Cover
Titel
Paris, Berlin. La mémoire de la guerre (1914-1933)


Autor(en)
Julien, Elise
Anzahl Seiten
414 S.
Preis
€ 19,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Döderlein, Concordia University, Montreal

Der Erste Weltkrieg, das ist bekannt, stellte für sämtliche Kriegsteilnehmer einen tief greifenden Einschnitt dar. Seit geraumer Zeit stehen die Auswirkungen dieses Konflikts auf die Gesellschaften des beginnenden 20. Jahrhunderts im Zentrum des Interesses der Historiker. Als wichtigen Ansatz hat man dabei die Analyse des kollektiven Kriegsgedächtnisses in seiner identitätsstiftenden Funktion erkannt, was sich als besonders ergiebig auf der Ebene der Hauptstädte erweist: Hier organisiert sich die mémoire de la guerre auf mehreren unterschiedlichen sozialen wie territorialen, in der Regel juxtaponierten Ebenen, wobei sich nationale, lokale, aber auch individuelle Komponenten direkter vermischen als andernorts.

In der überarbeiteten Fassung ihrer 2009 in Form einer Cotutelle unter der Leitung von Jean-Louis Robert und Jürgen Kocka angefertigten Dissertation untersucht die französische Historikerin Élise Julien (Institut d’Études politiques de Lille) das Gedenken an den Ersten Weltkrieg in Paris und Berlin bis zum Beginn der 1930er-Jahre, indem sie die beiden Städte im direkten Vergleich einander gegenüberstellt. Dies, soviel sei gesagt, erweist sich trotz des offenkundigen Unterschiedes nach einem Weltkrieg, aus dem Deutschland als Verlierer, Frankreich als Sieger hervorgeht, als überaus sinnvolle Methode. Im Vordergrund der Studie steht die Frage nach der Existenz einer den beiden Städten jeweils eigenen, spezifischen Erinnerung. Dabei wählt Julien den Weg einer dreiteiligen Analyse von der Makro- zur Mikroebene, indem sie das Kriegsgedächtnis auf nationaler Ebene in der jeweiligen Hauptstadt als Symbol der Nation, auf urbaner Ebene in der Hauptstadt als Metropole und auf lokaler Ebene in der Hauptstadt mit ihren Stadtteilen und Gemeinden als Netz unterschiedlicher sozialer und professioneller Institutionen und somit als heterogenem Erfahrungsraum untersucht.

Frankreich und Deutschland versuchten gleichermaßen seit Kriegsbeginn, die mémoire in einen für die Zukunft der Nation sinnstiftenden Kontext einzubeziehen. Nach 1918 entwickelte sich dies in unterschiedliche Richtungen. So gelang es in Frankreich, monuments aux morts mit einender Symbolik entstehen zu lassen, die gleichzeitig Trost spendeten und einen „culte consensuel des morts“ (S. 111) schafften. Während sich hier auf nationaler Ebene eine dominierende, vom Pazifismus der anciens combattants geprägte mémoire de la guerre ausmachen lässt (obgleich nicht gänzlich frei von Dissens), bescheinigt Julien der jungen Weimarer Republik hinsichtlich der Schaffung eines einheitlichen kollektiven Kriegsgedächtnisses das Scheitern. „Tant les divisions sont profondes et l’absence de consensus criant,“ existieren hier mehrere „mémoires nationales concurrentes“ (S. 147). So kennt das Grab des unbekannten Soldaten mit seiner überragenden Symbolkraft jenseits des Rheins nicht seinesgleichen. Und wenn in Frankreich bereits 1922 (auf Druck der Veteranenverbände) das Datum für eine nationale Gedenkfeier auf den 11. November festgelegt wurde, dauerten die Diskussionen beim Nachbarn diesbezüglich mehrere Jahre – ergebnislos. Das Fazit der Autorin, dass dieser Kontrast mehr als ein simpler Unterschied temporärer Abläufe, sondern vielmehr das Resultat politischer Kämpfe und spezifischer Beziehungen zwischen Staat und Zivilgesellschaft sei, überrascht nicht. Neue Erkenntnisse über die nationale Dimension des Kriegsgedächtnisses bleiben leider ein Desiderat.

Paris und Berlin sind jedoch nicht bloßer hauptstädtischer Abglanz des jeweiligen Landes. Die Analyse des Kriegsgedächtnisses auf urbaner Ebene bringt vielmehr Abweichungen zum respektiven nationalen Niveau, gleichzeitig aber auch Konvergenzen zwischen den Städten ans Licht: Beide verfügen über ein wichtiges symbolisches Kapital und lassen als weitflächige, dicht besiedelte Metropolen besonderer sozialer Beschaffenheit spezifische Praktiken, Identitäten und Vorstellungswelten entstehen.

Den hier in die Gedächtniserschaffung einwirkenden individuellen, politischen, administrativen oder korporativen Akteuren ist klar: „pour rendre audible un discours, notamment mémoriel, et lui faire gagner une envergure nationale, il faut en investir la capitale“ (S. 190). Sie verstehen ihre Aufgabe vielmehr auf nationalem denn auf urbanem Niveau, was zur Folge hat, dass man einer Art „nationalisation réciproque de la mémoire par les capitales et des capitales par la mémoire“ (S. 369) beiwohnen kann. Somit sind die Städte von einer gewissen Fragilität des globalen urbanen Gedächtnisses gekennzeichnet.

Bereits existierende, zu Beginn des 19. Jahrhunderts errichtete Denkmäler militärischer Bestimmung finden in beiden Fällen nach dem Weltkrieg Wiederverwendung und werden zu Orten individueller Besinnlichkeit und kollektiver Zeremonien umgewandelt: Durch das bereits am 11. November 1920 inaugurierte Grab des unbekannten Soldaten, das dem Arc de Triomphe die Aura eines nationalen lieu de mémoire verleiht, blieb Paris zwar die Hauptstadt Frankreichs, konnte aber weder als Stadt, noch als Metropole ein eigenes Zeugnis einer siegreichen – oder trauernden – urbanen Gemeinde schaffen.

In Deutschland ist der Fall ähnlich: Die Neukonzipierung der Neuen Wache unter den Linden als Ehrenmahl für die Gefallenen bestätigte Berlin durchaus in der Rolle als preußische und deutsche Hauptstadt, wurde aber erst 13 Jahre nach Kriegsende eingeweiht und konnte somit auf die Entwicklung des Kriegsgedächtnisses praktisch keinen Einfluss mehr nehmen. Anstrengungen, ein eigenes urbanes Denkmal zu errichten, um eine neue gemeinsame, auf frühere großstädtische Realität gestützte Identität zu stärken, schlugen hier ebenfalls fehl.

Beidseitige Versuche, das städtische Gedächtnis zu kontrollieren und Friedhöfe zu Orten kollektiver Ehrenzeremonien in Gedenken gefallener Einwohner werden zu lassen, erzielten ebenso bescheidene Resultate wie die Umbenennung von Straßennamen zu Ehren alliierter Verbündeter oder gefallener Kriegshelden. So urteilt Julien denn auch: „La prise en charge d’une mémoire véritablement globale de la ville échoit dès lors principalement aux municipalités.“ (S. 230)

Die Analyse der Gedächtniskonfigurationen auf mikrolokaler Ebene ist sicher der interessanteste Teil der Studie. Gestützt auf eine breite Quellenlage untersucht die Autorin in beiden Städten anhand ausgewählter Beispiele die sozialen Gedächtnisakteure, die sich in zahlreichen Gemeinschaften auf schulischer, beruflicher und religiöser Ebene organisierten. Ohne sie, so Julien, wäre die mémoire de la guerre einer essentiellen lokalen Komponente beraubt.

Die Errichtung von Denkmälern oder Gedenkplaketten an vielen Schulen zeugt in beiden Städten gleichermaßen von der „action de communautés en deuil soucieuses de rester soudées dans l’hommage et d’en cultiver des vertus pédagogiques“ (S. 309), wohingegen andere Einrichtungen oft gemäß dem politischen Kontext, in dem sie sich positionierten, divergieren. So steht die Nähe des Pariser akademischen Milieus zu Männern und Institutionen der Troisième République im Kontrast zur Opposition der Berliner Universität zur Republik von Weimar. Gleichzeitig ist das militärische Gedächtnis in der Garnisonsstadt Berlin ungleich fester verankert als dies in Paris der Fall wäre.

Bei der Genese und Artikulierung des spezifisch lokalen Kriegsgedächtnisses kommt die räumliche Dimension zum Tragen. Beiden Städten gemein ist das Bedürfnis einer territorial verankerten mémoire bei gleichzeitiger Divergenz zwischen Zentrum und Peripherie. Diese Heterogenität territorialer Identität zeigt sich bei der Errichtung von Kriegsdenkmälern, die im Stadtkern entweder äußerst selten und wenn dann erst spät errichtet wurden (Paris) oder gänzlich ausgeblieben (Berlin). Der territoriale Rahmen des lokalen Kriegsgedächtnisses ist, wie Julien deutlich zeigt, klar kommunal. Alle 77 Kommunen des Departements Seine errichteten beispielsweise nach 1918 Denkmäler (lediglich Saint-Denis erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts). In Paris geschieht dies auf der Ebene der Arrondissements, „qui sont […] considérés comme des communes“ (S. 347), während man keine lieux de mémoire de la guerre auf Ebene der Stadtviertel findet. In Berlin wurden sämtliche territoriale Kriegsdenkmäler außerhalb der Altstadt errichtet. Auch nach der Umwandlung in die einzelnen Distrikte Großberlins im Jahr 1920 erhielten sich die ehemaligen Gemeinden über den Rahmen ihrer legalen Existenz hinaus „pour encadrer la mémoire de la guerre“ (S. 352). Die Denkmäler ehren die Toten der ehemaligen Gemeinde, nicht diejenigen des neuen Distrikts.

Was den Städten auf urbaner Ebene misslingt, schaffen die sozialen und territorialen Gemeinden: Durch die Errichtung von Denkmälern brechen sie mit der Anonymität der Großstadt und lassen Solidaritäten entstehen, die sich auf ein gemeinsames Kriegserlebnis berufen. Ihre eigene Identität kann somit gestärkt werden.

Indem sie durch Stadtgeschichte einerseits den Blick unter, durch den Vergleich der beiden Hauptstädte andererseits über die Ebene der Nation richtet, schlägt Julien eine Revision des rein nationalen Ansatzes vor. Zu bedauern ist lediglich, dass auf den ursprünglich vorhandenen Bilderkatalog – sicherlich aus Kostengründen – verzichtet wurde. Eine überaus interessante und gelungene Arbeit, die zur Lektüre zu empfehlen ist.

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