N. Langreiter (Hrsg.): Tagebuch von Wetti Teuschl

Titel
Das Tagebuch von Wetti Teuschl (1870-1885).


Herausgeber
Langreiter, Nikola
Reihe
L’Homme Archiv 4
Erschienen
Köln 2010: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
216 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gudrun Wedel, Berlin

Mit dieser Edition aus dem Bestand der „Sammlung Frauennachlässe“ an der Universität Wien macht Nikola Langreiter ein Tagebuch zugänglich, das sich weder durch die Prominenz der Verfasserin noch durch deren literarische Brillanz für eine Publikation anbot. Es bezieht seine Bedeutung vielmehr aus den Einblicken in die Lebensverhältnisse und Existenzkämpfe einer Bürgerstochter aus Krems in Niederösterreich und aus deren ambivalentem Umgang mit Selbstdarstellungsweisen und Erinnerungstexten.

Der Band beginnt mit Erläuterungen zur Edition (S. 7-17). Es folgen die mit Fußnoten versehene Edition des Tagebuchs (S. 19-126) und weitere Texte von Wetti Teuschl (S. 129-140). Eine Zeittafel (S. 141-149) informiert über deren gesamte Lebenszeit von 1851 bis 1944. Der anschließende Kommentar mit exemplarischen Analysen (S. 151-191) ist als eigenständiger Text konzipiert. Ein Anhang enthält Dokumentenabschriften, das Literaturverzeichnis und ein Personen- und Ortsregister.

Einleitend beschreibt Langreiter detailliert das Tagebuch und erläutert gut nachvollziehbar ihre Vorgehensweise bei der buchstabengetreuen Edition. Die Vorlage ist ein einfaches Notizbuch, das auf 152 von insgesamt 182 Seiten mit dem Tagesdatum versehene Eintragungen enthält. Sie variieren nach Häufigkeit, Umfang und Diktion. Verkleinerte Faksimileabbildungen der ersten Tagebuchseiten sowie von weiteren Seiten vermitteln einen anschaulichen Eindruck des Textbilds.

Wetti Teuschl begann das Tagebuch im April 1870 im Alter von 18 Jahren, als ihre Liebesbeziehung zu Johann Baumgartner in eine kritische Phase geraten war. Trotz der Abneigung des Vaters gegen diese nicht standesgemäße Verbindung setzte sie die Heirat durch. Unmittelbar danach zog sie als Barbara Baumgartner mit ihrem Ehemann nach Wien und im Jahr darauf kam der Sohn Hans auf die Welt. In den folgenden Jahren geht es im Tagebuch vor allem um die Bemühungen des Ehepaars, mit einem eigenen Laden eine auskömmliche Existenz zu finden. Geschäftliche Misserfolge führten jedoch im Lauf der Jahre zu finanziellem Ruin und sozialem Abstieg, obwohl Barbara Baumgartners Eltern immer wieder mit Geldgeschenken und Darlehen zu Hilfe kamen, so als sie ein eigenes Zwirn- und Wollgeschäft eröffnete. Um einen unabhängigen und sicheren Lebensunterhalt zu erreichen, begann sie gegen den Widerstand des Ehemannes eine Ausbildung zur Hebamme, brach diese aber ab, als er erkrankte. Die Arbeit als Zeitungsreporterin für das Wiener „Neuigkeits-Welt-Blatt“, die sie einige Jahre später aufnahm, brachte nur wenig ein. Krankheiten, familiäre Konflikte und der überraschende Tod des Vaters vergrößerten die Sorgen. Der letzte Eintrag vom Mai 1885 hat den Tod der Mutter zum Inhalt. Weder auf den Tod des Ehemannes 1892 noch auf die zweite Heirat 1898 mit dem achtzehn Jahre jüngeren Karl Gerstl gibt es schriftliche Hinweise. Lediglich eine letzte ins Tagebuch eingeklebte Notiz erwähnt die zehn Jahre zurückliegende Rückkehr des Sohnes aus der Kriegsgefangenschaft.

Ergänzend zum Tagebuch sind Texte der Tagebuchschreiberin aus der Zeit ihrer zweiten Ehe abgedruckt. Die Zeitungsartikel wurden 1925 unter dem Namen Betti Gerstel im „Rohö-Flugblatt. Mitteilungen über alle Aktionen der Reichsorganisation der Hausfrauen Österreichs“ veröffentlicht. In ihnen geht es um die Erholungsbedürftigkeit der Frau, um Nervosität, um die Einflussnahme von Müttern auf ihre erwachsenen Kinder und um standesgemäße Lebensführung. Der autobiographische Text „Gedenkblatt“ enthält Erinnerungen an den Vater Anton Teuschl und die eigene Kindheit in Krems. Betti Gerstl verfasste ihn 1936 für ihre Enkelin Antonie Baumgartner, verheiratete Hörner (S. 140).1

Im folgenden Analyseteil – etwas irreführend „Nachbemerkungen“ genannt – untersucht Nikola Langreiter das Tagebuch als kulturwissenschaftliches und historisches Material. Sie konzentriert sich dabei auf Aspekte, die sie besonders beeindruckt haben (S. 154), nennt aber auch weitere Forschungsthemen, für die sich dieses Quellenmaterial eignet, wie beispielsweise den Umgang mit Krankheit und Gesundheit, das Verhältnis zu Behörden und anderen Autoritäten sowie Verwandtschaftsbeziehungen, Freundschaften und Netzwerke insbesondere im Zusammenhang mit Migration von der Provinz ins Zentrum.

Im ersten Abschnitt geht Langreiter auf Schreibweisen im Tagebuch ein. Sie erläutert, inwiefern dieses Tagebuch typisch für Mädchentagebücher ist, zum Beispiel mit seinem bekenntnishaften Beginn, den wiederkehrenden, meist religiösen Formeln oder den überschwänglichen Beschreibungen von Gefühlen. Und sie weist auf eher subversive Töne hin, zum Beispiel im eigensinnigen Umgang mit traditionellen Rollenvorstellungen.2 Hervorzuheben sind die unterschiedlichen Formen der Selbstzensur, die die Schreiberin praktizierte: Im Text bis zur Heirat wurden nachträglich Teile von Seiten herausgeschnitten; danach fand die Selbstzensur bereits vorher im Kopf statt. Das zeigt sich in Andeutungen zum Beispiel über Ehekonflikte, Alkoholismus und Sexualität, aber auch in selbst auferlegtem Schweigen. Nachträgliche Korrekturen und Ergänzungen deuten auf wiederholtes Lesen und veränderte Darstellungswünsche hin. Langreiter sieht darin Belege nicht nur für den konstruktiven Charakter und die Prozesshaftigkeit des Tagebuchs, sondern auch für seine „Gegenwärtigkeit“ (S. 162). Sie führt weiterhin aus, wie sich mit wandelnden Lebensumständen auch die Schreibmotivationen und die Funktionen des Schreibens änderten. Auffällig sei der völlige Wandel von Struktur und Rhythmus des Tagebuchs seit der Heirat: Die Schreibhäufigkeit nimmt deutlich ab, Anlässe und Themen wandeln sich, spätere Einträge lesen sich wie autobiographische Rückblicke und der Schreibstil nähert sich dem einer Chronik an. Das Tagebuch diente aufgrund der eintretenden Krisen zunehmend als Entlastungsort und zur Selbstberuhigung. Es geriet somit zu einer „Addition der Defizite“ (S. 167).

In den folgenden Abschnitten befasst sich Langreiter zunächst mit historisch-ökonomischen Aspekten und analysiert den Existenzkampf des Ehepaares vor dem Hintergrund der allgemeinen Wirtschaftskrise ab 1873. Anschließend behandelt sie das Thema Heimat. Ein eigener Abschnitt gilt den Geschlechterbeziehungen in den Familien Teuschl und Baumgartner. Insbesondere geht sie auf die große Reichweite der patriarchalen Macht des Vaters ein und auf die geringere des Ehemannes. Den Plan der Tagebuchschreiberin, eine Ausbildung zur Hebamme zu beginnen, verhinderte nicht der Widerspruch des Ehemannes, sondern dessen Krankheit. Im letzten Abschnitt geht es noch einmal um die Tagebucheinträge nach der Eheschließung und das offene Ende des Tagebuchs.

Kritisch anzumerken ist, dass Nikola Langreiter nicht näher und zusammenhängend auf die Überlieferungsgeschichte des Tagebuchs eingeht, in der auch sie eine Rolle zumindest als Editorin und Interpretierende spielt.3 Das erstaunt insofern, als Wetti Teuschl Tradierungsvorgängen ambivalent gegenüberstand: Einerseits war ihr durchaus daran gelegen, ihren Nachkommen im Gedächtnis zu bleiben, denn sie beauftragte ihren Ehemann und ihren Sohn in ihrem Testament, häufig mit der Enkelin von ihr zu sprechen, damit diese sie nicht vergesse (S. 199). Andererseits forderte sie in den Ausführungsanweisungen zum Testament ihren Sohn explizit dazu auf, ihr „altes Tagebuch“ zu lesen und es dann zu verbrennen (S. 200). Zu einer Überlieferung hätte es demnach gar nicht kommen dürfen. Zwar geben Nikola Langreiters im Text und in den Fußnoten verstreute Bemerkungen eine gewisse Vorstellung von der Überlieferungsgeschichte. Aber die vermutlich bedeutende Rolle des Urenkels Helmut Hörner als Tradent bleibt vage, obwohl er bereits 1997 Ausschnitte aus den Aufzeichnungen seiner Urgroßmutter veröffentlichte.4 Vermutungen darüber, ob Wetti Teuschl mit ihrem Tagebuch eine Familientradition im Verfassen von Selbstzeugnissen begründet habe, sollten ebensowenig in der letzten Fußnote im Analyseteil (S. 191) versteckt werden wie die Liste der Selbstzeugnistexte von vier weiteren Familienmitgliedern.

Diese Hinweise sollen die Verdienste der sorgfältigen und ausführlich kommentierten Edition nicht schmälern. Sie bietet eine solide Basis zur Bearbeitung von Forschungsfragen der unterschiedlichsten Art, und die differenzierten Ausführungen zu den Schreibweisen Wetti Teuschls im Tagebuch kommen insbesondere der Selbszeugnisforschung zugute.

Anmerkungen:
1 Nikola Langreiter datiert den Text an anderer Stelle auf 1931 (S. 191).
2 Vgl. dazu aus linguistischer Perspektive Angelika Linke, Sich das Leben erschreiben. Zur sprachlichen Rolleninszenierung bürgerlicher Frauen des 19. Jahrhunderts im Medium des Tagebuchs, in: Mererid Puw Davies / Beth Linklater / Gisela Shaw (Hrsg.), Autobiography by Women in German, Oxford 2000, S. 105-129, bes. S. 111ff. zu den Tagebüchern von zwei jungen Frauen, die über ihre Liebesgeschichten berichten.
3 Edith Saurer, Auf der Suche nach dem Kontext. Diskussionen und Probleme in der Geschichtswissenschaft. Am Beispiel der nie abgesandten Briefe Otto Leichters an seine Frau Käthe Leichter (Paris 1938/39), in: Oswald Panagl / Ruth Wodak (Hrsg.), Text und Kontext. Theoriemodelle und methodische Verfahren im transdisziplinären Vergleich, Würzburg 2004, S. 219-233, bes. S. 223; siehe auch S. 225 zur Relevanz der Überlieferungsgeschichte als Kontext.
4 Christa Hämmerle, Nebenpfade? Populare Selbstzeugnisse des 19. und 20. Jahrhunderts in geschlechtervergleichender Perspektive, in: Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Vom Lebenslauf zur Biographie. Geschichte, Quellen und Probleme der historischen Biographik und Autobiographik. Referate der Tagung „Vom Lebenslauf zur Biographie“ am 26. Oktober 1997 in Horn, Horn 2000, S. 135-167, bes. S. 137 Anm. 6.