L. Fasora u.a. (Hrsg.): Sozial-reformatorisches Denken

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Titel
Sozial-reformatorisches Denken in den böhmischen Ländern 1848-1914.


Herausgeber
Fasora, Lukáš; Hanuš, Jiří; Malíř, Jiří
Erschienen
München 2010: Martin Meidenbauer
Anzahl Seiten
419 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Heumos, Moosburg

Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus ging das Interesse an Arbeitergeschichte in der tschechischen Forschung so weit zurück, dass die Frage gestellt werden konnte, ob die Arbeiterschaft aus der Sicht der Zunft überhaupt noch Bestandteil der Gesellschaft sei. Man mag mit den Herausgebern des vorliegenden Bandes der Meinung sein, dieser Rückzug sei „natürlicherweise“ erfolgt (S. 20), weil sich die Forschung nach 1989 Fragen zugewandt habe, die vor 1989 aus politischen Gründen tabuisiert wurden. Allerdings steht die Arbeitergeschichte vor erheblichen konzeptionellen Schwierigkeiten, die wohl auch erklären, warum ihr Neuanfang nur langsam vorankommt: Die historiographische „Exotisierung“ der kommunistischen Ära mitsamt der Arbeiterschaft als dem ideologischen Lieblingskind der kommunistischen Partei, Kehrseite der Vorstellung, man kehre nach dem Sturz des Kommunismus auf den „eigentlichen“ Pfad der Geschichte zurück, geht einher mit der Ratlosigkeit, wie Arbeitergeschichte nach der kommunistischen Machtübernahme 1948 zu konzipieren sei, und das wirkt sich auch auf die Arbeitergeschichte vor 1948 aus. Bisher hat man es einfach bei einem methodologischen Hiatus belassen: Arbeitergeschichte vor 1948 folgt den Konzepten moderner Sozialgeschichte, nach 1948 – ohne dass ausgedehnte Forschungen diese Konsequenz nahelegen würden – einer allgemeinen Politikgeschichte und der Annahme, die allgegenwärtige Macht der kommunistischen Partei habe jede soziale Bewegung unmöglich gemacht.

Soviel vorweg, um die historiographischen Rahmenbedingungen anzudeuten, in denen der anzuzeigende Sammelband steht. Angesichts dieses Kontextes ist es sinnvoll, mit dem Thema des Entstehungszusammenhangs der sozialen Frage im 19. Jahrhundert zu den Anfängen der Arbeiterbewegung zurückzukehren und zu versuchen, für Längsschnitte ihrer Geschichte tragfähige Kategorien zu entwickeln. Ebenso sinnvoll ist es, die österreichisch-ungarische Variante der sozialen Frage an deren Ausprägungen und Regelungsversuche in anderen Ländern anzuschließen. Damit kommen neben der Arbeiterschaft die ländlichen Unterschichten und das in den böhmischen Ländern sozial und wirtschaftlich besonders gewichtige Kleingewerbe in den Blick.

Der Sammelband ist in mehrere Blöcke unterteilt. Den ersten Block bilden eine Studie über die ländliche soziale Sicherungsordnung in Böhmen vor dem Aufkommen der sozialen Frage und ein Aufsatz, der die vorindustrielle patriarchalisch-obrigkeitliche Regulierung der Armenfrage und das diese Regulierung dirigierende Weltbild der „sittlichen Ökonomie“ aus der Sicht eines ihrer prominenten Fürsprecher, des böhmischen Adligen Friedrich zu Schwarzenberg, zeigt. Der zweite Block enthält Abhandlungen über Rudolf Horský und Matěj Procházka als Wortführer der böhmisch-mährischen christlich-sozialen Bewegung. Der dritte Block gilt einigen Repräsentanten der intellektuellen Elite (als Beispiele dienen unter anderem T.G. Masaryk, Karel Kramář, der Jungtscheche Václav Šílený), die sich mit der sozialen Frage wissenschaftlich, publizistisch und auch praktisch-politisch befassten. Diesem Block können zudem Beiträge über Sozialpolitiker (Lev Winter), Landtags- und Reichsratabgeordnete zugeordnet werden, die als Experten für wirtschaftliche und soziale Fragen hervortraten (Otto Lecher, Karel Adámek). Im vierten und fünften Block werden Angehörige zweier sozialer Gruppen vorgestellt, die mit der sozialen Frage qua Beruf zu tun hatten und für das weite Feld nichtstaatlicher praktischer Maßnahmen stehen, die die krisenhaften Manifestationen der sozialen Frage abfedern sollten. In die erste Gruppe gehören Industrielle, Manager und Vertreter wirtschaftlicher Interessenverbände, in die zweite Kommunalpolitiker, Rechtsanwälte, Apotheker etc. Studien über Paul Kupelwieser, der im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts als Direktor der Eisenwerke im mährischen Vítkovice den Grundstein für die betriebliche Sozialpolitik dieser Werke legte, und über Johann Schlitter, in den 1880er- und 1890er-Jahren Polizeidirektor in Brünn/Brno und Anwalt einer konservativ-antisozialistischen Regelung der Arbeiterfrage, seien als Beispiele für die Orientierung der beiden Blöcke genannt.

Der Sammelband ist vor allem ein mährisches Unternehmen: Neben den drei Herausgebern sind drei weitere Autoren (Pavel Cibulka, Pavel Marek, Martin Rája) an der Masaryk-Universität und der Zweigstelle der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik in Brno sowie an der Palacký-Universität in Olomouc tätig. Fünf Autoren (Milan Hlavačka, Jakub Rákosník, Jiří Štaif, Luboš Velek und Jan Županič) kommen von der Prager Karls-Universität, vier (Zdeněk Bezecný, Kristina Kaiserová, Marie Macková, Jana Nová) von den Universitäten in České Budějovice, Ústí nad Labem und Pardubice sowie vom Glas- und Bijouteriemuseum in Jablonec nad Nisou. Last not least steuert ein Pionier der tschechischen Sozialgeschichte, Jiří Matějček (Arbeitsstelle für historische Soziologie in Kutná Hora), einen Aufsatz zu dem Band bei.

Aus den insgesamt 17 Beiträgen formt sich ein sehr differenziertes und einprägsames Bild der Diskussionen über die soziale Frage im böhmisch-mährischen Raum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Alle Autoren vermitteln darüber hinaus detaillierte Einblicke in die verschiedenen sozialen Milieus, in denen diese Diskussionen geführt wurden. Unter beiden Aspekten ist der Sammelband eine Bereicherung der einschlägigen Literatur.

Es geht den Herausgebern um eine neue theoretische Grundlegung von Arbeitergeschichte, wie die Einleitung deutlich macht. Das Fundament dafür muss zunächst einmal blank gefegt, das heißt von den Überresten marxistischer Kategorien und Interpretationsmuster gesäubert werden, die die Herausgeber in der Einleitung denn auch nur noch mit spitzen Fingern anfassen. Da nun eine neue Theorie nicht dadurch entsteht, dass die Begriffe der alten Theorie in Gänsefüßchen gesetzt werden („Ausbeuter“), baut man auf den empirischen Fortschritt: Wenn die von der marxistischen Literatur vernachlässigten Themenkomplexe (Bürgertum, Kleingewerbe, Sozialstruktur der tschechischen Gesellschaft, Parteienwesen, Unternehmen, Arbeitsmarkt etc.) erst einmal erforscht sind, können die bisherigen Interpretationen der Geschichte der Arbeiterschaft revidiert werden, meinen die Herausgeber. Dieser seit 1989 in der tschechischen Historiographie spukende Topos von den „weißen Flecken“ in der Geschichte, deren Aufarbeitung als Kompilierung von petits faits fortschreitenden Erkenntnisgewinn verbürgen soll, spiegelt ein positivistisches Dilemma, das ironischerweise den vorliegenden Band mit undogmatischeren marxistischen Untersuchungen verbindet, die den Herausgebern als „spätpositivistisch“ gerade noch diskutabel erscheinen (S. 19).

Die Herausgeber deuten eine Forschungsrichtung an, die erste Konturen der erwünschten neuen Konzeption von Arbeitergeschichte sichtbar macht. Das Ziel ist dabei vor allem, die „Klassenstrukturen“ der tschechischen Gesellschaft durch das Deutungsmuster eines integrierenden „nationalen Interesses“ zu ersetzen: Da sich in den böhmischen Ländern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die sozialen Probleme praktisch nicht von den nationalen Problemen trennen ließen und die tschechische Gesellschaft einen überwiegend kleinbürgerlich-kleingewerblichen Charakter hatte, befanden sich Teile der tschechischen Arbeiterschaft und des tschechischen städtischen Kleinbürgertums in einer gemeinsamen nationalen Frontstellung gegen das deutsche (und jüdische) Großbürgertum und Großkapital. Die Arbeiterfrage fiel im Großen und Ganzen mit der kleingewerblichen Frage zusammen (S. 18).

Ob die Interferenz sozialer und nationaler Probleme in Österreich-Ungarn Ausmaße erreichte, die es gestatten, die Geschichte der tschechischen Arbeiterschaft in langfristiger Perspektive anhand eines neuen gesellschaftlichen Integrationstypus zu schreiben, dürfte kontrovers beurteilt werden. In der Arbeiterbewegung selbst wurde die Verknüpfung beider Fragen kritisch reflektiert. Die Radikalisierung der Arbeiterschaft in den Jahren 1918-1920 als Reaktion auf die Erringung der nationalen Unabhängigkeit durch die Gründung des tschechoslowakischen Staates, in die wenig von ihren Hoffnungen auf soziale Emanzipation eingegangen war, belegt zur Genüge, dass die Kategorien „sozial“ und „national“ trennscharf wahrgenommen wurden. Schließlich wird es schwer fallen, die Geschichte der Partei der nationalen Sozialisten, die sich genau jene Verknüpfung von Arbeiter- und kleingewerblicher Frage auf ihre Fahne geschrieben hatte, als Erfolgsstory darzustellen, auch wenn die Partei vor dem Februarumsturz 1948 zum stärksten Gegner der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei avancierte.

Alle Beiträge des Sammelbandes konvergieren darin, dass sie die Frage nach den ’strukturellen’ Dimensionen der Machtverteilung in einer gegebenen gesellschaftlichen Ordnung nicht mehr stellen (die soziale Lebenswelt erscheint dem Leser denn auch als Kollektion separater Entitäten) und schon gar nicht die Frage danach, unter welchen ’strukturellen’ Bedingungen Formen und Inhalte von Sozialpolitik (die das zentrale Thema des Bandes bildet) entstehen. Staatliche Sozialpolitik im beginnenden industriellen Zeitalter ist für die Autoren einfach das, was im politischen Bereich als Sozialpolitik deklariert wird, einschließlich der dabei mitgelieferten legitimierenden Formeln: Sie ist eine Reaktion des Staates auf die wachsenden sozialen Probleme im Zuge der Industrialisierung, und sie ist die staatliche Übernahme der Verantwortung für die umfassende humane Sicherung des soziokulturellen Status. Die Kritik der Autoren beschränkt sich unter solchen Voraussetzungen auf den Nachweis von Diskrepanzen zwischen dem sozialpolitischem „Soll“ und „Ist“, denen entsprechende normative Gegenoptionen entgegengehalten werden (Einforderung von mehr Gerechtigkeit, Gleichheit, Sicherheit etc.). Im Kern lässt sich Sozialpolitik freilich auch als etwas anderes verstehen, nämlich als die staatliche Bearbeitung des Problems der dauerhaften Transformation von Nicht-Lohnarbeitern in Lohnarbeiter und insofern als aktive Mitwirkung des Staates an der ’Konstitution’ der Arbeiterklasse: Um Leistungsfähigkeit und Tauschbarkeit der Arbeitskraft zu gewährleisten, müssen wegen der ungesteuerten Fluktuationen auf der Angebots- und Nachfrageseite des Arbeitsmarktes arbeitsmarktexterne „Auffangbecken“ (vor allem versicherungsrechtlicher Art) institutionalisiert werden, die die Reproduktion der aktuell nicht im Produktionsprozess eingesetzten Arbeitskraft sicherstellen, wobei der Zugang zu diesen „Auffangpositionen“ administrativer Kontrolle unterliegt, damit sich der „Verkaufszwang“ für Arbeitskraft nicht abschwächt.

Anders als solche Begriffsbildungen abstrahieren die Beiträge des Bandes von systemstrukturellen Zwängen so weit, dass der Entstehungszusammenhang staatlicher Sozialpolitik als im Prinzip offene Situation erscheint: Auf dem Markt für sozial-reformatorische Konzepte in den böhmischen Ländern konkurrierten im Prinzip gleichrangige, nicht mit unterschiedlichen Durchsetzungschancen ausgestattete Strategien. Warum dann von diesen nur staatliche Sozialpolitik die Verbreitung gewonnen hat, die wir heute antreffen, erscheint den Autoren nicht diskussionswürdig. Die Frage ließe sich beantworten, indem man, wie oben angedeutet, den funktionellen Zusammenhang von Staatstätigkeit, Produktionsprozess und den strukturellen Problemen der kapitalistischen Gesellschaftsformation zum Ausgangspunkt der Untersuchung nimmt.

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