T. Wünsch: Deutsche und Slawen im Mittelalter

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Titel
Deutsche und Slawen im Mittelalter. Beziehungen zu Tschechen, Polen, Südslawen und Russen


Autor(en)
Wünsch, Thomas
Erschienen
München 2008: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
IX, 188 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Lübke, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig

Die Beziehungen zwischen Deutschen und Slawen zählen wegen ihrer unheilvollen Entwicklung im 20. Jahrhundert zu den problematischen Kapiteln deutscher Geschichte. Bei ihrer Aufarbeitung ist auch die deutsche Geschichtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert als ein Faktor der Ausprägung gesellschaftlicher Grundstimmungen ausgemacht worden, hat sie doch die Theorie begründet, wonach erst die Deutschen für die kulturelle Entwicklung der von Slawen besiedelten Regionen des östlichen Europa seit dem Mittelalter verantwortlich gewesen seien. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich deutsche Historiker aber mehr oder weniger schnell von diesem mit dem Begriff „Ostforschung“ verbundenen Deutungsmuster gelöst. Sie bemühten sich um eine sachliche, dabei großenteils auf den neu entdeckten Zeugnissen der Archäologie und der Onomastik beruhende Interpretation der mittelalterlichen Geschehnisse, unabhängig von ethnischen oder nationalen Präferenzen. Dieses Herangehen beschränkte sich aber notwendigerweise zunächst auf einzelne Schauplätze oder Regionen der Geschichte, so dass es gleichzeitig einen Bedarf gab und gibt, Einzelbefunde im Vergleich zu analysieren und die Ergebnisse neu zusammenzufassen.

Dieser außerordentlich schwierigen Aufgabe, die – ohne gleichzeitig Kritik in Einzelaspekten hervorzurufen – kaum zu erfüllen ist, hat sich Tomas Wünsch gestellt. Angesichts der auch in seinem Buch zutage tretenden Vielfalt von Einzelheiten aus der Frühzeit der eintausendjährigen Begegnungsgeschichte von Slawen und Deutschen ist es mithin nahezu selbstverständlich, dass die Spezialisten Einzelfragen anders ausgewählt, formuliert, gewichtet und mit anderen Literaturangaben versehen hätten. Ungeachtet solcher möglichen punktuellen Kritik wie zum Beispiel am Gebrauch der Bezeichnung „deutsch-polnischer Krieg 1028-1032“ (S. 20), die impliziert, Deutsche und Polen hätten miteinander Krieg geführt, an der viel zu knappen Würdigung von Personen-, Orts- und Geländenamen als Zeugnis der „Artikulation von Begegnung“ (S. 34), an der vergleichsweise ausführlichen Behandlung der Samo-Überlieferung (S. 36f.), die wohl kaum etwas mit den deutsch-slawischen Beziehungen zu tun haben kann, ist der Wert dieser Publikation als Ganzes zu würdigen. Besonders trifft dies auf seine Funktion als ein Hilfsmittel zur weiteren Annäherung an das Generalthema zu: die Möglichkeit, über Personen-, Orts- und Sachregister eine Beschreibung von Einzelelementen und deren Einordnung in einen größeren Zusammenhang samt Literaturhinweisen zu erlangen.

Die hier im Folgenden geäußerte Kritik bezieht sich denn auch mehr auf das Konzept des Buches und auf die Frage, inwiefern es die einmal geweckten Erwartungen einer ordnenden Deutung der deutsch-slawischen Beziehungen erfüllt. Fast scheint es, als ob der Autor in dieser Hinsicht selbst nicht ganz zufrieden sei, wenn er das, was er dem Leser auf 129 Seiten Text (ergänzt durch 50 Seiten Bibliografie und Register) bietet, in seinem knappen „Fazit“ als einen „Parforceritt durch fast ein Jahrtausend deutscher und slawischer Beziehungsgeschichte“ bezeichnet. Und dem Leser erscheint es nach seiner Lektüre als durchaus angemessen, dass der Autor die sich selbst gestellte Frage, ob „es ein eindeutiges, gut abgrenzbares Ergebnis“ seiner Bemühungen gibt, „vielleicht dieses“ präsentiert: „dass es keine eindeutigen, definitiven Strukturen in den Beziehungen gab“ (S. 129).

Das ist nicht überraschend, entspricht aber eben nicht den Erwartungen, die der Titel dieses Buches weckt. Handelt es sich doch zweifellos um ein großes Thema, dessen Thomas Wünsch sich da angenommen hat, das neugierig darauf macht, wie er es denn anpacken wird. Ein „Essay“ wird im Vorwort versprochen, von Synthetisierung und Kondensierung ist die Rede, und davon, dass das Buch „nicht eine Lektüre nur für Fachleute“ werden sollte, dass vielmehr „die allgemein an Geschichte Interessierten“ sich angesprochen fühlen mögen. Sollte da der Schlüssel zu einer allgemein verständlichen Darstellung dieses schwierigen Kapitels deutscher, ja europäischer Geschichte gefunden worden sein? Sollte es möglich geworden sein, einen roten Faden durch das Gestrüpp von Beziehungen zwischen den Deutschen und dem Osten des europäischen Kontinents zu finden? Kann das komplexe, aus einer Vielzahl von Mosaiksteinchen zusammengesetzte Geschehen in einem essayistischen, auf die wirklich wesentlichen Grundzüge konzentrierten, Text zugänglich gemacht werden?

Ein solcher imponierend gelungener, wenn auch durchaus nicht einfach zu lesender und auf ein zeitlich begrenztes Teilgebiet der deutsch-slawischen Beziehungen gerichteter Versuch ist bisher nur Herbert Ludat zu verdanken, der 1971 durchgängig geschriebene „Skizzen zur Politik des Ottonenreiches und der slawischen Mächte in Mitteleuropa“ vorlegte 1 und dabei den Kunstgriff verwandte, den für die Fachleute notwendigen ausführlichen Anmerkungsapparat, der gut zwei Drittel des Buches ausmacht, strikt von der eigentlichen textlichen Darstellung zu trennen. Die hier vorgelegte Darstellung lehnt sich dagegen an die Form der Oldenbourg-Reihe „Enzyklopädie deutscher Geschichte“ an, so dass der Autor schon in seinem Vorwort „einen Wechsel von überblicksartigen Abschnitten (mit Zurückhaltung in den Literaturverweisen) und möglichst reich belegten Kapiteln zu den relevanten Forschungsfragen“ ankündigt (S. VII). Das hat zur Folge, dass der Text sich in 34 nummerierte Haupt- und Unterkapitel und 12 weitere nicht nummerierten Teilkapitel gliedert – ein Befund, der bei 129 Textseiten erahnen lässt, wie fragmentiert die Darstellung ausfällt, die noch zusätzlich durch die zahlreichen in den Text eingeschobenen Literaturhinweise unterbrochen wird. Dabei sollen Vielfalt und Reichtum der Kulturkontakte, gegenseitige Beeinflussungen in Mittel- und Osteuropa, Wissenschaftstraditionen und Fragen der Heuristik thematisiert werden, es sollen Orientierung und Anregung für weitere Arbeiten geboten werden – kurzum eine breites Spektrum, in dessen Behandlung sich der Autor bemühen will, die von ihm als „sonst üblich“ bezeichnete „Verabsolutierung der West-Ost-Richtung in der Einflussnahme auf politischer, siedlungsgeschichtlicher und sonstiger Ebene“ zu überwinden und den Fragehorizont zu erweitern „auf Einflüsse aus dem (slawischen) Osten nach Westen und auf das Wechselspiel einer gegenseitigen Beeinflussung“. Das bedeutet, „beide Sphären, die deutsche und die slawische, in einen Kontext multilateraler Kommunikation als Gegenstand der ‚longue durée‘ zu stellen“ (S. VIII).

Das klingt nach der Berücksichtigung nicht nur der slawischen Welt, sondern des ganzen Ostens, doch wird die mögliche Erwartung in diese Richtung schon durch den Untertitel relativiert, der ja von den „Beziehungen zu Tschechen, Polen, Südslawen und Russen“ spricht. Eine wirkliche Begründung für diese Auswahl, und für die ungleiche Terminologie (warum werden die Westslawen im Gegensatz zu den Südslawen in Polen und Tschechen differenziert?, und: sind mit den Russen die Ostslawen gemeint?) gibt es nicht, allenfalls den Hinweis, die Bibliographie sei kaum noch beherrschbar, so dass nur ein Ausschnitt gezeigt werden könne (S. VII f.). Man erfährt, dass auf „eine eigenständige Thematisierung der ‚Germania Slavica’ genauso wie auf die Fortführung der Verbindungslinien über die slawische Welt hinaus“, das heißt „nach Ungarn, ins Byzantinische und Osmanische Reich, sowie in die nichtslawischen Teile Nordosteuropas“ verzichtet wurde (S. VIII).

Es erstaunt vor allem der Verzicht auf die Germania Slavica, worunter der Autor einmal Schlesien, Pommern und (das baltische?) Preußen fasst (S. 11), einmal auch die slawischen Stämmen zwischen Elbe und Oder (S. 10). Trafen doch am Westrand der Germania Slavica Deutsche und Slawen erstmals aufeinander, so dass, so ist zu vermuten, sich in dieser Kontaktzone bestimmte Verhaltensformen im Umgang miteinander einschließlich spezifischer Stereotypen zuerst ausbildeten und prägend für spätere Begegnungen waren. Thomas Wünsch begründet den Verzicht auf die Germania Slavica mit einer graduellen Unterscheidung „in der Bedeutungsskala der Slawen für die deutsche Geschichte“: In der Germania Slavica sieht er die Ausbildung einer „deutsch-slawischen Mischkultur“ (S. 11), in Böhmen-Mähren (also bei den Tschechen) und Polen beobachtet er vielgestaltige, über Jahrhunderte anhaltende und tiefgehende Kulturkontakte zwischen Deutschen und Slawen, „ohne aber je zu Vermischungen zu führen“, und gegenüber den Slawen Ost- und Südosteuropas habe es eine „im Wesentlichen auf Diplomatie und Handel beschränkte Beziehungsachse“ gegeben. Lediglich die beiden letzten Bereiche werden in dem Buch behandelt, und es erhebt sich die Frage, ob sich der Autor mit dem Verzicht auf den ersten nicht selbst einer Chance beraubt hat, die Verhältnisse zwischen Deutschen und Slawen besser verständlich zu machen, ganz zu schweigen davon, dass es im Rahmen des in späteren Kapiteln noch thematisierten hochmittelalterlichen Landesausbaus auch jenseits der „deutsch“ gewordenen und gebliebenen Landschaften ähnliche Phänomene gab wie in der Germania Slavica.

Ebenso muss die Frage gestellt werden, ob es nicht notwendig gewesen wäre zu klären, wer denn überhaupt die „Deutschen“ – nicht nur aus Sicht der Slawen – waren? Dafür reichen die wenigen Bemerkungen zu einer möglichen Entstehung der Fremdbezeichnung „nemcy“ für die Deutschen bei den Westslawen am Rande der bairisch-karolingischen Herrschaft im 9. Jahrhundert nicht aus. Schließlich waren Baiern, Franken, Thüringer und Sachsen noch weit davon entfernt, sich als eine als „deutsch“ bezeichnete politische Gemeinschaft zu verstehen. Oder meint der Autor die Gesamtheit der deutsch (im Sinne von theodisce = volkssprachlich) sprechenden Menschen?

Fragwürdig erscheint zudem der Verzicht auf die Berücksichtigung des historischen Königreiches Ungarn, vor allem im Hinblick auf dessen Erstreckung über slawische Siedlungsgebiete, aber auch auf seine Funktion und Tradition als Gastland für fremde Zuwanderer. Und auch der Verzicht auf baltische Gegebenheiten ist problematisch, wenn man bedenkt, dass nicht nur das Verhältnis des Römischen Reiches (samt der in ihm wohnenden Deutschen) zu Polen wesentlich durch die Existenz des Deutschen Ordens und seine Ausdehnung auf das Pruzzenland und den Kampf gegen die Litauer (die Partner der Polen in der Personalunionen beider Länder seit 1386) bestimmt wurde, sondern dass die Handelsinteressen der (deutschen) Hanse an der nördlichen Rus’ (Novgorod) sich wesentlich an der Befahrbarkeit der Verkehrswege durch Livland orientierten. So bleibt in Summe als Fazit, dass eine wirkliche Geschichte der Beziehungen zwischen Deutschen und Slawen doch noch geschrieben werden muss, wofür Thomas Wünschs Publikation in Bezug auf das Mittelelter aber eine mutige Vorarbeit darstellt.

Anmerkung:
1 Herbert Ludat, An Elbe und Oder um das Jahr 1000, Köln 1971.

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