Z. Gasimov: Militär schreibt Geschichte

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Titel
Militär schreibt Geschichte. Instrumentalisierung der Geschichte durch das Militär in der Volksrepublik Polen und in der Sowjetunion 1981-1991


Autor(en)
Gasimov, Zaur T.
Reihe
Osteuropa 2
Erschienen
Münster 2009: LIT Verlag
Anzahl Seiten
216 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian Peters, Humboldt-Universität zu Berlin, Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) Potsdam

Nicht allein berufsmäßige Historikerinnen und Historiker „schreiben Geschichte“. Die Vielzahl von Akteuren, die historische Deutungsangebote machen, ist inzwischen in der Geschichtswissenschaft weitgehend zur Kenntnis genommen und unter Rubrizierungen wie „Erinnerungskultur“ oder „Geschichtspolitik“ zum Gegenstand eines eigenen Forschungsfeldes avanciert. Einen aus dieser Perspektive bisher wenig beachteten Akteur nimmt nun Zaur T. Gasimov in seiner an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt entstandenen Dissertation zu Polen und der Sowjetunion in den Blick: das Militär. Dessen Rolle für historische Diskurse in spätsozialistischen Gesellschaften analysiert er für die Umbruchphase der Perestrojka in der Sowjetunion sowie für die Jahre von der Einführung des Kriegsrechts Ende 1981 bis zum Systemwechsel 1989 in der Volksrepublik Polen. Während dieser Phase gewann im Zuge der Herausbildung von pluralistischen Zivilgesellschaften gerade die Frage nach der „wahren“, unverfälschten Geschichte als Träger gesellschaftlichen Selbstverständnisses wesentlich an Bedeutung. Wie das Militär auf diese Herausforderung der offiziell propagierten historischen Narrative reagierte, steht im Mittelpunkt der Untersuchung Gasimovs.

Dieser kommt nicht allein wegen ihrer Fokussierung auf das Militär als geschichtspolitischem Akteur eine Pionierrolle zu, sondern auch aufgrund ihres vergleichenden Ansatzes, der sich mit der Sowjetunion und Polen zwei sehr unterschiedlich strukturierten Staaten als Untersuchungsobjekten widmet. Man darf also gespannt sein, wie sich der Wandel der historischen Diskurse im Vielvölkerstaat Sowjetunion, dem Hegemon des sozialistischen Blocks, zu den entsprechenden Prozessen in Polen verhält, wo das kommunistische Regime wie nirgends sonst mit grundlegenden Legitimationsschwierigkeiten und gesellschaftlichem Widerstand zu kämpfen hatte.

Zunächst bietet Gasimov einen Überblick über die Grundzüge der Geschichtsdeutung von Partei und Militär im poststalinistischen Kommunismus (Kapitel 2), die durch den zentralen Stellenwert des Sieges der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg (in der sowjetischen Diktion: im „Großen Vaterländischen Krieg“) gekennzeichnet war (S. 82f.). In den weitgehend chronologisch aufgebauten Kapiteln 3 und 4 widmet er sich der Entwicklung der historischen Diskurse in Polen sowie in der Sowjetunion am Ende der 1980er-Jahre. Für seine Diskursanalyse zieht er in erster Linie die beiden von den Verteidigungsministerien herausgegebenen Tageszeitungen „Krasnaja Swesda“ bzw. „Żołnierz Wolności“ sowie die jeweiligen militärhistorischen Fachzeitschriften heran.

Gemeinsam ist der Entwicklung in beiden staatssozialistischen Ländern, so das Hauptergebnis von Gasimovs Studie, die zunehmende Nationalisierung der historischen Diskurse. Zugleich sieht er in diesem Trend auch einen entscheidenden Grund für die divergierenden Transformationsprozesse: Während die Nationalisierung im homogenen Nationalstaat Polen am Ende in die flexible Übernahme der von der Opposition propagierten historischen Narrative gemündet sei (S. 103), sei dies in der multinationalen Sowjetunion schlechterdings nicht möglich gewesen, ohne zentrale Ansprüche des sowjetischen Geschichts- und Identitätskonzeptes preiszugeben. Das dortige Militär reagierte deshalb mit kategorischer Ablehnung auf die nationalen Diskurse der sich im Baltikum, dem Kaukasus und in der westlichen Ukraine formierenden Volksfrontbewegungen. Erst angesichts der zunehmend zentrifugalen Tendenzen in der Sowjetunion begann die Militärpresse ab Anfang 1989, den von Gorbatschow vorgegebenen Kurs der Rückorientierung auf einen vorgeblich reinen, unverfälschten Leninismus zugunsten eines immer deutlicher hervortretenden russischen Nationalismus zu verlassen (S. 124f.).

Leider fällt es bei der Lektüre der Studie nicht immer leicht, Gasimovs Antworten auf seine Leitfrage nach dem „Funktionieren der Geschichtsdeutung bzw. der Geschichtsinstrumentalisierung der Militärs“ (S. 11) zu identifizieren. Abgesehen davon, dass man der Arbeit zur Verbesserung der Lesbarkeit ein sorgfältigeres Lektorat gewünscht hätte, bleiben auch die Konzepte, mit denen Gasimov operiert, weithin im Vagen. Zwar findet sich gegen Ende des Buches ein kurzer theoretischer Abschnitt über „Geschichte als Ideologie“ (S. 166f.), doch hätte hier womöglich eine Auseinandersetzung mit den inzwischen weit vorangeschrittenen Theoriedebatten um Erinnerungskulturen und historische Diskursanalyse zu mehr konzeptioneller Klarheit beigetragen.

Vor allem jedoch bleibt die Institution „Militär“ als Akteur in den geschichtspolitischen Auseinandersetzungen seltsam unscharf. So vielversprechend es auch ist, sich von totalitarismustheoretischen Ansätzen zu distanzieren und in den staatssozialistischen Systemen verschiedene Akteure mit jeweils eigenen institutionellen und ideologischen Interessen identifizieren zu wollen (S. 17), so schwer fällt es, die Fruchtbarkeit dieses Ansatzes nachzuvollziehen – solange nicht gerade das Beziehungsgeflecht der verschiedenen Akteure und der von ihnen jeweils forcierten Diskurse thematisiert wird. Weil eine solche Kontextualisierung mit den konkurrierenden historischen Deutungsangeboten der Parteimedien und der oppositionellen Presse bei Gasimov allenfalls punktuell erfolgt, bleiben die Spezifika des historischen Diskurses in der von ihm ausgewerteten Militärpresse unklar. Zwar erwähnt Gasimov die zunehmende Ausdifferenzierung des sowjetischen Militärs in verschiedene Strömungen (S. 126). Ihm gelingt es mit seiner Darstellung des historischen Diskurses in der „vom Militär“ herausgegebenen Presse jedoch nicht, diese Entwicklungen auch aus diesen Quellen herauszuarbeiten.

Für Polen muss die institutionelle Abgrenzung von Militär und Partei seit der Einführung des Kriegsrechts 1981 und der Übernahme der Parteiführung durch eine Riege von Generälen mit Jaruzelski an der Spitze erst recht problematisch bleiben, sodass eine isolierte Untersuchung der Militärmedien hier von vornherein nur von begrenzter Reichweite sein kann. Gerade die ohnehin weniger umfangreichen Kapitel zum polnischen Fall können nicht recht überzeugen, zumal Gasimov sich für die entscheidenden Jahre vor 1987 ausschließlich auf Sekundärliteratur stützt. Dabei erfasst er zudem nur einen kleinen Ausschnitt der Auseinandersetzung um die Deutung der Vergangenheit, nämlich die Diskurse über den von den Kommunisten einst diffamierten Józef Piłsudski. Der auf breiterer Quellenbasis gearbeitete Abschnitt zur Situation in den Jahren 1988 und 1989 kann nur noch mit wenigen Überraschungen aufwarten, war doch zu diesem Zeitpunkt die Liberalisierung in Polen bereits so weit fortgeschritten, dass wesentliche Veränderungen von der eher konservativen Armeepresse allenfalls noch bestätigt werden konnten. Aufgrund der mangelnden Kontextualisierung kommt Gasimov hier auch zu schwer nachvollziehbaren Schlussfolgerungen: Die Medien des Militärs als besonders „flexibel und anpassungsfähig“ in Bezug auf oppositionelle Geschichtsdeutungen zu bezeichnen (S. 103) und ab Anfang 1989 sogar eine „gänzliche Verschmelzung mit den Denkmustern der polnischen Zivilgesellschaft“ zu konstatieren (S. 97), wird der Dynamik der historischen und gesellschaftlichen Debatten in Polen nicht gerecht.

Generell irritiert hinsichtlich des Fallbeispiels Polens das von Gasimov vertretene teleologische Erfolgsnarrativ, das die polnische Armee als einzige Kraft der Vernunft erscheinen lässt, die das Land pragmatisch durch schwere Zeiten geführt und nach der ideologischen Implosion der Staatspartei neuen „Kampfgeist“ mobilisiert habe (S. 96). So übernimmt er unhinterfragt die von führenden polnischen und sowjetischen Politikern rückblickend vertretene These, die Einführung des Kriegsrechts sei als unausweichliches kleineres Übel gegenüber einer Invasion der Sowjetunion gerechtfertigt gewesen (S. 48f., 85), ohne auf das scheinbare Paradox näher einzugehen, dass sich die polnische Armee trotz der Unterdrückung der „Solidarność“-Bewegung 1981 eines vergleichsweise hohen Ansehens in der Gesellschaft erfreute. Gerade hier hätte es sich im Rahmen eines polnisch-sowjetischen Vergleichs angeboten, die strukturellen Gründe für diese Situation aus dem Quellenmaterial zu entwickeln, die tatsächlich in der nationalen Kodierung des Diskurses zu suchen sein dürften. Im polnischen Fall war am Ende ein geschichtspolitischer Schulterschluss zwischen Regime und Opposition möglich, weil mit den ab 1988 auch von der Partei zunehmend offen thematisierten sowjetischen Verbrechen an Polen zumindest teilweise ein externer Sündenbock gefunden werden konnte. An dieser Stelle drängt sich außerdem eine transnationale Perspektive auf die Interaktion zwischen polnischen und sowjetischen Militärhistorikern in der Auseinandersetzung um die Interpretation des Hitler-Stalin-Paktes und des Massenmordes von Katyń geradezu auf.

So gelingt es Gasimovs Studie nur teilweise, die aufgeworfenen Fragen zufriedenstellend zu beantworten. Sie bietet für den sowjetischen Fall eine detailreiche Datengrundlage und leistet einen vielversprechenden Auftakt für weitere Untersuchungen, die die Entwicklung historischer Diskurse im Spätsozialismus allerdings in breiterem Kontext thematisieren sollten.

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