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Titel
Kampf der Eliten. Das Ringen um gesellschaftliche Führung in Lateinamerika, 1810-1982


Autor(en)
Rovira Kaltwasser, Cristóbal
Erschienen
Frankfurt am Main 2009: Campus Verlag
Anzahl Seiten
361 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Zilla, Stiftung Wissenschaft und Politik, Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit, Berlin

„Trotz des langfristig hohen Maßes an sozialer Ungleichheit ist es ein Mythos, dass in Lateinamerika immer dieselben an der Macht bleiben“ (S. 336) – so der Schlusssatz und eines der Ergebnisse dieser Schrift, die zugleich beansprucht, sowohl eine empirische, historisch-soziologische als auch eine vergleichende Analyse der Elitenzirkulationsprozesse in Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko im Zeitraum 1810-1982 zu bieten. Der Autor verfolgt vier Ziele: Erstens geht es ihm um die Prägung einer sozialwissenschaftlichen Haltung gegenüber dem Subkontinent, die von den gängigen degradierenden aber auch romantisierenden Blicken Abstand nimmt. Rovira Kaltwasser wählt einen nüchternen, realistisch-machtanalytischen Mittelweg, der auf festgefahrene, selbst erfüllende Erwartungen verzichtet. So lässt er sich bei seiner Analyse weder von der konservativen Annahme einer ewigen Reproduktion des herrschenden Zirkels noch von der progressiven Illusion eines emanzipierenden Akteurs in Lateinamerika leiten.

Im Einklang mit dieser Perspektive strebt der Autor – zweitens – die sozialwissenschaftliche Rehabilitierung des Elitenbegriffs an. Dies erfolgt zum einen mittels einer theoretischen Auseinandersetzung mit den Werken von Vilfredo Pareto, Gaetano Mosca und Robert Michels. Im Falle Moscas deckt Rovira Kaltwasser ein Missverständnis auf, das durch eine unglückliche Übersetzung seiner italienischen Begriffe ins Deutsche entstanden war (er spricht nämlich nicht von herrschender, sondern von führender oder regierender Klasse). Das heuristische Potential der Ansätze dieser „Klassiker der Soziologie“ wird in erster Linie durch ihre Kontrastierung zu den Klassentheorien von Karl Marx und Pierre Bourdieu herausgearbeitet. Für die folgende Untersuchung werden vor allem deren Zyklusgeschichtsphilosophie, realistische Rhetorik und Führungstheorie fruchtbar gemacht.

Rovira Kaltwasser entlastet und öffnet den Elitenbegriff, denn er pflegt kein normatives und eindimensionales, sondern vielmehr ein empirisch-analytisches Verständnis von Eliten – im Plural. Eliten sind in der Definition von Rovira Kaltwasser Machtminderheiten, die in verschiedenen Machtsphären (Politik, Wirtschaft, Kultur und Militär) aufgrund der Verfügung über reichliche Ressourcen das größte Einflusspotential haben.

Drittens verfolgt der Verfasser einen stark kontextsensiblen Vergleich und distanziert sich somit kritisch von der Ahistorizität einiger sozialwissenschaftlicher Forschungen. Eliten werden als ein sozialhistorischer Untersuchungsgegenstand begriffen. Die Beachtung der Zeit-Raum-Bedingtheit gesellschaftlicher Entwicklungen löst Rovira Kaltwasser durch den Rückgriff auf eine Analyseperspektive der longue durée ein, die die Identifizierung von Pfadabhängigkeiten, also von „critical junctures“, entscheidenden Weichenstellungen, zulässt.

Schließlich möchte Rovira Kaltwasser konkret eine originäre Interpretation des sozialen Wandels bieten. Dessen Hauptmotor sieht er in Prozessen der Elitenerneuerung, ein Phänomen, das der Autor für die vier lateinamerikanischen Länder historisch und komparativ untersucht.

Vor dem Hintergrund dieser theoretischen und empirischen Ansprüche baut Rovira Kaltwasser seine Schrift in zwei gleichgewichtigen Teilen auf. Im ersten Teil (theoretische Diskussion), der aus drei Kapiteln besteht, werden zunächst die klassischen Elitentheorien rekonstruiert. Dies erfolgt (1) durch die Hervorhebung der Vorzüge der Ansätze von Mosca, Pareto und Michels im Hinblick auf die Vorgängertheorien sowie auf den zu untersuchenden Kontext. Dem folgt ein Umriss des Untersuchungsgegenstandes. Dabei wird (2) das Elitenverständnis in Abgrenzung zu Marx’ und Bourdieus Theorien der herrschenden Klasse und durch die Abhandlung der Entwicklung des Elitenkonzeptes in den Sozialwissenschaften näher bestimmt. Die Definition des Elitenbegriffs erfolgt im folgenden Kapitel (3). Wichtige konzeptionelle Aspekte wie Pluralität (Elitendifferenzierung), Einflussbereich (Machtsphäre) sowie horizontale und vertikale Beziehungen von Eliten (Elitenintegration und Hegemonie) werden in diesem Abschnitt spezifiziert. Die historische Analyse unternimmt der Autor im zweiten Teil seiner Schrift, der in vier Kapitel gegliedert ist. Die ersten drei entsprechen den historischen Untersuchungsphasen: (1) „Die Unabhängigkeit und die Suche der Eliten nach einer neuen Ordnung (ca. 1810-1880)“, (2) „Autoritäts- und Machtkonsolidierung der Eliten in der oligarchischen Ordnung (ca. 1880-1929)“ und (3) „Aufstieg und Niedergang der nationalpopulären Ordnung (ca. 1929-1982)“. Im vierten Kapitel von Teil II, dem abschließenden Kapitel, werden die Ergebnisse des theoretischen und historischen Teils zusammengetragen und auf deren Basis Schlussfolgerungen gezogen.

Ausgangspunkt der Interpretation der (lateinamerikanischen) Geschichte, die Rovira Kaltwasser vorschlägt, ist folgendes Postulat: „Gesellschaften ohne Eliten existieren nicht.“ (S. 329) „Die Eliten und Gegeneliten in einer Gesellschaft kämpfen um die Etablierung eines Modells gewünschter Ordnung, dessen Stabilisierung von der Kultivierung ihrer Beziehung zur breiten Bevölkerung abhängt. In dieser Sicht ist die Permanenz der Eliten mit ihrer Hegemonie verbunden.“ (S. 32f.) Es sind also Machtminderheiten (und nicht Volk gegen herrschende Klasse), die versuchen ihre unterschiedlichen Interessen und Ideen durchzusetzen und auf diese Weise die Gesellschaft zu führen. Daher herrscht zwischen ihnen stets ein latenter Kampf, der in bestimmten Situationen expliziter und brisanter wird. Damit ist die Linse bestimmt gewählt, durch welche die politischen und sozioökonomischen Entwicklungen in Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko erfasst und analysiert werden. Und sie erweist sich als ein geeignetes Instrument. Allerdings bleibt Rovira Kaltwasser mehrdeutig hinsichtlich der Frage, welcher methodologische Status diesen Prämissen in der Untersuchung zukommt. Handelt es sich um ein heuristisches Modell (S. 23), um den Kern der Elitentheorie, deren Erklärungspotential zu verifizieren (S. 24) oder um ein Postulat, dessen Validität zu überprüfen ist (S. 326)? Gleiches gilt für den Befund der Untersuchung (der Kampf zwischen Eliten und Gegeneliten ist der Motor der lateinamerikanischen Gesellschaften), der als empirisches Ergebnis und als aus der Analyse hervorgegangene These zugleich präsentiert wird (S. 329). Zweifelsohne lassen sich unter bestimmten Bedingungen manche dieser Optionen miteinander kombinieren. Abhängig davon jedoch, welches Ziel im Mittelpunkt steht, müsste die Auswahl der Fälle unterschiedlich gestaltet und begründet werden. Möglicherweise ist auf diese Ambiguität der Umstand zurückzuführen, dass die Argumentation an manchen Stellen zirkulär erscheint.

Das Herzstück der Untersuchung bildet eine historische Analyse von 172 Jahren lateinamerikanischer Geschichte, die Rovira Kaltwasser dank eines im ersten theoretischen Teil der Arbeit entwickelten Analyserasters kontextsensibel und systematisch, pragmatisch und konsistent für die Untersuchungsfälle in vier unterschiedlich aufgebauten Kapiteln bewältigt. In diesem Rahmen werden sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede zwischen den Fällen herausgearbeitet, was die handelnden Akteure (Eliten und Gegeneliten) in verschiedenen Machtsphären, die herrschenden Strukturen sowie die „critical junctures“ und die Entwicklungspfade angeht. Auch der internationale Kontext wird jeweils belichtet. Die historische Darstellung erfolgt nicht – wie in vielen Arbeiten der Fall ist – losgelöst vom ersten theoretisch-methodischen Teil. Dieser liefert vielmehr das Instrumentarium und die Begründung für die Struktur, Selektivität und Begrifflichkeit im historischen Narrativ. Es wird nämlich nur das rekonstruiert, was im Hinblick auf die leitenden Fragen unmittelbar relevant ist.

Die theoretisch-methodische Begründung des Untersuchungszeitraums (1820-1982) überzeugt. Dahingegen wirken Einleitung und Schluss der Arbeit gewissermaßen von der Not geprägt, der historischen Analyse – die legitimerweise mit der demokratischen Transition endet – mehr Aktualität zu verleihen. Zu Beginn der Schrift werden Probleme der Region hervorgehoben, die nicht direkt den Untersuchungsgegenstand bilden. Zum Schluss werden gegenwärtige Trends politischer Prozesse in Lateinamerika generalisierend problematisiert, die überwiegend symptomatisch für andere Länder des Subkontinents als Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko sind. Dennoch lesen sich Einleitung und Schluss mit Genuss und Erkenntnisgewinn.

In ihrem Gesamtbau bleibt die Schrift kohärent und konsistent; für den Leser und die Leserin wird jeder Forschungsschritt nachvollziehbar. Der Text zeugt von einem hohen theoretisch-methodologischen Reflexionsniveau. Theorie und Empirie sind gut miteinander verschränkt. Insgesamt stellt die Analyse von Rovira Kaltwasser zweifelsohne einen wertvollen, lehrreichen und lesenswerten Beitrag zur historisch-vergleichenden, auf Lateinamerika bezogenen sozialwissenschaftlichen Forschung dar.

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