N. Jabbar: Historiography and Writing Postcolonial India

Cover
Titel
Historiography and Writing Postcolonial India.


Autor(en)
Jabbar, Naheem
Reihe
Routledge Studie in South Asian History
Erschienen
London 2009: Routledge
Anzahl Seiten
244 S.
Preis
$ 135.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Gottlob, Berlin

Das Buch von Naheem Jabbar ist erklärtermaßen (dies macht der Autor gleich im ersten Satz deutlich) „an investigation into Romila Thapar’s understated conclusion that Indian nationalist histories are the articulation of interests singly in terms of monolithic religious identities following the ‘success of anti-colonial nationalism’” (S. IX).1 Genauer gesagt gehe es darum, “how the ‘intellectual foundations of historical discourse’ are threatened by this communal ordering of the past” (ebd.).

Thapar ist bekanntlich nicht nur Autorin einer der meistgelesenen Darstellungen der frühen indischen Geschichte, die exemplarisch für die säkulare Deutung der Vergangenheit steht. Sie ist auch entschiedene Verteidigerin der wissenschaftlichen Standards gegen das, was als Mythifizierung der indischen Geschichte bezeichnet worden ist. Die zentrale Rolle von „emotion and faith“ beim kommunalistischen Zugriff auf die Vergangenheit beeinträchtigt nach ihrem Urteil die geistigen Grundlagen ihrer Erfassung.

Doch kann man, so Jabbars skeptische Frage, bei den verschiedenen Zugängen zur indischen Vergangenheit so genau unterscheiden zwischen solchen, die durch „emotion and faith“ und solchen, die durch „disinterested appeal to Reason“ bestimmt sind? Und: „How successful are historians in excising their practice of emotion and faith?“ (S. IX) Anhand von mehreren Fallbeispielen – geschichtsbewusste politische Akteure (Savarkar, Ambedkar) einerseits und historische Stoffe verarbeitende Schriftsteller (Naipaul, Rushdie) andererseits – untersucht Jabbar den öffentlichen Gebrauch der Geschichte im kolonialen und postkolonialen Indien auf die mit ihm verbundenen Visionen von der Befreiung Indiens und ihre ideologischen Implikationen hin.

Bevor Jabbar mit der Analyse von vier ausgewählten Autoren beginnt, setzt er sich sehr ausführlich mit den Diskussionen der letzten Jahrzehnte über den Zusammenhang von Geschichte und Erzählung („Historiography and narrative“, S. 3ff.) und die Logik historischer Sinnbildung („History as knowledge and sense“, S. 64ff.) auseinander, wie sie vor allem von Hayden White 2 vorangetrieben worden sind. Im Zuge der Erörterungen wird gezeigt, dass auch die Vordenker des säkularen Nationalismus durch Grundannahmen über das frühe Indien geprägt waren, die mehr mit „faith and emotion“ zu tun hatten, als einige wahrhaben wollen. Und zwar nicht nur im Fall Gandhis mit seiner am traditionellen Leben des indischen Dorfes orientierten modernitätskritischen, zeitlosen Vision von Hind Swaraj (1909), auch bei Nehru mit seinem „Romantic emplotment“ der indischen Geschichte als Entwicklungsprozess und dem Glauben an die Macht der Vernunft (S. 94). Der Verbindung von „History and the myth of science“ ist ein ganzes Kapitel gewidmet.

Vor diesem Hintergrund wendet Jabbar sich den Repräsentanten zweier politischer Strömungen zu, die in Konkurrenz zur Hauptlinie („fragile consensus“, S. 3) der indischen National- und Freiheitsbewegung standen: V.D. Sarvarkar (Hindutva) und B.R. Ambedkar (Dalitbewegung). Auch sie nahmen zur Legitimation ihrer Ziele Bezug auf die Vergangenheit.

Im Unterschied zu Gandhis am Individuum festgemachten und der indischen Tradition von Ahimsa verpflichteten Konzept von Swaraj sucht Savarkar die indische Selbstherrschaft auf die kollektive Dynamik der Hindus zu begründen. Eine Art Proto-Nationalismus findet er bereits im Widerstand der indischen Stämme gegen die Armee Alexander des Großen (S. 85). Für den Verlust an Wehrhaftigkeit bei den Indern macht Savarkar (dessen monumentaler Stil ebenfalls durch „Romantic emplotment“, aber im Unterschied zu dem Nehrus durch „organicist argument“ und „anarchist ideology“ geprägt ist) gerade die Expansion des Buddhismus unter Ashoka verantwortlich (S. 116f.), dessen Epoche bei Nehru besondere Wertschätzung erfährt.

Ein Kontrastprogramm zu Savarkars Ausgangsfrage “Who Is a Hindu?” ist Ambedkars Frage “Who Were the Shudras?”. Und nicht nur zu Savarkar, auch zu Nehru und Gandhi, die aus Dalitperspektive je auf ihre Weise die Herrschaft der alten Eliten eher stabilisierten als beseitigten. Ambedkar zielt auf eine Geschichte, die an menschlichen Bedürfnissen orientiert ist: „For India social democracy was more vital than independence from foreign rule“ (zitiert bei Jabbar, S. 139). Orientiert an säkularen Standards, sieht er doch auch die Grenzen der wissenschaftlichen Objektivität und die Notwendigkeit von Imagination für das Erfassen der Geschichte (S. 134).

Für die imaginativen Komponenten der Geschichtsdarstellung stehen bei Jabbar die Schriftsteller V.S. Naipaul und S. Rushdie, die freilich ihrerseits mit ideologischen Grundannahmen arbeiten. Bei Naipaul verbinden sich kolonialistische Denkmuster mit reaktionärem Rationalismus und antiquarischem Nihilismus (S. 155). Bringt ihn seine Glorifizierung des indischen Altertums in die Nähe Savarkars, so sieht er doch die beschworene ursprüngliche brahmanische Reinheit als korrumpiert an, und zwar nicht erst durch muslimische Invasoren, sondern schon durch selbstverschuldete Dekadenz (S. 173f.).

Bei S. Rushdie treten innerhalb der tragischen Erzählstruktur immer wieder Elemente der Aufklärung hervor, es gibt Äußerungen „about the optimistic faith in improvement, betterment and progress“, die von Nehru stammen könnten (S. 186). Auch Rushdies Vorstellung vom hinderlichen Einfluss der Religion in der gesellschaftlichen Entwicklung und ihrer instrumentellen Rolle bei der Entstehung von Nationalbewusstsein entspricht weitgehend Nehrus Überzeugung, dass sich Fortschritt in Indien nur durch Befreiung von traditionellen sozialen Formen erreichen lässt (S. 196). Mit dem Unterschied freilich, dass „in Rushdie’s hands these ideals take on a nihilistic character” (S. 186).

Nehru bezieht aus den westlichen Theorien der Universalgeschichte die Legitimation seiner Reformideen für Staat und Gesellschaft. Dass dies letztlich auf die Vermählung von Kapital und Vernunft hinausläuft, ist schon von anderen bemerkt und kritisiert worden. Partha Chatterjee wird zu Jabbars Kronzeugen gegen das postkoloniale politische Establishment. Die kritische Einsicht Chatterjees in den Prozess, wie die Eliten aus früheren Kulturen der Agrargesellschaft schöpften, um das Bild einer homogenen Nation herzustellen, fällt jedoch nach Jabbar auf Chatterjees eigenen Ansatz zurück. Die Beschwörung der „incoherent folk cultures“ ließen schon zuzeiten Gandhis der Elite genügend Spielraum für ihre partikularen Zwecke (S. 203, 205). Nach Jabbar kann die Historiographie die sich selbst gestellte Aufgabe gar nicht erfüllen. Jedenfalls nicht, solange sie „within the sober orbit of rational thought“ bleibt (wie bei Thapar) oder aber fungiert als „ pretext of a new universality to replace the disappointing copula capital-Reason“ (wie bei Chatterjee). Anstelle von Chatterjees Versuch einer dialektischen Deutung der „divergences and differences“ in der Entstehung des postkolonialen Staatsdiskurses (S. 202) stellt sich Jabbar das bescheidenere Ziel, die Widersprüche und Unvereinbarkeiten einfach als solche zu benennen.

Und dies tut Jabbar mit viel Verständnis für weitreichende geistesgeschichtliche Zusammenhänge. Seine Durch- und Seitenblicke bringen oft überraschende Aspekte an vermeintlich bekannten Positionen ans Licht und regen zum Weiterdenken an. Auch wenn er es dem Leser nicht immer leicht macht, seinen Assoziationen zu folgen und über langatmige Abschweifungen hinweg das zentrale Problem im Auge zu behalten.

Hierbei könnte man es bewenden lassen, wenn Jabbar nicht an manchen Stellen selbst auf die Möglichkeit einer „more realistic view of historical change“ (S. IX) als die nationalistische anspielen würde. Da hätte man doch gern einen Hinweis darauf, wie Vernunftanspruch und emotionale Faktoren sich in einer solchen zueinander verhalten sollten. Damit, dass die Fachhistoriker sich ihrer narrativen Praktiken und ideologischen Implikationen bisher nicht immer ausreichend bewusst waren, verliert ja die Frage, ob sich nicht Momente von Entscheidbarkeit und allgemeiner Zustimmungsfähigkeit in die Erzählungen der Vergangenheit bringen lassen, nichts von ihrer Dringlichkeit. Schließlich finden die “archetypal elements in historical consciousness”, denen Jabbar nachspürt, „their echo in often brutal unhistorical ways in everyday life” (Klappentext).

Doch auf die spezifischen Leistungen der Disziplin lässt sich Jabbar nicht ein. Nicht nur, dass keiner der vier vorgestellten Autoren professioneller Historiker ist. Die indische Geschichtsschreibung kommt bis auf ein paar programmatische Bemerkungen von Thapar und einigen Vertretern der Subaltern Studies gar nicht vor in dem Buch. Und dass sich die Fachwissenschaft im jahrzehntelangen öffentlichen Streit über die Darstellung der indischen Geschichte auch mit den eigenen politischen Implikationen argumentativ auseinandersetzte, scheint kaum der Erwähnung wert. Dies ist allerdings mehr als verwunderlich in einem Werk, das als „critical examination of Indian history writing“ (Klappentext) angekündigt wird.

Anmerkungen:
1 Romila Thapar, History of Early India, London 2002.
2 Hayden White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth Century Europe, Baltimore 1973.