Senatskommission (Hrsg.): Traditionen - Brüche - Wandlungen

Titel
Traditionen - Brüche - Wandlungen. Die Universität Jena 1850-1995


Herausgeber
Senatskommission zur Aufarbeitung der Jenaer Universitätsgeschichte im 20. Jahrhundert
Erschienen
Anzahl Seiten
1015 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Middell, Global and European Studies Institute, Universität Leipzig

Jubiläen sind für die Universitätsgeschichtsschreibung Glücksfälle – weil sie in der Regel Aufmerksamkeit sonst weniger geschichtsbewusster Hochschulleitungen und damit auch die nötigen Ressourcen für umfänglichere Rückblicke mobilisieren. Aber sie sind auch Momente, die gelungene und weniger gelungene Äußerungen zum Geist der Universität von ganz verschiedener Seite hervortreiben, so dass sie dem Universitätshistoriker reiche Beute für seine Betrachtungen bereit halten. Die Jenaer Darstellung zur 450. Wiederkehr der Universitätsgründung im Jahr 2008 – von einer Senatskommission auf die jüngere Geschichte fokussiert – bekennt sich denn auch zu den Sonden, die man 1858, 1908, 1933, 1958 und 1983 für die Schussfahrt durch anderthalb Jahrhunderte anlegen kann, will sich aber zugleich von aller Sinn- und Traditionsstiftung fernhalten. Wem solche Sinnstiftung dann überlassen bleibt, erfährt man leider im Vorwort dieses Bandes nicht, bei dem die Herausgeber (im Gegensatz zu den doppelt so gewichtigen Aufsatzsammlungen, die dieser Gesamtdarstellung vorweg gingen1) es gnädig bei 1000 Seiten belassen. Keine Frage, dies ist eine Fundgrube an Material- und Querverweisen, die für lange der Forschung über die Salana, die später Friedrich Schillers Namen erhielt, Maßstäbe setzt. Die Konzentration auf die „unbequeme Vergangenheit“ ist gespeist aus der Überzeugung, dass ein allzu tiefes Eintauchen in frühneuzeitliche Erfolge der Auseinandersetzung um die Universität heute eher abträglich ist, dagegen die Wandlung zum modernen Forschungsgroßbetrieb (in der Stadt von Ernst Abbe und Carl Zeiss!), zur Massenuniversität, zum „Leuchtturm“, an den sich alle regionalen Hoffnungen auf blühende Landschaften binden, für die Gegenwart von weit größerem Interesse sei, im Übrigen die Wunde der „Vereinigungskrise“ nicht verheilt ohne gründliche historiographische Detailbemühungen, die den Mythen den Teppich unter den Füßen wegziehen.

Diese Anliegen teilt eine mehrköpfige Autorenschaft: Stefan Gerber für die Zeit 1850 bis zum Ende des ersten Weltkrieges; Jürgen John und Rüdiger Stutz für die folgende Epoche bis zum Ende von Weltkrieg 2; Tobias Kaiser und Heinz Mestrup für SBZ und DDR sowie Michael Ploenus für die Reform- und Neuerungsjahre bis 1995. Es soll damit der Struktur- und Ereignispolitik, Sozial- Kultur- und Ideengeschichte der Universität Gestalt gegeben werden, was allerdings nicht selbstverständlich mit dem Ziel „ein möglichst komplexes“ Bild zu zeichnen, Hand in Hand geht (S. 15). So zeigt sich schon in der Einleitung ein Problem, mit dem die Autoren durchweg zu kämpfen haben. Ihre stupende Belesenheit treibt ihnen so viele Stichworte zu – jedes für sich nicht nur legitim, sondern auf den ersten Blick unverzichtbar –, dass jedem gerade so ein knapper Abschnitt gewidmet werden kann, schon muss das nächste bedient werden. Weder „lobpreisende Festschrift“ noch „handliche Geschichte im Taschenbuchformat für den schnellen Überblick“ will der Band sein, nicht Publikation „für den Tagesgebrauch“, sondern „Lese- und Nachschlagewerk von gewisser Dauer“ (S. 21) und dafür die methodischen Schwierigkeiten mehrbändiger Darstellungen mit oftmals ausgekoppelten Sammelwerken zur Disziplingeschichte umschiffen. Ein engerer Fachkollegenkreis, den der Fall mit Blick auf größere Zusammenhänge beschäftigen kann, und ein breiteres Publikum mit vermutlich eher konkret lokalem Interessenspektrum sollen gleichermaßen zufrieden gestellt werden. Dieser Plan ist durchaus aufgegangen, das Produkt ist insgesamt gelungen, denn tatsächlich ist der Band voller interessanter Einzelheiten. Zum allergrößten Teil entdecktes Neuland in den Archiven der Universität, von Stadt und Region sowie in der jeweils zuständigen politischen Zentrale. Diese hier auch nur andeutungsweise aufzuzählen, sprengte den Rahmen einer Buchbesprechung bei Weitem. Allerdings sucht der Rezensent dieses Lesebuches, auch bei heftigem Blättern zwischen den Kapiteln, das verbindende Thema vergeblich. Gerber setzt mit dem fortwirkenden Mythos der Goethe-Zeit ein und deutet damit an, dass die Universität im Laufe ihrer Entwicklung mehrfach ein Problem mit der Last der Tradition und einer großartigen Vergangenheit hatte, an der sie sich nur schwer messen lassen konnte, verliert dann dieses Leitmotiv aber bald wieder aus den Augen. An späterer Stelle taucht das klassische Zeitalter verschiedentlich erneut auf, aber entlang dem Genius Loci zu erzählen, traute sich das Autorenkollektiv nicht konsequent. Für die Zwischenkriegszeit haben die Autoren das Thema der sehr frühen Machtergreifung der Nazis in Thüringen aufgegriffen und versuchen die politische Instrumentalisierung, aber auch die enge Bindung der Universitätsentwicklung an wirtschaftliche Interessen in den Mittelpunkt zu rücken. Auch hier lugt das Thema in ganz spannender Weise verschiedentlich aus dem Kapitel hervor, wird aber nicht konsequent zur Leitschnur der Erzählung gemacht. Für die Darstellung der DDR-Zeit könnte man sich leicht als Überschrift vorstellen „Sozialismus in der Provinz“, mit allen Konsequenzen, die sich aus der Ferne von den politischen Entscheidungen in Berlin, von der Erpressbarkeit durch Wirtschaftseliten vor Ort und vom enormen Spielraum für radikalisierte Stalinisten zu erzählen wäre. Aber auch dieses Thema bleibt an vielen Stellen nur im Verborgenen mitlaufend und insgesamt würde man sich fragen, wie diese übergreifenden Themen der Kapitel dann wieder zu einem Ganzen komponiert werden können.

So steht am Ende eine Darstellung, aus der man unheimlich viel an Einzelheiten erfährt, die der Forschung in den nächsten Jahren in jeder Hinsicht einen Maßstab setzen. Und doch wird sie vermutlich den heutigen Universitätsangehörigen einigermaßen verwirrt zurücklassen, vor allem, wenn er nach einer Sinnstiftung für den gegenwärtigen Zustand der Universität fragt. Man kann dies als illegitimen Anspruch an eine Universitätsgeschichte zurückweisen, ob eine solche Leseweise damit schon verschwindet, bleibt mir allerdings fraglich.

So bleibt die Universität, die dieser Band beschreibt, einmal mehr ein vielgestaltiger Organismus, der zur gleichen Zeit ganz verschiedenen Traditionen folgt, der in sich immer wieder die Möglichkeit birgt divergente Pfadabhängigkeiten zu mobilisieren und für den sich eigentlich keine gemeinsame Logik der Erzählung anbietet. Dies straft alle Bemühungen von Öffentlichkeitsarbeitern Lügen, die sich bemühen, Universitäten, den Unternehmen gleich, auf ein einziges Narrativ festzulegen und damit als „Marke“ zu platzieren. Das, was zunächst wie das Scheitern eines kollektiven Unternehmens zum Bericht über die Geschichte einer Institution erscheint, wirkt dann doch ausgesprochen tröstlich, gegenüber den Rationalisierungsbemühungen heutiger Publicity-Fachleute.

Anmerkung:
1 Vgl. etwa Uwe Hoßfeld / Tobias Kaiser / Heinz Mestrup (Hrsg.), Hochschule im Sozialismus. Studien zur Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena 1945 bis 1990, 2 Bde, Köln 2007.

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