S. Friedreich: Autos bauen im Sozialismus

Cover
Titel
Autos bauen im Sozialismus. Arbeit und Organisationskultur in der Zwickauer Automobilindustrie nach 1945


Autor(en)
Friedreich, Sönke
Reihe
Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 25
Erschienen
Anzahl Seiten
565 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Karlsch, Berlin

Friedreichs umfangreiche Studie ist das Ergebnis eines volkskundlichen Forschungsprojektes und wurde in einer früheren Fassung 2006/07 als Habilitationsschrift an der Philosophischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel angenommen. Die volkskundliche Unternehmens- und Organisationsforschung ist eine vergleichsweise junge Disziplin. Daher gibt es bisher kaum Arbeiten, die sich mit solch einem Forschungsansatz den Arbeits- und Lebenswelten in sozialistischen Betrieben zugewandt haben. Insofern kommt dem Buch von Friedreich Pioniercharakter zu. Während in volkswirtschaftlichen und soziologischen Arbeiten über die Transformation von der Plan- zur Marktwirtschaft vor allem der Bruch von der Arbeits- und Managementkultur betont wird, sucht Friedreich auch nach den Kontinuitäten.

Das gut lesbare und wohltuend gründlich lektorierte Buch1 beruht auf 27 Einzelinterviews sowie einem umfangreichen Quellen- und Literaturstudium.

Von den Interviewpartnern waren 15 zuletzt in leitender Stellung beim VEB Sachsenring in Zwickau tätig. Dies schränkt die Repräsentativität der Untersuchung ein. In den Interviews spiegeln sich vornehmlich die Sichtweisen des älteren männlichen Führungspersonals wider.

Die Studie ist in sechs Kapitel gegliedert. Einleitend werden die Fragestellungen und Methoden dargelegt und ein kurzer Überblick zur Geschichte des Zwickauer Automobilbaus bis 1958 – dem Jahr der Gründung des „VEB Sachsenring Automobilwerke Zwickau“ – gegeben. Kapitel Zwei behandelt die Realitäten der Planwirtschaft, Kapitel Drei die Autobauer und ihre Fabrik, Kapitel Vier die Lebenswelt des Einzelnen im Betrieb und Kapitel Fünf den Übergang zur Marktwirtschaft. Im abschließenden Kapitel resümiert Friedreich seine Ergebnisse und gibt einen Ausblick.

Der Automobilbau gehört inzwischen neben der Flugzeugindustrie und der Mikroelektronik zu den von der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte am besten erforschten Industriebranchen der DDR.2 Grundlegend Neues zur Technik- und Wirtschaftsgeschichte des Automobilbaus in Sachsen und des VEB Sachsenring bietet das Buch nicht. Nochmals werden die Anfänge bei Horch und Wanderer rekapituliert, die frühen DDR-Jahre mit ihren aus der Not geborenen, durchaus innovativen Ansätzen dargestellt und die Stagnation in der Serienfertigung seit Anfang der 1960er-Jahre, die Versuche zur Entwicklung neuer Modelle, die Krise der PKW-Produktion 1970/71, das gescheiterte Projekt zum Bau eines „RGW-Autos“ sowie der letzte Modernisierungsansatz – das Kooperationsprojekt mit Volkswagen Mitte der 1980er-Jahre – behandelt. Die Zitate aus den Interviews gehen zu all diesen Punkten kaum über Illustrationen bekannter Sachverhalte hinaus. Doch darum geht es dem Autor auch nicht. Er versucht, Innenansichten über kollektive Identitäten, interne Konflikte, betriebliche Hierarchien und das Alltagsleben der Autobauer zu gewinnen.

Mit den vor dem Krieg bei Audi und Horch in Zwickau gebauten Luxus-Autos hatte der VEB Sachsenring keine Verbindung mehr. Dies wirkte sich auf das Selbstverständnis der Zwickauer Autobauer aus. Ihr im In- und Ausland eher belächeltes Hauptprodukt – der Trabant – erschwerte Identifikationsprozesse. Daher reflektieren die Interviews einerseits Zugehörigkeitsgefühle und einen Betriebsstolz, der sowohl an die Vorkriegsära als auch auf eine gewisse Sonderstellung der Betriebes in der Region in der DDR-Zeit geknüpft war, auf der anderen Seite aber auch eine deutliche Distanzierung. Kritisch setzt sich der Autor mit der vielzitierten Kollegialität im Betriebsalltag auseinander. Die Begriffe „Zusammenhalt“ und „Kollegialität“ tauchen in mehreren Interviews vor allem in Zusammenhang mit dem Sozialleben außerhalb der Arbeit auf. Das Brigadeleben wird als symbolische Grenze zwischen dem alten System in der DDR und den neuen Verhältnissen ab 1990 wahrgenommen.

Durchaus auch mit Sinn für Humor befasst sich Friedreich mit den betrieblichen Kultureinrichtungen und Zirkeln. Unter anderem werden Gedichte von Mitgliedern eines Zirkels schreibender Arbeiter vorgestellt. Diese zeugen von den kleinbürgerlichen Kulturidealen der SED, wurden aber, wie der Autor hervorhebt, von der großen Mehrheit der Beschäftigten nicht ernst genommen.

Besonders spannend lesen sich die Abschnitte über „Unmut und Frust“ sowie „brauchbare und unbrauchbare Illegalität“. Der Autor zeigt an Hand von Eingaben, der Akten des Ministeriums für Staatssicherheit sowie Analysen der Belegschaftsfluktuation, dass eine vermeintlich erzwungene Loyalität weniger stark ausgeprägt war, als mitunter angenommen wird. Auch solche von der wirtschafts- und unternehmenshistorischen Forschung weitgehend ignorierte Problemfelder, wie zum Beispiel der Tauschhandel mit knappen Ersatzteilen, das Krankfeiern, der Alkoholmissbrauch und der Diebstahl von Betriebseigentum werden durchweg sachlich analysiert. Hier zeigt sich besonders gut, was volkskundliche Forschung zu leisten vermag.

Der sozialistische Betrieb war in vielerlei Hinsicht durch Phänomene gekennzeichnet, die weitaus weniger mit dem Realsozialismus als mit organisationsspezifischen Problemen zu tun hatten. Was die Frage nach dem Betrieb als „sozialem Raum“ angeht, kommt Friedreich zu dem Schluss, dass die Lebenswelt in einen sozialistischen Betrieb ungleich stärker eingebettet war als dies in einem kapitalistischen Unternehmen der Fall ist.

In der Rückschau heben die älteren Interviewpartner die „goldenden 1950er Jahre“ hervor, wohingegen die Honecker-Ära als eine Zeit des Stilstands und der Resignation wahrgenommen wird. Ihre Bewertung der DDR-Zeit hängt dabei maßgeblich von ihrer weiteren beruflichen Entwicklung nach 1990 ab.

Die Konzeption des sozialistischen Betriebes als gesellschaftliche Basisinstitution führte nach der friedlichen Revolution dazu, die DDR-Vergangenheit generell in Zweifel zu ziehen. Steht der VEB Sachsenring für die DDR insgesamt, so fällt zwangsläufig auch das Urteil negativ aus. Dieser Zusammenhang zeigte sich auch in den Interviews. Die meisten Interviewpartner blieben nicht beim Gegenstand Sachsenring, sondern dehnten ihre Aussagen rasch auf das Thema DDR insgesamt aus.

Gegenüber den DDR-Kapiteln fällt das „Nachwende-Kapitel“ deutlich knapper aus. Der Fokus liegt dabei auf der Belegschaft des „Altwerks“, wohingegen die Neuansiedlung von Volkswagen in Mosel und Chemnitz nur am Rande erwähnt werden. Das ist schade, denn gerade von einem Vergleich zwischen der im November 1993 gegründeten Firma Sachsenring Automobiltechnik GmbH und den sächsischen VW-Werken hätte man interessante Einsichten über den Transformationsprozess und dessen Wahrnehmung durch die Belegschaften erwarten können. Wie spannend ein solches Fortschreiben der Geschichte über eine Zeitenwende hinaus sein kann, haben beispielsweise Jörg Roesler und Dagmar Semmelmann in ihrem Buch über die ostdeutsche Energiewirtschaft im Umbruch demonstriert.3

Trotz erheblicher Fördermittel und Begünstigungen scheiterte das von einer branchenfremden westdeutschen Unternehmerfamilie in Angriff genommene Projekt zum Erhalt der Marke „Sachsenring“ nach wenigen Jahren. Zurück blieb, wie der Autor in Anspielung auf Wolfgang Engler treffend formuliert, eine „Avantgarde der Enttäuschten“. Überhaupt wurde nach dem Ende von Sachsenring die Ironisierung zum Grundton der Sichtweisen auf die Arbeits- und Alltagswelt in der DDR. Das technische Erbe der VEB Sachsenring Zwickau ist verblasst und wird meist nur noch als Kuriosum behandelt. Daher auch die zwiespältigen Versuche, anlässlich der 100 Jahr-Feier des Automobilbaus in Westsachsen im Jahr 2004 die Anfangsjahre bei Horch und Audi herauszustellen und die DDR-Zeit eher knapp abzuhandeln.

Fazit: Trotz mancher Längen ein sehr lesenswertes und anregendes Buch, dass neue Einsichten in die Arbeits- und Lebenswelten eines DDR-Betriebes bietet. Viele der am Beispiel des VEB Sachsenring Zwickau behandelten Phänomene lassen sich in ähnlicher Form auch in anderen Betrieben nachweisen.

Anmerkungen:
1 Zu monieren gibt es nur Kleinigkeiten. So bedeutet die Abkürzung „SAG“ nicht „sozialistische Aktiengesellschaft“ (S. 173) sondern sowjetische Aktiengesellschaft.
2 Vgl. vor allem: Reinhold Bauer, PKW-Bau in der DDR. Zur Innovationsschwäche von Zentralverwaltungswirtschaften, Frankfurt am Main 1999; Peter Kirchberg, Plaste, Blech und Planwirtschaft. Die Geschichte des Automobilbaus in der DDR, Berlin 2000.
3 Vgl. Jörg Roesler / Dagmar Semmelmann, Vom Kombinat zur Aktiengesellschaft. Ostdeutsche Energiewirtschaft im Umbruch in den 1980er und 1990er Jahren, Berlin 2005.

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