K. Schlüter: Günter Grass im Visier - Die Stasi-Akte

Cover
Titel
Günter Grass im Visier - Die Stasi-Akte. Eine Dokumentation mit Kommentaren von Günter Grass und Zeitzeugen


Autor(en)
Schlüter, Kai Uwe
Erschienen
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Helmut Müller-Enbergs, Berlin

Der Schriftsteller Günter Grass stand im Visier des Ministeriums für Staatssicherheit. Beginnend am 18. August 1961, nur wenige Tage nach dem Mauerbau, war der West-Berliner Autor bei ihr „angefallen“: „Angefallen wegen Provokation“ (S. 8). Die muss angehalten haben, denn im Juni 1989 beschattete ihn die „Firma“ bei seiner einwöchigen Reise nach Rügen und Greifswald bald rund um die Uhr. Die branchenübliche Bezeichnung bei solchen Observationen lautete bei ihm überraschend treffend „Bolzen“ – wie Geschoss oder Metallmarke für Grenzpunkte. Er, das zu beobachtende „Objekt“, „tritt sehr selbstsicher und selbstbewusst auf“ (S. 326 f.). Seine Gespräche mit dem Verlagsdirektor von Reclam, der ihn begleitende Hans Marquardt (auch „Hans“ genannt), finden sich in einem ausführlichen Vermerk, der am 4. Juli 1989 an die Parteiführung ging (S. 329 f.). Nach 28 Jahren endete damit „die Stasi-Akte“ von Günter Grass.

„Die Stasi-Akte“ gibt es nicht. Vielmehr gibt es unter den Stasi-Unterlagen, verstreut hie und da, einen Bericht, zusammengenommen über 2.000 Blatt. Der Redakteur bei Radio Bremen Kai Schlüter (Jg. 1956), auf dessen Antrag die Zusammenstellung von der Stasi-Unterlagenbehörde erstellt wurde, hat die interessanteren Ausführungen dokumentiert, kommentiert und jene sprechen lassen, die in den Berichten erwähnt sind, nicht zuletzt Günter Grass selbst.

Die „Provokation“, die Günter Grass begangen hat, war ein Schreiben an die Kollegin Anna Seghers vom 13. August 1961, in dem er gegen den Mauerbau protestierte: „Wer schweigt, wird schuldig.“ Das löste die um 1966 abebbende erste Welle an Aufmerksamkeit durch die Staatssicherheit aus, die seinen Protest auch gegen Zensur und Geschichtsfälschung registrierte (S. 19 – 70). Dieses Kapitel – wie jeweils auch die folgenden vier – ist recht instruktiv eingeführt. Wesentlich berichten über ihn prominente, als inoffizielle Mitarbeiter erfasste Kollegen.

Das zweite Kapitel dieses „Lesebuchs“ (S. 14) setzt 1974 ein, als Günter Grass zu Privatlesungen zu jüngeren Schriftstellern nach Ost-Berlin kommt und auf literarischem Gebiet den deutsch-deutschen Kontakt aufrechterhält. Während der Sozialdemokrat Grass – abgehandelt im größten Abschnitt des Buches (S. 71 – 178) – in den Verdacht der Staatssicherheit gerät, „feindlich-negative Kräfte in der DDR“ zu inspirieren, erweist sich eindrucksvoll, wie konsequent und geradlinig dieser „Bolzen“ am einigen Deutschland festhält und trotz allem an den demokratischen Sozialismus seine Hoffnungen knüpft. Dass Schlüter ihn in diesem Zusammenhang mit dem „politischen Revisionismus“ eines Eduard Bernstein verbindet (S. 74), muss noch ein bei ihm hängen gebliebener politischer Fetzen einer untergegangenen Denkdekade sein. Grass bleibt auch hier Grass, nur die feindliche Umwelt in der DDR ändert sich: Die Staatssicherheit kann nach dem „Wandel durch Annäherung“ nicht mehr so, wie sie es einst konnte. Umstellt von inoffiziellen Mitarbeitern konnte sie ihm gegenüber zwar eine Einreisesperre verhängen, musste sie dann jedoch regelmäßig für seine Aufenthalte in der DDR aufheben; er war also stets dann ausgesperrt, wenn er im Westen war, wollte er in den Osten, galt die Sperre nicht mehr.

Ihn begünstigte nicht allein seine literarische Prominenz, sondern ab 1983 auch seine Stellung als Präsident der West-Berliner Akademie. Dieses Kapitel (1981 bis 1986) mit der bezeichnenden Überschrift „Einverstanden mit Einreise. Mielke“ (S. 179 – 256) zeigt Grass als Abrüstungsbefürworter in Ost und West, was der Staatssicherheit so nicht zusagt, und als einen stillen Diplomaten. Mit seinem Gang nach Kalkutta gibt es für Grass und dem Autoren Schlüter eine räumliche Zäsur zur DDR. Grass bleibt eben Grass, nur die Früchte der Entspannungspolitik unter Helmut Kohl bringen ihm 1987/88 Lesereisen ein, 1987 wird, 27 Jahren nach seiner Erstausgabe, „Die Blechtrommel“ in der DDR verlegt. Immerhin befindet die Staatssicherheit, wie es im vierten Kapitel heißt (S. 257 – 194): „Grass und seine Ehefrau waren sauber und ordentlich gekleidet“ (S. 257), aussperren konnte sie ihn nicht, nunmehr musste sie seine öffentlichen Auftritte erdulden, sich auf das Beschatten beschränken und durch inoffizielle Mitarbeiter Auffassungen des Schriftstellers dokumentieren lassen, die er ohnehin bei seinen Lesungen vertrat. Länder ließen sich politisch teilen, Geschichte und Kultur nicht, sagte Grass in Magdeburg (S. 263). So gesehen war mit Grass die historische und kulturelle Einheit Deutschlands bereits da, bevor das Volk zwei Jahre später die politische Einheit vollzog. Die Ohnmacht der Staatssicherheit beschreibt Schlüter im letzten und fünften Kapitel (S. 295 – 335), als sie sogar seine Reisen nach Rügen und Hiddensee hinnehmen und registrieren musste, dass Grass „Strandgut und zerzauste Bäume gemalt“ hat (S. 295): „Im Sommer '89 war ich sicher, dass sich die Verhältnisse in der DDR intern verändern würden, aber an ein rasches Verschwinden des zweiten deutschen Staates war zu diesem Zeitpunkt nicht zu denken“ (S. 334) schreibt er.

Kai Schlüter gelang, hervorragend ediert, „die Lesbarkeit der Akten zu erleichtern“ (S. 15) und auf diese Weise zu zeigen, dass der „Bolzen“ Grass ein deutsch-deutsches Geschoss war, und in der DDR durch sein politisches Verhalten nahezu drei Jahrzehnte lang metallene Grenzpunkte zu setzen vermochte, die sich manch einer erst nach der deutschen Einheit zu eigen gemacht hat: Die Berichte der Staatssicherheit über Grass lesen sich anders als die über eine Reihe seiner Parteigenossen und Politiker.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension