A. Goldberg: Honor, Politics, and the Law in Imperial Germany

Titel
Honor, Politics, and the Law in Imperial Germany, 1871-1914.


Autor(en)
Goldberg, Ann
Reihe
New Studies in European History
Erschienen
Anzahl Seiten
215 S.
Preis
€ 65,11
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Walkenhorst, Gütersloh

„Die Ehre ist der Wurmfortsatz im seelischen Organismus. Ihre Funktion ist unbekannt, aber sie kann Entzündungen bewirken. Man soll sie getrost den Leuten abschneiden, die dazu inklinieren, sich beleidigt zu fühlen.“ Mit diesem Aphorismus nahm Karl Kraus 1909 die Neigung seiner Zeitgenossen aufs Korn, sich in „ihrer Ehre verletzt“ zu fühlen und mit Vehemenz auf diese Verletzung zu reagieren.1 Besonders ausgeprägt war diese Neigung im deutschen Kaiserreich, wie Ann Goldbergs Studie eindrucksvoll zeigt. Sie untersucht die Gründe für die außerordentlich hohe Zahl von Beleidigungsprozessen im Deutschen Reich und fragt nach dem Wandel von Ehrvorstellungen in der reichsdeutschen Gesellschaft. Dieser Ansatz ist innovativ, denn bislang wurden „Fragen der Ehre“ in der historischen Forschung vorwiegend am Beispiel des Duells diskutiert, das im Vergleich zu den Rechtsstreitigkeiten wegen Beleidigung, übler Nachrede und Verleumdung jedoch das zahlenmäßig bei weitem unbedeutendere Phänomen darstellte. So verzeichnete die offizielle Statistik des Reiches für 1883 insgesamt 52.645 Gerichtsverfahren aufgrund von Beleidigungsklagen. Im Jahre 1910 waren es bereits 84.058 Prozesse, wobei die Zehntausende von außergerichtlich beigelegten Streitigkeiten noch nicht einmal mitgezählt wurden (S. 4f.).

Die zentrale Voraussetzung für diese im internationalen Vergleich außergewöhnlich hohe Zahl von Beleidigungsklagen war das Rechtsinstrument der Privatklage, dessen Genese im ersten Kapitel ausgeführt wird. Die Privatklage stellt ein Verfahren im deutschen Strafprozessrecht dar, das einem Verletzten bei leichten Delikten wie Beleidigung, Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung oder Körperverletzung ein eigenständiges Klagerecht einräumt, das heißt der Verletzte kann ohne Mitwirkung der Staatsanwaltschaft Klage erheben. Dieses Klageverfahren war eine Besonderheit des deutschen Strafprozessrechts, die sich in dieser Form in keinem anderen Rechtssystem findet. Zwar gab es auch in anderen Ländern die Möglichkeit der Privatklage, doch waren die Voraussetzungen für eine Klageerhebung wesentlich restriktiver. Im anglo-amerikanischen Recht etwa wurden Rechtstreitigkeiten wegen Beleidigung zumeist im Rahmen des Privatrechts geregelt. Zudem musste der Kläger nachweisen, dass ihm durch die Beleidigung ein materieller Schaden entstanden war – eine weitaus höhere Beweislast als im deutschen Recht.

Die für das Kaiserreich einschlägigen Rechtsnormen gingen zurück auf das Preußische Strafgesetzbuch von 1851, dessen Regelungen im Reichsstrafgesetzbuch von 1871 sowie der Strafprozessordnung von 1877 weitgehend übernommen wurden. Sie bildeten die Grundlage für eine massive Verrechtlichung von persönlichen, sozialen und politischen Konflikten im Namen der „Ehre“ und hatten damit entscheidenden Anteil daran, traditionale Ehrvorstellungen zu bewahren und auszubauen, indem sie diese in Einklang mit den Anforderungen des modernen Rechtsstaates brachten. Im Ergebnis schufen sie eine spezifische „Kultur der Ehre“, die – so Goldbergs zentrale These – durch die Modernisierung der reichsdeutschen Gesellschaft nicht geschwächt, sondern im Gegenteil gestärkt und ausgeweitet wurde. Diese „Kultur der Ehre“ war einerseits gekennzeichnet durch die Persistenz überkommener ständischer Vorstellungen und Praktiken, andererseits jedoch auch durch eine sich beschleunigende Individualisierung und Ausdifferenzierung von Ehrvorstellungen. „What was coming into existence in the Kaiserreich, in other words, was a hybrid legal culture that harnessed a traditional idiom of honor to a democratic politics of rights” (S. 11).

Diese These steht im Widerspruch zu etablierten soziologischen Theorien, die im Anschluss an Max Weber einen Gegensatz zwischen „Ehre“ und Modernität konstruieren.2 Eine solche strikte Dichotomie von traditionalen Ehrvorstellungen und gesellschaftlicher Modernität ist nach Goldberg jedoch eine grobe Vereinfachung, die der historischen Wirklichkeit nicht gerecht wird. Um ihre These zu belegen, beschreibt sie im zweiten Kapitel zunächst eine Vielzahl von Beleidigungsverfahren aus nahezu allen Lebensbereichen, die zeigen, dass „Ehre“ für viele Zeitgenossen eine sehr ernste Angelegenheit war. Ob Streitigkeiten zwischen Nachbarn, Freunden und Geschäftspartnern oder aber zwischen Beamten und Bürgern, Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die geschilderten Fälle verdeutlichen, dass „Ehre“ keine anachronistische Form sozialer Wertschätzung darstellte, sondern ein flexibles Konzept, das mit unterschiedlichen Zielsetzungen innerhalb einer modernen Gesellschaft kompatibel war. Dies gilt beispielsweise für die sich professionalisierenden freien Berufe wie Rechtsanwälte und Ärzte, deren Entwicklung mit der Herausbildung berufsspezifischer Ehrenkodizes und einer eigenen Ehrengerichtsbarkeit einherging. Und nicht zuletzt wurden auch die Geschlechterrollen durch Vorstellungen einer jeweils spezifischen männlichen und weiblichen „Ehre“ definiert. Etwa ein Drittel der wegen Beleidigungsdelikten Verurteilten waren Frauen.

Aber nicht nur in der Arbeits- und Lebenswelt waren Beleidigungsklagen allgegenwärtig, sondern auch in der Politik. Parlamentarische Auseinandersetzungen und besonders Wahlkämpfe hatten häufig ein gerichtliches Nachspiel, so dass man geradezu von einer Fortsetzung der Politik mit juristischen Mitteln sprechen kann. Beleidigungsklagen wurden dabei von staatlicher Seite gezielt als Herrschaftsinstrument eingesetzt, um politische Gegner − vor allem aus den Reihen der Sozialdemokratie − zum Schweigen zu bringen. Der Rückgriff auf den Tatbestand der Beamten- bzw. Majestätsbeleidigung stellte, wie Goldberg im dritten Kapitel nachweist, eine wichtige Form der Zensur dar, deren Bedeutung für die Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit noch immer unterschätzt wird.

Diese Repressionspolitik und die Praxis der staatsanwaltlichen Ermittlungen, die das geltende Recht einseitig gegen politische Gegner anwandte, stießen allerdings auf zunehmende Kritik in der Öffentlichkeit. Gleichzeitig führten Prozesse mir großer öffentlicher Anteilnahme wie die „Eulenburg-Affäre“ auch unter Konservativen zu der Forderung nach einer Änderung des bestehenden Rechts. Das Ergebnis waren lebhafte politische und publizistische Debatten um eine Reform des Beleidigungsstrafrechts. Hierbei wurden, wie das vierte Kapitel zeigt, höchst unterschiedliche Vorstellungen von „Ehre“ verhandelt, die ihrerseits mit divergierenden Visionen politischer und gesellschaftlicher Ordnung verknüpft waren.

Ein weiterer Aspekt der Ausweitung und Transformation von Ehrvorstellungen wird im fünften Kapitel behandelt: Die Nutzung von Beleidigungsklagen durch Außenseiter und gesellschaftlich benachteiligte Gruppen für ihre jeweiligen Anliegen. Am Beispiel von Juden und „Irren“ (das heißt wegen geistiger Unzurechnungsfähigkeit verurteilter oder entmündigter Personen) zeigt Goldberg, wie diese mithilfe von Beleidigungsklagen ihre staatsbürgerlichen Rechte verteidigten. Ein abschließender Ausblick verfolgt die Entwicklung von Beleidigungsklagen in der Weimarer Republik, dem Dritten Reich und der Nachkriegszeit.

Insgesamt gelingt es Goldberg überzeugend, am Beispiel der „Ehre“ die Ambivalenzen und Ungleichzeitigkeiten der gesellschaftlichen Modernisierung im Kaiserreich herauszuarbeiten und darzulegen, dass Ehrvorstellungen auch im modernen Rechtsstaat weiterhin wirksam blieben. Diese Erkenntnis ist allerdings nicht neu. So hat etwa Ludgera Vogt nachgewiesen, dass „Ehre“ als ein werthaltiges Zuschreibungsmuster von sozialer Anerkennung weiterhin ein wichtiger Bestandteil des Alltags moderner Gesellschaften ist.3 Gleichwohl kommt Goldberg das Verdienst zu, mit Nachdruck darauf hingewiesen zu haben, dass „Ehre“ im „Kampf um Annerkennung“ zumindest im Kaiserreich eine weitaus wichtigere Rolle spielte als gemeinhin angenommen.4

Anmerkungen:
1 Ursprünglich veröffentlicht in: Die Fackel, Nr. 270-271, 19.01.1909, X. Jahr, S. 31; hier zitiert nach: Karl Kraus, Aphorismen. Sprüche und Widersprüche. Pro domo et mundo. Nachts, in: Christian Wagenknecht (Hrsg.), Karl Kraus Schriften, Bd. 8, Frankfurt am Main 1986, S. 58.
2 Für Weber war „Ehre“ bekanntlich ein konstitutives Merkmal ständischer Gemeinschaften, das diese von modernen Klassengesellschaften unterschied. Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. revidierte Aufl., Tübingen 1976, S. 534ff.
3 Vgl. Ludgera Vogt, Zur Logik der Ehre in der Gegenwartsgesellschaft. Differenzierung, Macht, Integration, Frankfurt am Main 1997.
4 Vgl. Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main, erweiterte Ausgabe 2003 (1. Aufl. 1994).