Cover
Titel
Living with Hitler. Liberal Democrats in the Third Reich


Autor(en)
Kurlander, Eric
Erschienen
Anzahl Seiten
292 S.
Preis
$ 35.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elke Seefried, Universität Augsburg / German Historical Institute London

Forschungen zur NS-Gesellschaftsgeschichte rankten sich zuletzt um den Interpretationsansatz der „Volksgemeinschaft“. Er verspricht, „Dimensionen von Zustimmung und Abwehr, Mitmachen und Verweigern, Anteil nehmen und Wegschauen“ in der deutschen Bevölkerung gerade im Hinblick auf Ausgrenzung und Vernichtungskrieg auszuleuchten.1 Doch ist umstritten, inwieweit ein NS-Propagandabegriff für die Forschung fruchtbar gemacht werden kann. Unabhängig davon lässt sich das Konzept der „Volksgemeinschaft“, indem es die Gesellschaftsgeschichte des „Dritten Reiches“ abseits der starren Täter- und Opfergeschichte schreiben will, mit Forschungsansätzen zum Widerstand im „Dritten Reich“ verbinden: Diese beschäftigen sich mit Formen abweichenden Verhaltens zwischen Anpassung und Widerstand und arbeiten Kategorien von Nonkonformität, Verweigerung, Protest und Widerstand heraus.2

Der kanadische Historiker Eric Kurlander widmet sich nun den Liberalen in der NS-Diktatur. Die Rolle ehemals dem politischen Liberalismus verbundener Bürger, Intellektueller und Politiker im NS-Regime ist monographisch noch nicht untersucht worden. Dies lässt sich damit begründen, dass Fragen nach Ambivalenzen von Teilhabe und Abgrenzung auch politischer Eliten der Weimarer Republik eben lange nicht im Blickpunkt der Forschung standen. Vor allem aber machte die eklatante Schwäche der beiden liberalen Parteien am Ende der Weimarer Republik sie schon 1933 nur noch zu politischen Nebendarstellern. Gleichwohl spielte das „Ja“ der Abgeordneten der Deutschen Staatspartei zum „Ermächtigungsgesetz“ eine wichtige Rolle für die Geschichte des deutschen Liberalismus nach 1945.

Eric Kurlander will den „liberal motivations“, „preoccupations“, „hopes, and fears“ nachgehen (S. 4), um die Anpassungs- und Abgrenzungsprozesse von Liberalen im NS-Regime auszuloten. Er widmet sich 1.) der Frage eines liberalen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus, 2.) dem intellektuellen und kulturellen Wirken der Liberalen, 3.) den liberalen Frauen um Gertrud Bäumer, 4.) der Haltung von Liberalen zur NS-Außenpolitik und 5.) zur „Jewish Question“. An vielen Beispielen arbeitet Kurlander plastisch den schmalen Grat zwischen Anpassung und Widerstehen heraus, der „easy distinctions between resistance and accomodation, between victims and collaborators“ (S. 113) nahezu unmöglich mache. Einerseits verdeutlicht er, wie Schriftsteller, Journalisten und Akademiker an zentralen Elementen liberalen Denkens festhielten und diese – wenngleich zunehmend beengt und „zwischen den Zeilen“ – teilweise auch publizieren konnten. Er verweist auf liberale Hilfe für jüdische Verfolgte und auf liberale Protagonisten des Kreises um den 20. Juli 1944 wie Eduard Hamm. Andererseits zeigt Kurlander programmatische Parallelitäten, ja Schnittmengen von Liberalen mit dem Nationalsozialismus auf, die er vor allem auf Friedrich Naumanns Ideen zurückführt. Naumanns Mitteleuropa-Konzept und die nationale, ja nationalistische Prägung des Weimarer Linksliberalismus wirkten, so Kurlander zurecht, soweit nach, dass der Mainstream der Liberalen die NS-Außenpolitik noch bis zum deutschen Angriff auf Polen mit gewisser Sympathie begleitete. Hier differenziert Kurlander zwischen verschiedenen liberalen Positionen, die vom Pazifismus bis zu völkischen Ansätzen (wie bei Paul Rohrbach) reichten. Zudem verweist er am Beispiel Gertrud Bäumers auf die Verbindung liberaler und volkstumsideologischer Ideen, welche eine argumentative Nähe zum Nationalsozialismus begründeten, wenngleich Bäumer politischen Rassismus ablehnte.

An anderen Stellen hätte sich der Leser eine stärkere Differenzierung gewünscht. Dies betrifft insbesondere eine Hauptthese Kurlanders, die sich auch auf dem Klappentext findet: Demnach sei der Liberalismus nicht nur Opponent und Opfer, sondern auch in mancher Hinsicht „ideological and sociological antecedent“ (S. 3) der Nationalsozialisten gewesen. Er stützt sich auf sein Buch zum Liberalismus in Wilhelminismus und Weimarer Republik 3 und auf die erwähnten ideellen Parallelitäten zum Nationalsozialismus. In der Tat lässt sich auf den liberalen Nationalismus, die Ethnisierung liberalen Denkens und auf volkstumsideologische, ja teilweise völkische Positionen verweisen. Doch zu den Liberalen bzw. Demokraten rechnete ein breites Spektrum von Haltungen und Traditionen, das Kurlander nicht systematisch analysiert. Im Hinblick auf die These von der Vorläuferschaft wäre es wichtig gewesen, die Einflusslinien vom Wilhelminischen bzw. Weimarer Liberalismus auf den Nationalsozialismus zu untersuchen. Zudem zeigt Kurlander immer wieder selbst auf, wo die Grenzen zu nationalsozialistischen Konzeptionen – zum Rassenantisemitismus und zum nationalsozialistischen Vernichtungskrieg – lagen.

Kurlander betont die Handlungsspielräume, welche die Liberalen in der NS-Diktatur besessen, aber nicht genutzt hätten. Er unterstreicht den nicht monolithischen, nicht totalitären Charakter des NS-Regimes, und spricht von einer „porous nature of Nazi racial policy“ (S. 37) und von einem „participatory dictatorship“ (S. 135), das Liberalen Freiräume bot, ihre Ideen zu verbreiten. Sogar die „Aktion Gewitter“ nach dem 20. Juli 1944 will er in diesem Licht sehen: „The fact is that even after 20 July 1944 the Third Reich was something less than a totalitarian ‚police state‘. […] Given the scale and context of the conspiracy – which sought to murder a legitimate head of state in the midst of war – the Nazi justice system appears less arbitrary and liberal involvement more tangential than one might at first assume.“ (S. 44f) Die Forschung zum NS-Regime geht in der Tat schon lange nicht mehr von einem monolithischen Polizeistaat aus und hat die Rolle der Gestapo neu gewichtet, doch dies sollte nicht dazu verleiten, die NS-„Rassenpolitik“ als „durchlässig“ zu bezeichnen. Neuere Forschungen betonen, dass Gewalt gesellschaftliche Resonanz erzeugte, aber eben zentrale Bedeutung für das Regime hatte. Kurlander unterschätzt hier erheblich den Faktor der Gewalt und die Rolle der Justiz als Instrument der Verfolgung in der Diktatur.4

Dagegen kommt Kurlander im letzten Kapitel über den Bosch-Kreis, Carl Friedrich Goerdeler (der ja der DNVP zugehörte), Hjalmar Schacht und deren Haltung zur „Jewish Question“ zu recht salomonischen Bewertungen. Obwohl Goerdeler den jüdischen Einfluss nach einem erfolgreichen Attentat begrenzen wollte, habe die Goerdeler-Bosch-Gruppe eine „clear, well-articulated ‚liberal‘ solution to the ‚Jewish Question‘“ angestrebt, die den NS-Antisemitismus ablehnte (S. 174). Schacht, mehrere Jahre Wirtschaftsminister, habe mit seiner Hilfe für jüdische Verfolgte Schlimmeres verhindert. Außer dem Staatsstreich, so Kurlander, gab es wenig, was man gegen die „Endlösung“ hätte tun können. Diese Argumentation erscheint etwas kurz gegriffen und steht in gewissem Widerspruch zu den kritischen Thesen zu Beginn des Buches.

Das Schlusskapitel spiegelt den wechselnden Eindruck überzeugender Befunde und unvermittelter Thesenführung. Kurlander benennt ideologische Parallelitäten zwischen Liberalismus und Nationalsozialismus, aber auch die liberale Non-Konformität in Kultur und Publizistik, die Kritik am NS-Regime integrierte (so dass hier zum Teil auch die Kategorie des Protests tragfähig erschiene). Doch die These von einer „transition of many liberals from democracy to Fascism“ (S. 202) erscheint nicht haltbar und wurde im Hauptteil auch nicht dargestellt. Problematisch ist schließlich der Ausblick, den Kurlander auf die Bundesrepublik richtet. Der Liberalismus habe sich vom Nationalismus gelöst, und die sozialliberalen Thesen Naumanns hätten sich durchgesetzt: „Willy Brandt, Helmut Schmidt, and Gerhard Schröder would have felt perfect at home with Anton Erkelenz, Helmut von Gerlach, and Ludwig Quidde“, wie Helmut Kohl oder Angela Merkel viel mit Theodor Heuss oder Gertrud Bäumer gemein hätten (S. 203). Insofern sei Naumanns Sozialliberalismus „ideologically hegemonic but politically obsolete“ geworden (S. 203). Naumanns Konzept einer Verbindung von nationalen, liberalen und sozialen Ideen griffen aber die meisten „Naumannianer“ wie Heuss nach 1945 nicht mehr auf. Mithin war Naumann nicht mehr leitgebend für ganze Politikergenerationen, auch nicht für jene aus SPD und CDU, welche ohnehin anderen ideellen Traditionen entsprangen. Nationale, ja nationalistische Ideen, die unterschiedlichen Kontexten entstammten, fanden sich in der FDP der 1950er-Jahre gleichwohl durchaus.5

Mithin hat Kurlander quellengesättigt verdeutlicht, dass viele Liberale nicht nur eine Gratwanderung zwischen Anpassung und Widerstand unternahmen, sondern auch ideell bisweilen dem Nationalsozialismus nicht so fern standen wie gemeinhin vermutet. Die Einordnung des Themas in die NS-Geschichte und die Thesenführung überzeugen allerdings nicht durchweg; ebenso stören kleinere Fehler und Ungenauigkeiten.6 Gleichwohl bietet Kurlanders Buch eine wichtige Grundlage für weitere Forschungen zur deutschen Gesellschaft im NS-Regime und zur Geschichte des deutschen Liberalismus.

Anmerkungen:
1 Frank Bajohr / Michael Wildt, Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2009, S. 7-23, S. 10. Debattiert wurde der Ansatz zuletzt im März auf einer internationalen Konferenz in London, die das Deutsche Historische Institut London und das Institut für Zeitgeschichte ausrichteten; vgl. Janosch Steuwer, Tagungsbericht German Society in the Nazi Era. „Volksgemeinschaft“ between Ideological Projection and Social Practice. 25.03.2010-27.03.2010, London, in: H-Soz-u-Kult, 28.05.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3121> (05.09.2010).
2 Vgl. Alfons Kenkmann, Zwischen Nonkonformität und Widerstand. Abweichendes Verhalten unter nationalsozialistischer Herrschaft, in: Dietmar Süß / Winfried Süß (Hrsg.), Das „Dritte Reich“. Eine Einführung, München 2008, S. 143-162.
3 Eric Kurlander, The Price of Exclusion. Ethnicity, national identity, and the decline of German Liberalism, 1898-1933, Oxford 2006.
4 Z.B. Nikolaus Wachsmann, Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NS-Staat, München 2006 (Orig. 2004); Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007.
5 Vgl. Kristian Buchna, Nationale Sammlung an Rhein und Ruhr. Friedrich Middelhauve und die nordrhein-westfälische FDP 1945-1953, München 2010.
6 Kurlander rechnet zum Beispiel Goerdeler und Claus Schenk Graf von Stauffenberg zum Kreisauer Kreis (S. 32, 42) oder schreibt, Kurt von Schuschnigg habe 1938 ein Plebiszit für die Vereinigung mit Deutschland – statt für die Unabhängigkeit Österreichs – angesetzt (S. 134).

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