J. Janorschke: Bismarck, Europa und die "Krieg-in-Sicht"-Krise

Titel
Bismarck, Europa und die "Krieg-in-Sicht"-Krise von 1875.


Autor(en)
Janorschke, Johannes
Reihe
Otto-von-Bismarck-Stiftung, Wissenschaftliche Reihe 11
Erschienen
Paderborn 2010: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
513 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Angelow, Historisches Institut, Universität Potsdam

Die von Winfried Baumgart betreute Dissertationsschrift von Johannes Janorschke behandelt mit der „Krieg-in-Sicht“-Krise von 1875 eine Problematik, die zu den zentralen, als relativ gut erforscht geltenden Fragestellungen der Bismarckzeit zählt. Mit seiner Schrift legt Janorschke, derzeit in der Leitungsstruktur der Universität Wuppertal tätig, nicht nur eine profunde und quellennahe Analyse der Krise vor, sondern auch einen wertvollen Beitrag zum Verständnis der europäischen Beziehungsgeschichte der letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts insgesamt. Die „Krieg-in-Sicht“-Krise – deren Name aus der Veröffentlichung eines Pressebeitrages der Berliner „Post“ am 9. April 1875 herrührt – setzte eine spannungsreiche Ereigniskette in Gang, die bis zum Oktober 1875 reichte, als das Interesse der europäischen Großmächte wiederum durch die orientalischen Angelegenheiten in Anspruch genommen wurde. Die Krise gilt als eines der spektakulärsten außenpolitischen Ereignisse Europas zwischen der deutschen Reichgründung von 1871 und dem Berliner Kongress von 1878. Die historische Forschung hat ihre Bedeutung vor allem im Zusammenhang mit der empfindlichen Zurückweisung einer Bismarck zugeschriebenen Presseprovokation erblickt und die Frage nach den Absichten seines Handelns in den Vordergrund gerückt. Die Krise wurde als Niederlage des deutschen Reichskanzlers gedeutet, da sie vor allem die Grenzen seines Agierens auf europäischem Parkett aufgezeigt habe.

Indem er die bisher fast sakrosankte Urheberschaft Bismarcks für die Auslösung der Krise problematisiert und die Krise selbst vielmehr als Sonde für die Analyse des europäischen Systems betrachtet, dekonstruiert Janorschke das Geschehen und stellt es in einen breiteren Rahmen. Dadurch wird das Handeln des deutschen Reichskanzlers schlüssiger mit dem europäischen Kontext verzahnt und vor dem Hintergrund eines Netzwerkes von Akteuren beleuchtet, auf das dieser nicht immer einen maßgeblichen Einfluss hatte. Zur Frage der Sinnhaftigkeit tritt somit das Problem der Begrenztheit des politischen Handelns eines einzigen Staatsmannes, wodurch die Chance entsteht, den Blick auf die Krise von der traditionellen Bismarck-Zentriertheit zu lösen. Die zentralen Thesen des Buches erschließen sich dem Leser ohne Mühe: Janorschke arbeitet differenziert und überzeugend heraus, dass der deutsche Reichskanzler offenbar in zentralen Punkten in die Irre ging, als er – trotz des Scheiterns der von Ulrich Lappenküper1 ausführlich analysierten Radowitz-Mission im Vorfeld der Krise – die von ihm favorisierte russische Bindung als maßgeblich ansah und angesichts des Kulturkampfes sowie der alarmierenden Monarchenbegegnung von Franz Joseph I. und Victor Emanuel II. eine mögliche katholische Allianzbildung gegen das Deutsche Reich als ernstzunehmende Gefahr betrachtete. Ebenso fehlerhaft war es, den russisch-britischen Gegensatz als stetige wie berechenbare Grundlage von außenpolitischen Kombinationen zu betrachten. Stattdessen sei der Krisenverlauf der Logik eines langsamen Ablösungs- und Veränderungsprozesses im deutsch-russischen Verhältnis sowie einer Annäherung zwischen dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn und Italien gefolgt. Zwar war es Gorčakov gelungen, Großbritannien durch koloniale Zugeständnisse, deren Wertlosigkeit sich später herausstellen sollte, temporär einzubinden und für eine diplomatische Intervention zu instrumentalisieren, da Paris von der Krise aber nur wenig profitierte, London in ihrem Nachgang um Schadensbegrenzung gegenüber Berlin bemüht sein musste, um nicht in die Isolation zu geraten, und durch die Orientkrise die Karten alsbald „neu gemischt“ wurden, schien die Niederlage für Bismarck weit weniger dramatisch als angenommen. Allerdings hat dieser die nachteiligen Folgen der Krise grob überzeichnet und damit das Urteil nachfolgender Generationen anhaltend geprägt.

Die Argumentation Janorschkes stützt sich auf eine imposante Quellenbasis, die namentlich auf deutschsprachige, englische und französische Überlieferungen zurückgreift – immerhin zwanzig Archive und Sammlungen wurden herangezogen. Hervorzuheben ist der Versuch, durch Einbeziehung US-amerikanischer Quellen eine außereuropäische Perspektive einzuflechten, die als Korrelat zu den europäischen Nachweisen von Bedeutung sein könnte. Da sie lediglich sporadisch auftauchen, bleiben diese Quellen als Argumente jedoch relativ blass. Italienische Primärquellen tauchen nicht auf, werden aber durch die Studie Joachim Scholtysecks2 aufgefüllt. Schwerer wiegt, dass die Argumentation von russischen Originalakten abgekoppelt ist, die lediglich durch britische Quellen und einen Aufsatz von Reinhard Wittram3 kompensiert werden. Da erfreulicherweise die innergesellschaftlichen Wechselwirkungen und innenpolitischen Rückkoppelungen nicht nur in Bezug auf das Deutsche Reich und seine Gliedstaaten, sondern auch hinsichtlich der anderen europäischen Akteure immanent abgebildet werden, wäre die Darstellung innerrussischer Entscheidungsprozesse natürlich logisch und von besonderem Gewicht gewesen. Die in eine Fußnote verbannte Begründung des angesprochenen Desiderats vermag bei einer Studie dieses Formats und angesichts der überragenden Bedeutung der russischen Diplomatie für den Krisenverlauf nicht zu überzeugen. Ungeachtet dieses Mankos sind sowohl die Quellendichte als auch die subtile Quelleninterpretation zu loben.

Johannes Janorschke vertritt einen methodischen Ansatz, der die politischen Ereignisabläufe narrativ abbildet, reflektierend kommentiert und gesellschaftsgeschichtlich einbettet. Da er die Wechselwirkungen der Mächte, ihre – zum Teil auch außereuropäische – Interessenvielfalt einbezieht und den Blick auch von außen auf das Handeln der Akteure richtet, gelingt es ihm, die Krise systemperspektivisch zu verweben. Gedanklich weiterführende, zum Teil dynamische Aspekte des Systems um 1875 werden so ausreichend problematisiert, etwa das Verhältnis von politischer und militärischer Führung im deutschen Kaiserreich, die politisch destabilisierende und durchaus widersprüchlich bewertete Bedeutung von Rüstungsprogrammen, die ambivalente Rolle von Presse und Öffentlichkeit sowie staatlicher Lenkungsinstrumente – als quasi Halbschattengewächse der Macht –, die irritierten Ebenen politischen Agierens sowie die Bedeutung der außereuropäischen Peripherie bei der Bewältigung europäischer Krisenszenarien. Die Stärke der vorliegenden Studie besteht in ihrer Differenziertheit und Gründlichkeit. Trotz ihrer Quellennähe ist sie flüssig geschrieben und so auch für den historischen „Einsteiger“ leicht verständlich. Johannes Janorschke sind eine wichtige Korrektur des bisherigen Bildes von der „Krieg-in-Sicht“-Krise und ein ernstzunehmender Beitrag zu den europäischen Mächtebeziehungen im 19. Jahrhundert gelungen.

Anmerkungen:
1 Ulrich Lappenküper, Die Mission Radowitz: Untersuchungen zur Russlandpolitik Otto von Bismarcks (1871-1875), Göttingen 1990.
2 Joachim Scholtyseck, Alliierter oder Vasall? Italien und Deutschland in der Zeit des Kulturkampfes und der Krieg-in-Sicht Krise 1875, Köln 1994.
3 Reinhard Wittram, Bismarck und Gorčakov im Mai 1875, in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen 7 (1955), S. 221-243.