D. Schimmelpenninck van der Oye: Russian Orientalism

Cover
Titel
Russian Orientalism. Asia in the Russian Mind from Peter the Great to the Emigration


Autor(en)
Schimmelpenninck van der Oye, David
Erschienen
New Haven, CT 2010: Yale University Press
Anzahl Seiten
XII, 298 S.
Preis
$ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Renner, Abteilung Geschichte, Osteuropäische Geschichte, Universität Bielefeld,

Schon drei Jahrhunderte dient die Gegenüberstellung von „Russland“ und „Europa“ zur schnellen, wenn auch keineswegs immer verlässlichen Orientierung in der russischen Geistesgeschichte. Das Begriffspaar wandert durch die Selbst- und Fremddefinitionen der Russen, und obwohl es für Historiker längst an Deutungskraft verloren hat, können sie es aus ihren Arbeiten kaum wegdenken. Dies gilt auch und gerade für David Schimmelpenninck van der Oyes neues Buch über russische Vorstellungen von Asien, die nicht zufällig parallel zu den Vorstellungen von Europa entstanden, im Extremfall als Gegenentwurf. Schon im Titel nimmt das Buch Stellung zur unendlichen Debatte um den von Edward Said so genannten Orientalismus. Das Beispiel Russland, so der Einwand von Schimmelpenninck van der Oye, widerspreche dem simplen Schema des Orientalismus, das dem Okzident ein gefälliges Weltbild des fremden, exotischen, bedrohlichen Orients vorwirft und darin nichts anderes als ein Mittel der kolonialen Unterdrückung sieht.

Schimmelpenninck van der Oye konzentriert sich auf die Petersburger Periode, in der Russland nicht nur zur europäischen Großmacht, sondern auch zur Imperialmacht in Asien aufstieg. Er geht damit sowohl chronologisch als auch inhaltlich weit über sein erstes Buch hinaus, in dem er (offizielle) politische Vorstellungen über Russlands Rolle in Ostasien im Vorfeld des russisch-japanischen Kriegs untersucht hat.1 Zwar konzentriert sich Schimmelpenninck van der Oye abermals auf prominente Autoren, insbesondere aus Wissenschaft, Politik und Literatur; doch bezieht er bildende Künstler ebenso ein wie Musiker.

Schimmelpenninck van der Oye ist nicht der erste Forscher, der im Orientalismus lediglich einen provokanten Denkanstoß sieht. Und er ist auch nicht der erste, der dem russischen Blick nach Osten folgt und auf die Bedeutung Asiens für die Selbstwahrnehmung Russlands sowie für dessen imperialen Charakter hinweist. Im Gegenteil – die polyglotten Anmerkungen der Untersuchung verweisen auf vielfache Diskussionszusammenhänge, wobei lediglich die Absenz Jürgen Osterhammels überrascht.2 Gleichwohl ist Schimmelpenninck van der Oye der erste, der die beiden Diskussionsstränge, die Orientalismusdebatte und das komplexe Verhältnis Russlands zu Asien, systematisch verknüpft.

Im Ergebnis hat er gar kein Buch über den Orientalismus geschrieben, sondern darüber, warum es nach den Maßstäben von Said keinen Orientalismus im Zarenreich gab. Drei Hauptargumente ziehen sich durch den Text. Erstens lag der Osten des Zarenreichs wenn nicht innerhalb der eigenen Grenzen, so doch stets in unmittelbarer Nachbarschaft. Die Gebiete und ihre Bewohner waren sowohl vertrauter als auch vielfältiger als der Nahe Osten der britischen und französischen Kolonialherren. Zweitens bestand zwar der für Said notwendige Zusammenhang zwischen Expansion und wissenschaftlicher Erforschung auch im Zarenreich, aber die zarische „Ostforschung“ [vostokovedenie] bildete mit den imperialen Eliten zugleich auch Fürsprecher der fremden Kulturen aus. Drittens schließlich war Russland als asiatisches Land selber Gegenstand eines orientalistischen Diskurses in Westeuropa. Dieser Umstand schlug sich eben nicht nur in einer betont europäischen Zivilisierungsmission in Asien nieder, sondern auch in Respekt und der Suche nach Gemeinsamkeiten.

Die Studie ist chronologisch aufgebaut: ihr Schwerpunkt liegt eindeutig im 19. Jahrhundert; lediglich 29 Seiten befassen sich mit dem Säkulum der Aufklärung. Die Ausbildung erster Orientexperten unter Peter I. oder die typisch aufgeklärte Chinabegeisterung unter Katharina II. geraten so zu einer Vorgeschichte des sehr viel breiteren Asiendiskurses im Zeitalter der Romantik, des Nationalismus und der wissenschaftlichen Professionalisierung. Dabei erfolgte bereits im 18. Jahrhundert die Entdeckung Asiens als neue Oberkategorie für die heterogenen östlichen Territorien – symbolisiert durch die erfolgreiche Festschreibung der Ostgrenze Europas im Ural durch zarische Gelehrte. Jenseits dieser grundsätzlichen Grenzziehung, dies belegt Schimmelpenninck van der Oye deutlich, veränderten sich mit der Expansion des Zarenreichs nach Osten die geographischen Schwerpunkte des russischen Asieninteresses: vom osmanischen Reich im 18. Jahrhundert über den Kaukasus zu Beginn und China in der Mitte des 19. Jahrhunderts, Zentralasien in den 1870er-Jahren und Südostasien im imperialistischen Wettstreit mit Japan an der Wende zum 20. Jahrhundert. Diese Gliederung des Buches ist plausibel, allerdings fällt so das bereits im 17. Jahrhundert eroberte Sibirien aus der Darstellung heraus.3 Schimmelpenninck van der Oye nähert sich seinem Gegenstand anhand von Biographien und Denkschulen, wobei sein besonderes Augenmerk den Vordenkern und Fächern der akademischen „Ostkunde“ gilt. Solch ein personengeschichtlicher Ansatz bietet sich für eine Einführung mit Orientierungsfunktion an. Mit Hilfe des Registers lässt sich das Buch auch als Nachschlagewerk nutzen, denn Schimmelpenninck van der Oye gibt recht ausführliche biobibliographische Informationen.

Für das 19. Jahrhundert stellt Schimmelpenninck van der Oye das Oeuvre verschiedener Autoren und Künstler vor. Er beginnt mit den Literaten und konzentriert sich auf ihr Bild des Kaukasus, das seit Puschkin von einer Ästhetik der Bedrohung und Bewunderung geprägt war.4 Ein ähnliches Argument entwickelt Schimmelpenninck van der Oye unter anderem am Beispiel von Wassili Wereschtschagin für die Malerei. Zwar lassen sich in dessen Bildern aus Turkestan viele typisch orientalistische Klischees finden – brutale Despoten, unterdrückte Frauen, verkaufte Knaben, exotische Architektur. Doch Wereschtschagin begnügt sich keineswegs damit, einen Gegensatz zwischen barbarischem Turkestan und zivilisiertem Zarenreich darzustellen, vielmehr lenkt er den Blick auf die Barbarei des Eroberungskrieges.

Ambivalent war auch das Asienbild der akademischen Orientologie. Sie war ein Produkt des Zarenstaates und ihre Vertreter waren Beamte im Dienste des Imperiums. Nicht wenige waren von ihrer eigenen Zivilisierungsmission und der Überlegenheit Russlands überzeugt, aber selbstverständlich waren solche Ansichten nicht. Viele Asienspezialisten entwickelten nicht nur Sympathien für ihren Untersuchungsgegenstand, sondern kritisierten auch die Petersburger Regierung und die Arroganz des eurozentristischen 19. Jahrhunderts. Außerdem rekrutierte die zarische „Ostkunde“ ihre Spezialisten zu großen Teilen aus den Bildungseliten der unterworfenen Gebiete. Besonders ausführlich und lesenswert ist hier die Fallstudie zur Universität Kasan und insbesondere zu Kasem-Bek, Professor für türkische und tatarische Sprachen, der als Sohn eines persischen Adeligen mit der kaukasischen Stadt Derbent unter russische Herrschaft gekommen war. Dass den Philologen insgesamt vier Kapitel gewidmet sind, überschätzt vielleicht ihren Einfluss – andererseits ist dieses Gebiet der Wissenschaftsgeschichte kaum untersucht. Schimmelpenninck van der Oye zeichnet ein sehr differenziertes, materialgesättigtes Bild, das neben der Universität auch die geistliche Akademie in derselben Stadt (mit einer ausgeprägten antiislamischen Missionstätigkeit) umfasst sowie den Aufstieg der Petersburger Fakultät für östliche Sprachen zum weltweit größten Zentrum dieser Disziplinen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Weitere Fallstudien wären sicher denkbar gewesen – der Asiendiskurs der Geographen, der Historiker, der Reiseberichte, der politischen Tageszeitungen und vor allem: an den asiatischen Peripherien des Zarenreiches selbst. Doch das Panorama, das Schimmelpenninck van der Oye entfaltet, ist wahrlich breit genug, für manche Leser sicher schon zu bunt. Denn „Asien“, „Osten“ und „Orient“ werden weitgehend synonym gebraucht; erst im Schlusskapitel geht er über die Einzelstudien hinaus und auf Querverbindungen und übergreifende Vorstellungen von Asien ein. Schlagworte wie „asiatschtschina“ [Asiatentum] dienten in der erwähnten Grundsatzdebatte über Russland und Europa zur polemischen Abgrenzung oder zur indirekten, „äsopischen“ Kritik an der Autokratie der Zaren. Dieses allgemeine Kapitel ist deutlich zu kurz geraten; die Querverbindungen zwischen den biographischen Fallstudien und wiederkehrende Motive des Asiendiskurses bleiben angedeutet. Der Asiendiskurs erscheint einfach als die Summe der vorgestellten Beispiele. Ungeachtet dieses Einwands: David Schimmelpenninck van der Oye hat eine überaus lesenswerte und lesbare Einführung in ein vernachlässigtes Thema vorgelegt.

Anmerkungen:
1 David Schimmelpenninck van der Oye, Toward the Rising Sun. Russian Ideologies of Empire and the Path to War with Japan, DeKalb 2001.
2 Jürgen Osterhammel, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998.
3 Claudia Weiss, Wie Sibirien „unser“ wurde. Die Russische Geographische Gesellschaft und ihr Einfluss auf die Bilder und Vorstellungen von Sibirien im 19. Jahrhundert, Göttingen 2007.
4 Susan Layton, Russian Literature and Empire. The Conquest of the Caucasus from Pushkin to Tolstoy, Cambridge 1994.

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