Konstantin A. Bogdanov hervorgehoben: Vrači, pacienty, čitateli. Patografičeskie teksty russkoj kul’tury XVIII – XIX vekov, Moskau 2005.
2 Die Anfänge der Forschung zu den Ärzten aus dem deutschsprachigen Raum bei: Erik Amburger, Beiträge zur Geschichte der deutsch-russischen kulturellen Beziehungen, Gießen 1961. Siehe auch die Schriftenreihe des DFG-Projekts „Deutsch-russische Beziehungen in der Medizin des 18. und 19. Jahrhunderts“ am Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig: Deutsch-russische Beziehungen in Medizin und Naturwissenschaft, hrsg. von Dietrich von Engelhardt und Ingrid Kästner.
3 Zu dieser Frage siehe auch Martin Dinges, Kann man medizinische Aufklärung importieren? Kulturelle Probleme im Umfeld deutscher Ärzte in Rußland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Mathias Beer / Dittmar Dahlmann (Hrsg.), Migration nach Ost- und Südosteuropa vom 18. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Ursachen – Verlauf – Ergebnis, Stuttgart 1999, S. 209-234.
4 Siehe etwa Olivier Faure, La vaccination dans la région Lyonnaise au début du XIXe siècle. Résistances et récendications popularies, in: Cahiers d’Histoire (Lyon) 29 (1984), S. 191-209; Jean-Pierre Goubert, Epidémies, médicine et état en France à la fin de l’Ancien Régime, in: Neithart Bulst / Robert Delort (Hrsg.), Maladies et société (XIIe - XVIIIe siècles), Paris 1989, S. 393-401; Michael Stolberg, Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit, Köln 2003.

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